15.12.2016
Martin Reichert Herbstzeitlos
An einem Vormittag in Tanger
DIE REGIERUNGSTRUPPEN HABEN ALEPPO EINGENOMMEN. IN MAROKKO GEHT ALLES SEINEN GEWOHNTEN GANG
Ein deutscher Schäferhund starrt vom Dach nebenan herüber, ausgerechnet hier, über den Dächern der Medina von Tanger, Marokko. Die Sonne scheint warm unter Wolken hervor, die von Europa hergezogen sind. Die Fähre aus Spanien legt an, sie hat nur dreißig Minuten gebraucht. Umgekehrt kann die Reise das Leben kosten.
Vor fünf Jahren war ich zuletzt in Tanger, die „Arabellion“ nahm ihren Lauf. Gestern kam die Nachricht, dass die Regierungstruppen Aleppo eingenommen haben. Nur in Marokko geht alles seinen gewohnten Gang, der König ist in seinem Palast. In seinem Land drehen sich die neuen Windräder, die Solarkollektorenfelder werden größer. Im Supermarkt gibt es keine Plastiktüten mehr, der Umwelt zuliebe – und das Flughafengebäude darf man nicht mehr ohne Sicherheitskontrolle betreten.
Am Stadtstrand wurde „aufgeräumt“, dort, wo sich einst Club an Bar reihte, auch solche Bars, die der Animation dienten, ist nun alles planiert. Die Corniche von Tanger wird aufgemöbelt, eine große neue Marina wurde angelegt. Und wem gehört nun wohl das große Hotel, das sich einst im Besitz von einem der Söhne Gadaffis befand?
Das Haus, das wir mit Freunden gemietet haben, sieht so aus, wie sich ein reicher Europäer ein Haus in der Altstadt von Tanger vorstellt; es gehört einem Franzosen aus Paris. Es ist so ungeheuer geschmackvoll-minimalistisch ausstaffiert, inklusive gewisser Metalldetails, die sich leitmotivisch durch das Anwesen ziehen und selbstverständlich aus regionaler Produktion stammen, dass sich Younis nur die Augen reiben konnte, als er es gestern zum ersten Mal sah. Er stammt aus Tanger, kennt hier jeden Winkel und jede Villa, die es zu vermieten gibt. Aber das hier ist reinste Parallelwelt.
Gestern sind wir mit Younis an den Atlantik gefahren – und er hat uns gefragt, ob wir einen touristischen oder einen einheimischen Strand besuchen wollen. Selbstverständlich wollten wir den „echten“ Strand, also den, zu dem die Marokkaner gehen. Sie gehen allerdings nicht dorthin, sie fahren. Auf dem weiten Sandstrand überall Reifenspuren, junge Männer zirkeln dort mit Quads und anderem lärmenden Gerät. Im Strandcafé hat man zuvorderst einen guten Blick auf die geparkten Autos und dann erst auf den wild schäumenden Atlantik, doch immerhin verdecken sie den Müll und die weggeworfenen Kühlschränke, die die Felsen zieren.
Im Restaurant in der Medina sitzen wir und essen Tahine, der Wirt des Cafés von nebenan rennt los, um bettelnde Straßenjungs mit dem Stock zu verprügeln. Einer von ihnen humpelt, er trägt einen alten Norwegerpullover mit Hirschmotiven, schreit laut auf, und keiner schaut hin.
Das Dach vorne links ist mit einer großen, stabilen Werbeplane abgedeckt. Sie zeigt eine H&M-Werbung, die eine Jacke für 69,99 Euro anpreist und nun als billige Isolierung dient. Eine Fähre legt ab, in Richtung Europa. Sie wird nur dreißig Minuten brauchen, dann sind die Fahrgäste mit den richtigen Pässen sicher zurück. So wie wir in zwei Tagen, wenn wir in unser Flugzeug steigen.