Kolumne 26

27.9.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Raumpioniere auf dem Treck nach Osten

Im Wilden Osten treffen zugereiste Cowboys auf maulfaule Indianer. Wer sind denn nun die Guten?

Dank Deutschlandradio haben wir endlich den Sinn unseres Brandenburger Daseins erfahren: Wir sind Raumpioniere. Laut Radio-Beitrag hat der Brandenburger Forscher Ulf Matthiesen in seiner Denkerstube eine Art Gegenmittel entwickelt, nämlich gegen die Abwanderung, von der ganz Ostdeutschland und besonders Brandenburg heimgesucht wird. Es gehen die Klugen, Jungen – und/oder bzw. sowohl als auch – Frauen. Es bleibt die DDR, also DER DUMME REST. Da wir jedoch nicht geblieben sondern gekommen sind, gehören wir zu den Raumpionieren. Siedler, die wie damals im amerikanischen Wilden Westen die leeren Landschaften besiedeln. Mit „neuen Ideen, guter Ausbildung und dem Enthusiasmus der Neuankömmlinge“.

Da haben wir ja gerade noch mal Glück gehabt. Wir sind die Cowboys vom Brokeback Mountain und die Rest-Ossis sind die Indianer. Mit dem Feuerross namens Regionalexpress penetrieren wir jedes Wochenende die endlosen, kargen Sandsteppen, stets den „myth of the frontier“ vor Augen, wenn nicht gerade eine Wanderdüne das Gleis blockiert. Oder durchgeknallte Berliner, die sich bei schönem Wetter schon mal raustrauen aus der Großstadt und jeden Zentimeter Grün platt trampeln: Familien suchen Steinpilze, jüngere Herrschaften eher Magic Mushrooms. Beide enden zumeist in der Dorfschänke und bestellen Schnitzel mit Champignons aus der Dose. Amateure, die sich ungefähr so ungelenk anstellen wie Taschendiebe aus dem Londoner East-End des 19. Jahrhunderts, die sich auf dem Weg nach Kalifornien mit dem Planwagen verfahren haben.

Wir sind da schon viel weiter. Unsere Einrichtung zum Beispiel haben wir schon von Landhaus- auf Kolonial-Stil umgerüstet. Laura Ashley wird sowieso überbewertet, und so eine Holzfigur mit schwarzem Butler, der ein Tablett hält, ist sehr praktisch, um die Teetasse abzustellen. Letztendlich ist unser Leben in dieser Lesart nur die Fortführung des interessanterweise gerade in linken Kreisen so beliebten Gesellschaftsspiels „Die Siedler von Katar“, bei dem es darum geht, aus einem Naturreservat möglichst viele Rohstoffe und Anbauerträge herauszupressen, um anschließend alles mit Immobilien zuzupflastern. Na ja, in den 80er-Jahren hantierte man auf dem Brett noch mit Atombomben – „Risiko“ –, heute geht es wenigstens nur noch ums Häuslebauen.

Dennoch will die Geschichte nicht vergehen. Schon der Alte Fritz, Friedrich der Große mit seiner Kartoffelnase, dessen persönliches Brokeback Mountain mit Freund Katte von seines Vaters strenger, mörderischer Hand verhindert wurde, musste sein ärmliches Ländchen „peublieren“, weil niemand in ihm wohnen wollte. Und eroberte sich blödsinnigerweise noch gleich ein europäisches Großreich dazu, anstatt erst mal genügend Statisten für sein heimisches Reich zu casten. Das ist zwar lange her, aber wie man ja sieht, will immer noch niemand in Brandenburg wohnen. Oder schon wieder nicht. Stattdessen stehen sie sich in Berlin, dem riesigen Raumschiff inmitten der märkischen Streusandbüchse, alle auf den Füßen herum, kläffen sich an und bekommen Neurodermitis. Wenn zum Beispiel Westberliner mal aufs Land wollen, fahren sie in den Harz oder gleich nach Schweden.

