Martin Reichert Herbstzeitlos
Eine Weltreise durch die Stadt – aber ohne Papiere
Können Sie sich ausweisen? Ich konnte immer gerade so: der alte Personalausweis schon lange abgelaufen, der Reisepass zwar gültig, aber fast auseinanderfallend. Mag sein, dass er fälschungssicher ist, Feuchtigkeit verträgt er nicht gut. Nun also alles neu, nicht so einfach in der Hauptstadt. Auch wenn das Redaktionsgebäude der taz sich fast in Nachbarschaft der Bundesdruckerei befindet, man kann da nicht einfach klingeln und fragen: „Könnense ma?“ Stattdessen muss man online einen Termin buchen – und, hey, schon zwei Wochen später einen Termin bekommen im Bürgeramt Lichtenberg, „Am Tierpark“.
Nun galt es also, zu reisen. Zunächst an das Kottbusser Tor in Kreuzberg, zum Fotofachgeschäft, das auch biometrische Passfotos anbietet. Der Laden öffnet um 9.30 Uhr, nebenan gibt es „Street Coffee“ in einer Bude. Man sitzt auf den Stühlen des Dönerrestaurants, hinter dessen Schaufenster gerade der frische, rosa glänzende Fleischspieß in Rotation gebracht wird. Mediterrane Männer rauchen, die Kippe mit der Glut drehen sie nach innen, sodass die Handflächen das kleine Feuer vor dem Wind schützen. Schließlich kommt der Fotofachmann. Er sagt: „Nicht die Zähne zeigen, das ist nicht erlaubt beim Personalausweis.“ Fünf Euro für vier Abzüge, sauber ausgestanzt. Auf dem Weg zur U-Bahn fegen junge Männer die Straße vor den Geschäften und Restaurants, es riecht nach frischem Fleisch und kaltem Tabak, nach Urin und Gemüse. Wie in Paris, vielleicht in Belleville, wenn Markt ist. Die Touristen schlafen noch. Die polnischen Obdachlosen sind wach und trinken Kaffee.
Mit der U-Bahn geht es weiter. Tierpark, das ist tiefster Osten. Als die U5 am Alex anfährt, kippt eine alte Frau einfach um, sie konnte sich nicht halten. Junge Männer springen herbei und richten sie auf. Besorgte Blicke, aber kein Aufhebens, sozialistische Menschengemeinschaft. Am Tierpark, vor dem Bürgeramt, ist Markt. Es gibt einen Stand, an dem ausschließlich Kartoffeln angeboten werden. Ein alter Mann hat eine Orgel aufgebaut und spielt Schlager, eine alte Frau nähert sich: „Sindse mal wieder da? Is ja so schön, die Musik. Hamse nich mal ne CD?“ Sie geht nicht wieder weg, er muss ohnehin sitzen bleiben, der Orgel wegen. Beide müssen an die achtzig sein.
Wind pfeift herab von den Plattenbauten, doch die Sonne scheint. An der „Gulaschkanone“ gibt es nur noch Erbsensuppe, Gulasch „ist aus“. Die Leute stehen Schlange, „fünfmal zum Mitnehmen, sagt die Frau im grauen Mantel, die hinter ihr stehende beschwert sich: „Die sitzen da an den Tischen mit der Bockwurst vom Stand nebenan, ditt is so aber nich gedacht.“
Das Bürgeramt liegt in einem Einkaufszentrum. Im Warteraum sitzen noch mehr Leute, die von der Berliner Behördenlotterie hierhergespült wurden. An der Wand hängt ein Flachbildschirm, leuchtet Nummern in den kahlen Raum, „Nr. 125777 Platz 13“, pünktlich. „Den Finger bitte einmal in das kleine Gerät legen“ sagt die junge Frau freundlich. Jetzt haben sie nicht nur meine „biometrischen Daten“, sondern sogar meine Fingerabdrücke.
Aber was für eine Weltreise innerhalb einer Stadt. Und das alles ohne Papiere.