21.1.2015
Martin Reichert Erwachsen
Sammelt genug Steine
KOMMT EIN SCHWULES PAAR ZUR FAMILIENFEIER, SO HANDELT ES SICH UM EINEN KOLONIALKRIEG
Kolonien der Liebe“ – so lautet eigentlich der Titel eines schönen Erzählbands von Elke Heidenreich. Aber dank des „Heiligen Vaters“, Papst Franziskus, ist nun ein ganz neuer Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Liebe auf der Welt. Die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Partner entspräche einer „Kolonisierung der Familie“, sagte er anlässlich seines Besuchs auf den Philippinen. Das klingt zunächst etwas kryptisch, doch schon im nächsten Augenblick kann man sich beruhigt zurücklehnen: Auf das Papsttum ist am Ende immer Verlass, wenn es um aufrechte Gegnerschaft gegenüber den Forderungen von LGBTI geht. Gut, man wird als Homo nicht gleich vom Dach eines Gebäudes gestürzt wie jüngst im „Islamischen Staat“. Ich dachte übrigens immer, Steinigung sei das probate Mittel zur Exekution von Homosexuellen, aber womöglich waren gerade keine passenden zur Hand?
Wie dem auch sei: Seit der Rückkehr der Weltreligionen feiert das Mittelalter scheinbar fröhliche Urständ. Dagegen ist mein eigener Vater so was von 20. Jahrhundert. Er, Jahrgang 1935, hatte mich und ganz selbstverständlich meinen neuen Lebensgefährten zu seinem 80. Geburtstag eingeladen. Ihm sofort das Du angeboten und ihn in den Arm genommen. Er, geboren zwischen zwei Weltkriegen, der als junger Mann noch gelernt hatte, das Homosexualität ein Verbrechen ist. Er, der selbst ohne Vater aufgewachsen ist, hat es geschafft, sich den Zumutungen und Widersprüchlichkeiten des Lebens zu stellen – auch wenn ihm das sicher anfangs nicht leicht gefallen ist.
Mein Lebensgefährte und ich waren bei dieser Familienfeier ganz selbstverständliche, willkommene Gäste. Gäste? Nein, wir waren ein Teil der Familie. Es wurde viel gelacht, gut gegessen – und zum Moselwein gab es auch gute, tiefergehende Gespräche. Aber womöglich habe ich diese Geschehnisse einfach nur falsch verstanden. Womöglich hat die Familie während der ganzen Zeit unseres Aufenthaltes einen verzweifelten Abwehrkampf gegen unsere Kolonisierungsversuche unternommen – und wir haben gar nicht bemerkt, dass wir uns bei der Feier dröhnend von Landnahme zu Genozid hangelten, mit jedem Schritt auf den Werten des Abendlandes trampelnd, obwohl man doch eigentlich nur kurz zum Kuchen-Buffet wollte.
Den Zweiten Weltkrieg hatten meine Eltern glücklich überlebt. Als Kinder im Luftschutzkeller – oder sogar, wie mein Vater, unter einem Korb kauernd mitten auf dem Feld bei einem Tieffliegerangriff. Dann Hunger im Winter 46/47, Wirtschaftswunder, Caterina Valente, erstes Kind, Kalter Krieg, Udo Jürgens, zweites Kind, RAF, Boney M., drittes Kind, Wiedervereinigung, 11. September, Helene Fischer. Alles bewältigt – und dann kommen die Homos und machen alles kaputt. Gott allein weiß, wie diese Minderheiten es immer wieder hinkriegen, trotz totaler Unterlegenheit die Mehrheit in den Würgegriff zu bekommen.
Ich kann daher meiner Familie in ihrem eigenen Interesse nur raten, genügend Steine zu sammeln. Denn im April sind wir schon wieder eingeladen – zur Kommunion meines Neffen.