Dabei winkte doch gar nicht weit entfernt Brandenburger Gastlichkeit mit dem Slogan „Kommse rin, könnense rauskiecken“. Herrliche Seenlandschaften, Spargel, ornithologische Kostbarkeiten vom Kranich bis zum Storch, malerischer Preußenplunder und – wenn man sich nicht doof anstellt – tonnenweise Pilze. Die potenziellen Siedler haben jedoch eine Heidenangst vor den „Indianern“, den „Fremden“ und „Anderen“, die man im Grunde alle für rechtsradikal hält. So ist das mit Stereotypen, ein Körnchen Wahrheit steckt meistens in ihnen – selbstverständlich gibt es in Brandenburg Neonazis –, aber die Mehrheit der Steppenbewohner zeichnet sich durch zurückhaltende, fast scheue Maulfaulheit aus. Ihr Vertrauen zu gewinnen, ist gar nicht so leicht. Also, ihr urbanen Cowboys: nur Mut.

Kolumne 25

1.8.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Die Rückkehr der Weltreligionen

Der Dalai Lama hat es nicht bis zu uns geschafft, doch die Zeugen Jehovas scheuten keine Mühen

Bischof Huber wird das nicht gerne hören, aber Brandenburg ist ein ziemlich gottloser Herrgottswinkel. In unserer Ackerbürgerstadt ist das schöne Backstein-Pfarrhaus längst verwaist und im Kirchturm nisten prächtige weiße Eulen. Nur die Katholiken halten sich wacker, sie hausen am Ortseingang wie andernorts die Sekten. In einem schmucklosen Gebäude fristen sie ihr bedrängtes Dasein in der protestantisch-atheistischen Diaspora.

Doch nun, da die Weltreligionen auf dem Rückweg sind, das scharfe Schwert der Gegenaufklärung führend, klopfen sie auch bei uns an die Tür. Nein, nicht der Dalai Lama und auch nicht der Islam. Die Zeugen Jehovas.

„Guten Tag, wir wollten uns mit Ihnen über den Glauben unterhalten“, sagten die in grau-beige Anoraks verpackten Damen, die extra mit der Regionalbahn angereist waren. Mein Freund dachte schon, es wäre das Denkmalschutzamt, weshalb ich vorgeschickt wurde. „Lassen Sie mich raten: Zeugen Jehovas?“, fragte ich und erntete ein schüchternes Nicken – so schnell rücken die ja sonst nicht mit dem Firmennamen raus, die Menschen haben Vorurteile. Apropos: Nach Scientologen sahen die beiden nun wirklich nicht aus. Die haben schließlich genug Geld, um sich ihre Klamotten im KaDeWe zu kaufen. Und würden wohl auch nie auf die Idee kommen, ausgerechnet in unserem kargen, ärmlichen Örtlein Nachwuchs zu rekrutieren.

„Ja also, ich sage Ihnen gleich: Sie wollen ganz bestimmt nicht, dass wir in Ihrem Klub Mitglied werden. Wir sind homosexuell, müssen Sie wissen.“ Das mussten sie nun wissen und erröteten: „Oh, äh, das ist aber schön. Also, dass Sie so offen zu uns sind.“ Geschenkt. Doch die Damen blieben auch unter der Last der ungeschminkten weltlichen Wahrheit aufrecht: „Sie müssen wissen, dass uns dies, wie alles Menschliche, nicht fremd ist. Wir kennen manche in unserer Gemeinde, die geschafft haben, eszu überwinden, und den Weg zurück zu Gott fanden.“ Nun musste ich das also wissen und auch ich errötete. Ich bekomme dann so hektische rote Flecken, und auf der Stirn schwillt bedrohlich eine Ader: „Wissen Sie, diese evangelikal-christoiden Umerziehungsmethoden sind mir bekannt. Die Leute werden seelisch entkernt und landen am Ende in der Psychiatrie, werden Alkoholiker oder bringen sich einfach um. Sich selbst zu verleugnen hat einen Preis“, erklärte ich. „Ach, damit kennen Sie sich auch aus?“, fragten die Damen. Und ob!

