24.5.2018
Martin Reichert Herbstzeitlos
Herta war einfach härter
Herta hieß so, weil sie härter war. Herta hatte goldene Füßchen. Hertas eher hässliches Antlitz musste man immer bedeckt halten. Denn Herta war alt. Herta war gebraucht. Und jetzt hat sie mich verlassen, zermalmt wurde sie vom gefräßigen Reiß- und Quetschwerk am Heck eines orangenen Müllwagens der Berliner Straßenreinigung.
Herta war ein lindgrünes Sofa, und den Namen hatte es schon von den Vorbesitzern erhalten, einem freundlichen, nervösen, dauerkiffenden Paar aus Ostberlin. Sie fanden Herta eigentlich von Anfang an zu hart und hatten sie daher bereitwillig und ohne Ablöse hergegeben. Zehn Jahre lang hatte sie nun ihr Gnadenbrot bei mir erhalten, komplett eingehüllt in „Indira“-Decken von Ikea und drapiert mit großen Kissen. Derart aufgetakelt sollte sie Mittelklassezugehörigkeit in meinem Haushalt simulieren, in dessen Budget ein Designersofa schlicht nicht vorgesehen ist.
Aber es hat auch so gut funktioniert mit Herta. Als wir zusammenkamen, hatte man noch Motorola-Klappmobiltelefone und statt eines Smartphones oder Tablets schleppte man seinen weißen, zwei Kilo schweren Mac in riesigen Umhängetaschen durch die Gegend. Obama wurde Präsident der Vereinigten Staaten und alle dachten, dass Jesus auf die Erde hinabgestiegen sei. Die Finanzkrise erreichte ihren Höhepunkt, aber dank „Indira“ würde man das schon nicht so merken. Auch in Berlin trat 2008 das offizielle Rauchverbot in Kraft, an das sich fürderhin kein Mensch halten würde. In einer Herta-Ritze fand ich tatsächlich eine Zigarettenkippe, obwohl ich seit zwei Jahren nicht mehr rauchte. Es wurden lustige Partys gefeiert in der Wohnung. Und auf und mit Herta.
Als ich Herta zuletzt sah, stand sie nackt und schutzlos in der Mitte des Wohnzimmers, über und über von Staub und Schutt bedeckt. Meine alte Wohnung wird „luxussaniert“, wenn sie fertig ist, wird sie das doppelte kosten. Wer hier einzieht, kann sich sicher auch ein Sofa von Minotti leisten und befindet sich auf der richtigen Seite der auseinanderdriftenden Schere zwischen Arm und Reich.
Vom Müllwerker bekam ich einen Anschiss Berliner Art, grob im Ton, hart in der Sache aber nicht böse gemeint: Wie man denn bitte so bescheuert sein könne, jemandem zuzumuten, einen solch dreckigen, schuttbedeckten Kram die Treppen herunterzutragen? Hatte er ja völlig recht. Ich entschuldigte mich, obwohl ja nicht ich das Sofa mit Schutt bedeckt hatte, sondern die luxussanierenden Handwerker, Herr Finster und Herr Altmann. Aber das Eis war gebrochen. Über dem siechen Korpus von Herta kamen wir ins Gespräch. Er erzählte mir von seiner französischen Bulldogge. Seinem kleinen Garten im Erdgeschoss, den er sich mit seinem Lebensgefährten schön gemacht hat. Schließlich fragte er: „Ziehst du mit deinem Freund zusammen?“ Das konnte ich bejahen, und er freute sich.
Als er Herta schließlich die Treppen hinab ihrem Schicksal entgegenwuchtete, fiel der Abschied gar nicht mehr so schwer.