4.12.2013
Martin Reichert Erwachsen
Der Weihnachtsmarkt ist wüster
EKSTASE-TOURISTEN IN DER KIEZ-HOMOBAR, AN EINEM STINKLANGWEILIGEN MONTAGABEND
Er kam zielgerichtet auf mich zu, quer durch die Bar, ein Etablissement, das früher zumindest ausschließlich Homosexuellen zugedacht war. Mit Türklingel und Guckloch. Er baute sich vor mir auf – nun gut, er war höchstens 1,70 Meter groß – nahm all seinen Mut zusammen und sagte seinen Satz auf: „Guten Abend. Ich bin Hetero. Und ich brauche Ecstasy.“
Das war nun in jeder Hinsicht beeindruckend. Zunächst fühlte ich mich an einen Ralf-König-Comic aus den Achtzigern erinnert, in dem ein Polit-Homo an einen Eisstand tritt mit den Worten: „Guten Tag, ich bin schwul und hätte gerne zwei Kugeln Vanilleeis.“ Jedenfalls so ähnlich.
Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich diese Droge zuletzt in den Neunzigern konsumiert hätte und ich auch nicht wüsste, ob es in diesem Etablissement jemanden gab, der einen diesbezüglichen Bauchladen mit sich führte – signalisierte aber freundlich, mich zu erkundigen. Fragte das ein oder andere bekannte Gesicht. „Ecstasy? Ach, du liebe Güte.“ Derweil war ein anderer junger Mann aus dem Umfeld des Ekstase-Touristen in Bedrängnis geraten: „Entschuldigung, wo ist hier bitte die Toilette? Ich bin eben aus Versehen im Darkroom gelandet.“
Man hilft natürlich gerne, insbesondere Fremden, die zu Besuch in der Stadt sind. Allmählich fragte ich mich jedoch, warum sich diese Menschen alle ausgerechnet an mich wandten? Entweder ich wirkte auf sie wie ein Drogendealer – oder schlimmer: Wie ein Herbergsvater?
Als ich ihm nicht weiterhelfen konnte, wurde der junge Mann ungehalten: „DAS kannst du mir nicht erzählen. Das IHR hier in diesem Laden abhängt, ohne Drogen zu nehmen. DAS kannst du mir nicht erzählen!!!“ Er ging beleidigt zu seiner Gruppe. Die Homos um uns herum guckten unschuldig. Starrten in in ihre konventionell-alkoholischen Getränke, rauchten. Und schauten wieder gelangweilt zu dem Monitor mit den Pornofilmen. Ein ganz normaler, stinklangweiliger Montagabend in einer Kiez-Homobar.
Aber die Ekstase-Touristen waren wild entschlossen. Wenn man schon mal in Sodom und Gomorrha vorbeischaut, dann muss es doch auch irgendwie krachen? Eine junge Frau aus der Gruppe war in einen goldglänzenden Umhang gewandet, versehen mit einer voluminösen Kapuze. Sie entschied sich für eine Tanzperformance im Stil von Grace Jones, Achtziger. Doch weil sie während des Tanzes ein iPad in den Händen balancierte, auf dem sie herumwischte, wirkte das Ganze irgendwie aktuell. Niemand beachtete sie.
In der Ecke hinten links saß die exilpersische LGBTI-Gruppe und spielte müde Halma. Die Discokugeln drehten sich wie in Zeitlupe. Irgendjemand sollte vielleicht jetzt mal eine wüste Fisting-Session auf dem Tresen veranstalten. Eine Flasche Poppers anzünden. Jemand müsste ausgepeitscht werden. Oder wenigstens Ausdruckstanz zu Marianne Rosenberg aufführen. Herrje, auf jedem Weihnachtsmarkt ist mehr los.
„DAS kannst du mir nicht erzählen!!“, drohte der junge Mann wieder von seinem Tisch herüber. Ich hatte den Eindruck, dass WIR die Reisegruppe irgendwie enttäuscht hatten.