Zum Kongress der Zeugen Jehovas in Berlin solle ich doch bitte kommen, dort sei Näheres zu erfahren. „Vielen Dank, aber da gehe ich lieber zum Fachkongress der Urologen, der ist auch demnächst. Auch über Urologen machen die Leute ja ganz gerne Witze, genauso wie über Schwule oder über Zeugen Jehovas. Ich weiß, dass Sie das hier machen müssen, und in einer Sekte zu sein ist auch nicht leicht. Aber trösten Sie sich, der Papst hat gerade sämtliche protestantischen Kirchen zu Sekten erklärt, seien ja im Grunde keine richtigen Kirchen. Sie befinden sich also in guter Gesellschaft, weiter so. Die Welt wird sicher mal untergehen. Das wird schon!“

„Sag mal, was treibt Ihr denn da eigentlich“, tönte es aus dem Nebenzimmer, wo mein Freund gerade die Frauenbeauftragte einer physiotherapeutischen Behandlung unterzog, „das mit dem Denkmalschutzamt habe ich doch schon längst geklärt!“ Leise vernahm man die Frauenbeauftragte: „Jaja, der Papst. Will immer selbst schöne Kleidchen tragen und die Frauen nicht an den Altar lassen.“

Nach Zeugnisnahme all dieser Bekundungen sprachen die Damen ihren Segen und suchten das Weite – jedoch nicht ohne eine Kongress-Einladung zu hinterlassen. Die Einladung ziert ein in bunt-pastelligen Tönen gemalter, ziemlich knackiger Herr mit modisch gestutztem Vollbart. Sieht aus wie ein „Pierre & Gilles“-Kunstwerk, das wir uns im Original niemals werden leisten können. Es hängt jetzt im Schlafzimmer. Mag sein, dass die Weltreligionen zurückkehren. Zu uns kommen sie jedenfalls nicht mehr.

Kolumne 24

5.7.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Bratwurst im Bärlauch-Style

Laut UNO wohnen immer mehr Menschen in Großstädten. Leider bleiben sie nicht, wo sie sind

Unsere kleine Ackerbürgerstadt wird jetzt richtig mondän. Am See wurde ein neues Wellness-Chichi-Hotel eröffnet. Neulich war Einweihung, sodass mein Freund und ich uns entschieden, für diesen einen Abend unsere Wirtinnen aus den Altstadt-Stuben zu betrügen: Wenigstens einmal chic urban ausgehen!

Mein Freund musste raus aus seiner Handwerkerkluft und rein in die Wurstpelle, nicht dass man sich am Ende noch hätte schämen müssen. Gerüchteweise haben die neuen Besitzer was mit Film und Fernsehen zu tun. So ähnlich war dann auch die Gästeliste. Lauter verwirrte Berlin-Mitte-Opfer mit Röhrenjeans und Neo-Mod-Bob stolperten verzweifelt an der Uferböschung entlang, bis sie endlich wieder vertrautes Terrain unter den goldenen Puma-Sneakers hatten: die Lounge-Zone mit weißem Mobiliar: „Entschuldigung, wo ist denn hier der VIP-Bereich?!“

Mein Freund war denn auch völlig fertig mit den Nerven. An der DDR-Beton-Seebrücke, wo er dereinst zum Schulschwimmen hinmusste, liegt jetzt eine Jacht vertäut, „die dereinst von Hildegard Knef für Wochenendausflüge genutzt wurde“. Das Hotel, in dem er als kleiner Junge immer Eintopf für 50 Pfennig gegessen hat, ist nunmehr ein bläulich illuminerter gastrokommerzieller Erlebnisbereich. Er ist einfach zu sensibel für so etwas.

Doch als ich mir dann einen Wodka Lemon bestellte und ein Stirnrunzeln erntete, das verdächtig nach „Hamwa nich“ aussah, begann ich zu ahnen, dass es mit der Hotelverwandlung so ähnlich bestellt sein muss wie mit der Wiedervereinigung: Überall frischer Beton und neue Deko, aber das Personal bleibt.

Um die Speisekarte auf Herz und Nieren zu überprüfen, packten wir als Nächstes den Koch am Schlafittchen, der, statt am Herd zu stehen, auf der Uferterrasse herumvagabundierte – auf erheiternde Weise angeheitert erläuterte er uns das Food-Concept in breitestem Brandenburgisch: „Allet regjonal. Na, und der Füsch, den holn wa direkt vonna Ostsee. Nisch böse sein, wenn dit denn ooch mal 16 Euro kosten. Man muss den ja ooch filetieren und allet!“ Wie jetzt? Wir dachten Pan Asia und Trans California? „Nee. Also. Nee. Ditt nu nich.“

Wenig später stellte sich heraus, dass die Abwesenheit des Kochs von seinen Töpfen an diesem Abend zumindest Teil des Konzepts war. Nichts mehr zu essen, sogar die „Bratwurst im Bärlauch-Style“ – der Snack, der Eingeborene und In-Crowd-Publikum auf einen Nenner hätte bringen können – war alle. Typisch Brandenburg: Um Punkt neun Uhr gehen die Mamsellen nach Hause, und die Küche ist kalt.

Und jetzt? Wir schämten uns ein wenig, weil wir unsere Wirtinnen im Regen hatten stehen lassen, und erwogen sogar, zur kilometerweit entfernten Mc-Donald’s-Filiale an der Autobahn zu fahren. Das wäre die gerechte Strafe dafür gewesen, dass wir uns in diese Eventfalle begeben hatten: wie die Motten auf der Glühbirne.

Am Ende krochen wir reumütig zurück in unsere vertraute Wirtsstube und bestellten „Schnitzel Champignons“ wie immer – das wir auch prompt geliefert bekamen, obwohl die 9-Uhr-Demarkationslinie bereits deutlich überschritten war. Die Wirtsstube war gähnend leer, alle Stammgäste waren am See. Und dann noch die erschütternde Neuigkeit, dass die Tochter des Hauses in der Klinik liegt – sie war im Urlaub auf dem Balkan zusammengeklappt: „Die Ärzte dort haben nur mit dem Kopf geschüttelt. Die verstehen das einfach nicht. Die Leute aus Deutschland kommen dort an und brechen einfach zusammen“, erzählte die Wirtin. Die einzige Ärztin der Ackerbürgerstadt nimmt wegen Überlastung keine Termine mehr an.

In die folgende Stille unseres Abendessens drangen plötzlich seltsam vertraute Geräusche. Die Schwestern hatten ihre einzige CD von Barbra Streisand herausgeholt – die in der Großstadt zeitgleich ihr einziges Konzert in Deutschland gab. Extra für uns?

Unsere Ackerbürgerstadt hat ihren eigenen Glamour. Und die Großstädter, „Schrippen“ genannt, können mit ihren SUVs bleiben, wo der Pfeffer wächst.

Kolumne 23

25.6.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Zeit für den Ackerbürger-Pride

In unserer Kleinstadt gibt es noch keinen CSD, also muss man nach Berlin fahren. Das wird sich ändern

Der CSD ist wie Weihnachten. „Unser“ größter Feiertag, das große Familienfest. Im Vorfeld wird die Weihnachtsgeschichte erzählt: „Es begab sich zu jener Zeit in der New Yorker Christopher Street, dass die Schwulen und Lesben aufstanden, um sich gegen ihre Unterdrückung zur Wehr zu setzten“. Dann brezelt man sich auf und geht auf die Straße. Zu essen gibt es statt der Weihnachtsgans Bratwurst und statt des Weihnachtspunschs gibt es Caipirinha und Red Bull mit Wodka – man kann ja nicht schläfrig unter dem Christbaum herumlungern, sondern latscht durch die Innenstadt, was in Berlin ein ziemlicher Ritt ist.

Mein Freund mag eigentlich keine Familienfeste und blieb lieber in unserer brandenburgischen Ackerbürgerstadt. Er hatte auch eine gute Ausrede: Der ÖPNV in Richtung Berlin hatte sich über das Wochenende in einen SEV verwandelt: „Schienenersatzverkehr.“ Wegen SEV keine Zeit für die GV-Parade, ja, ja.

Eigentlich läuft es ja darauf hinaus: Man geht auf die Straße, damit man nicht aufgrund der Art und Weise, in der man Geschlechtsverkehr betreibt, fertiggemacht wird. Man beschämt die Zuschauer mit mehr oder weniger offensiver sexueller Zurschaustellung, um ihnen zu verdeutlichen, dass man sich nicht für seine Sexualität schämen möchte – und solange das immer noch so ist, trotz aller deutlichen Fortschritte, ist das sommerliche Weihnachtsfest auch mehr als nur eine Party. Aber eine Party ist es auch. Warum auch nicht? Manchmal feiert man doch auch einfach nur, dass es einen gibt.

Mein erster CSD war ein unglaublich berührendes Erlebnis: Wir sind so viele! Ich bin nicht allein! Und auch heute noch ist es ein tolles Gefühl, dabei zu sein. Am Straßenrand stehen die paradenfreudigen Berliner und digitalisieren alles, Familien kommen mit ihren Kindern, Touristen freuen sich, dass etwas los ist in der guten Stube Berlins. Die meisten von ihnen wissen wahrscheinlich nicht so richtig, worum es eigentlich geht – aber sie werfen auch nicht mit Steinen oder spucken.

Mein erster CSD, das war in den Neunzigerjahren, und damals galt noch das Motto „Schwul ist cool“. Mein Coming-out wurde denn auch von einigen Freunden zunächst gar nicht ernst genommen – man hielt es für einen Ausdruck übertriebener Trendaffinität. Aber auf Trends ist eben nie Verlass. Heutzutage gilt „Kinder sind Zukunft“, und wenn der Papst etwas zu melden hat, steht es nicht mehr unter „Vermischtes“, sondern im Politikteil. Die Schwulen und Lesben stehen dafür unter „Buntes aus aller Welt“. Schrill und so.

Im VIP-Bereich rund um die Siegessäule, umzäunt und von gestrengen Weisungsbefugten bewacht, versammelten sich gegen Ende der Parade die politisch aktiven Schwulen und Lesben – eine Minderheit innerhalb der Minderheit. Wackere Kämpfer, die stetig an den Stellschrauben arbeiten, damit der gesellschaftliche Druck auf sexuelle Minderheiten geringer wird. Die meisten dieser Menschen wollen ja einfach nur in Frieden gelassen werden und ihr Leben leben.

Ausgerechnet im VIP-Bereich traf ich dann Nachbarn aus der Ackerbürgerstadt! Ein Verleger, sozusagen ein schwuler Hugh Hefner, mit seinem Freund. Wir wussten gar nicht, dass wir Nachbarn sind und wollen uns demnächst mal treffen. Die beiden kennen sogar einige wenige Homos aus der Stadt, wir kennen einen. Zusammen wären wir also schon mal mindestens sieben. Für eine kleine Parade in der Ackerbürgerstadt reicht das locker – jetzt wird alles anders.

Die Drinks mixen wir zu Hause vor und füllen sie in Wasserflaschen, die Bratwürste kann man ja unterwegs auch kalt essen. Ghettoblaster auf Großmutters alten Bollerwagen und los geht’s. Motto: „Bürger auf die Äcker, die Stadt gehört heut uns.“ Zu radikal vielleicht, aber da kann man ja auch vorher ein Gremium einberufen. Dazu bräuchten wir dann aber auch Lesben, die hiermit aufgerufen werden, sich bitte bei uns zu melden.

Das Beste an diesem CSD wird sein, dass mein Freund sich nicht wieder drücken kann. Er muss die Weihnachtsgeschichte auf dem Marktplatz verlesen. Beschlossen.

Kolumne 22

7.6.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Nicht weinen!

Die Männer Brandenburgs leiden unter der Landflucht junger Frauen? Wir werden uns ihrer annehmen

In einigen Regionen Ostdeutschlands besteht laut der aktuellen Studie „Not am Mann“ inzwischen ein Männerüberschuss von 25 und mehr Prozent. Mein Freund und ich sind uns keiner Schuld bewusst, nicht wir haben all die „jungen, qualifizierten und weiblichen Personen“ Brandenburgs in den Westen getrieben, und wir zwei Hanseln treiben auch nicht die Statistik nach oben.

Der Sohn unserer Nachbarn ist jedenfalls nicht betroffen. Der junge Mann fügt sich aufgrund einer Laune der Natur perfekt in die märkische Landschaft: schlicht, aber schön. Er ist sowohl in der Ausbildung als auch in festen Händen und somit dem Schicksal entronnen, Mitglied der „neuen männlich dominierten Unterschicht ohne Arbeit, Bildung und Partnerin“ zu werden.

Bei anderen Jungmännern der Ackerbürgerstadt sieht die Zukunft schätzungsweise nicht so rosig aus. Neulich sah man eine nicht unbeträchtliche Zahl von ihnen in weißen Anzügen und schwarzen Buffalos durch die Innenstadt ziehen. Sie hatten gerade die „Jugendweihe“ hinter sich – ein ostdeutsch-atheistisches Initiationsritual – und liefen hilflos Runde um Runde durch die winzige Innenstadt. Keine Kneipen. Keine Frauen. Keine Hoffnung.

Am letzten Wochenende standen gleich zwei verzweifelte, prekäre Männer von gegenüber in unserem Flur und tapsten unsicher von einem Bein aufs andere. Sie wollten sich mal erkundigen, wie das mit unserer Holzvergaser-Heizung funktioniert und so. Worüber man sich halt so unterhält, unter Männern. Beide ohne Arbeit und mit Depressionen.

Das ist alles nicht schön, aber müssen wir uns jetzt etwa um die Jungs kümmern, weil sich die Damen alle verpisst haben oder wie? Andererseits kann man sich dem ja auch nicht verweigern, denn laut der Studie tendieren diese verwahrlosten Mannsbilder zur Bildung rechtsradikaler Kameradschaften. Das muss nun auch wieder nicht sein.

Wir werden uns ihrer wohl annehmen müssen, es nützt ja alles nichts. Es gilt zuvorderst die „wirtschaftliche und soziale Erosion“ der Betroffenen zu stoppen, denn sonst „sinkt deren Attraktivität für junge Frauen noch weiter“. In unserem Freundeskreis befinden sich unter anderem Innenarchitekten, Mode-Designer, Schauspieler, Friseure, Tänzer, Tischler, Service-Kräfte, Produzenten, Lehrer und so weiter: Wir werden ein Gay-Kompetenz-Team bilden und Workshops anbieten, das wäre doch gelacht, wenn man diese netten brandenburgischen Gewächse nicht an die Frau kriegt. Schon die Wahl der richtigen Unterwäsche kann manchmal zum entscheidenden Durchbruch verhelfen, auch Männer, die kochen und eventuell zuhören können, erfreuen sich in weiblichen Kreisen einer gewissen Beliebtheit. Das kann man alles üben, zum Beispiel im Rahmen einer Fontane-Literaturwerkstatt unter der Fragestellung „Warum stirbt Effi Briest immer noch?“ mit integriertem Kochkurs.

Was man nicht alles tut, um sich gegen Rechtsradikalismus zur Wehr zu setzen. Andererseits kann ich mir schon vorstellen, dass einige unserer Kompetenzteam-Mitstreiter versuchen werden, die individuelle Kinsey-Skala der attraktiveren Teilnehmer in ihre Richtung zu manipulieren. Macht auch nichts, die Frauen wollen ja nicht.

Kolumne 21

10.5.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Bis die Gemeindeschwester kommt

Überholen, ohne einzuholen: Das Gesundheitssystem in Brandenburg hat endlich DDR-Niveau erreicht

Am Montagmorgen um halb acht ist das Wochenende endgültig vorbei. Dann nämlich wummert in schönster Regelmäßigkeit die Schwiegermama an die Tür, um mit uns zu frühstücken und uns zu besprechen. Sie hat im Prinzip ein eigenes Kommunikationsmodell entwickelt, das ausschließlich aus einem Sender besteht. Der Sender ist sie selbst, aber man kann ihr einfach nicht böse sein, weil sie das Herz am rechten Fleck hat und immer frische Landeier mitbringt.

Mamas Montagsproblem bestand diesmal darin, dass ihr von der AOK Brandenburg ein „Kur-Plan“ verpasst werden soll und sie nun Angst hatte, von einem Kurschatten zum nächsten gejagt zu werden – ein klarer Rechercheauftrag für den Schwiegersohn. „Kur-Plan“ war auf der AOK-Brandenburg-Seite erst mal nicht zu finden – stattdessen stieß ich auf das User-Forum „Partnerschaft und Sexualität“. Mein lieber Mann, da ist aber was los: „Ich hab eine neue Frage. Ich habe ja schon erwähnt, dass ich schwul bin (bzw. bi) und Sex mit Männern/Jungs praktiziere. Jedoch kam es bisher noch nie richtig zum Analverkehr“ erklärt Patpat, der eindringliche hygienische Bedenken äußerte. Da fällt einem ja erst mal das Brötchen aus dem Gesicht, auch das AOK-Expertenteam verharrte in Sprachlosigkeit, während User Chipmuk wacker zum Klistier riet. Userin Sanchi hingegen hatte schlicht „Schmerzen beim GV“, woraufhin das Expertenteam routiniert einen Abstrich empfahl.

Aber mit Schwiegermama kann man sich über so etwas ganz locker unterhalten, schließlich erzählt sie ja auch ganz ungenant, dass sie gerade beim „Muffenbeschauer“ (pejorativ: Urologe) war und „allet in Ordnung is“. Eine gewisse Bürgertumsferne in Kombination mit Ostsozialisation kann auch mal ganz erfrischend sein, wenn es um sexuelle Belange geht – es ist ihr nämlich auch völlig egal, ob ihr Sohn nun mit einem Mann oder einer Frau zusammen ist.

Umso dringlicher der Wunsch, ihr behilflich zu sein und eine Schneise durch den Dschungel des BRD-Gesundheitssystems zu schlagen. Der „Kur-Plan“ entpuppte sich als „Curaplan“ – ein ambitionös-verschwurbelter Marketingbegriff für ein Programm, das die AOK ihren chronisch kranken Versicherten anbietet. Der Patient soll sich mit seinem Arzt genau absprechen, dieser wiederum „organisiert den Behandlungsverlauf und vereinbart Therapieziele“ in Zusammenarbeit mit weiteren Spezialisten.

Schwiegermama verstand nur Bahnhof – und die AOK hatte da einen Riesenbahnhof veranstaltet, bei dem zumindest in unserer Ackerbürgerstadt keine Züge einfahren werden. In dem Städtchen gibt es nämlich mittlerweile nur noch eine einzige Ärztin, an deren Tür ein Schild mit der Aufschrift „Kann leider keine Patienten mehr aufnehmen“ hängt. Was bestimmt nicht daran liegt, dass sie stundenlang über Curaplänen tüftelt.

Die Dame ist schlichtweg überlastet mit den Malaisen und Wehwehchen der Einheimischen, Hausbesuche sind schon lange nicht mehr möglich, egal ob der Schwiegervater nun ein „schlimmes Bein“ hat oder nicht. Und das nächste Krankenhaus ist in der aufwendig per Bus erreichbaren Kreisstadt gelegen.

In manchen Gegenden Brandenburgs, so auch in der unsrigen, ist man medizinisch am besten beraten, wenn man sich an die Kräutermume vom Waldesrand wendet oder Maria Trebens „Apotheke Gottes“ konsultiert. Mehr so ganzheitlich eben.

Doch nun greift ja das von Greifswalder Wissenschaftlern entwickelte Gemeindeschwester-Modellprojekt „Agnes“: Speziell ausgebildete Krankenschwestern radeln durch ländliche Regionen mit geringer Ärztedichte. In der DDR war das übrigens immer schon so – und die alten Leutchen ohne Internet können ja dann auch Schwester Agnes fragen, wenn sie Schmerzen beim GV haben.

Kolumne 20

24.4.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Der Storch war da

Es ist so weit: Mein Freund und ich bekommen Nachwuchs – und leisten unseren Beitrag zur U.v.d.L.-Gebärquote

Der Bauch wölbt sich schon deutlich sichtbar, dennoch kann man sich nicht vorstellen, dass sich unter diesem kleinen Hügel gleich zwei Jungs verbergen. Eineiige Zwillinge! Schon in sechs Monaten werden sie das Licht der Mark Brandenburg erblicken. Wahnsinn.

Bei uns einziehen werden sie allerdings erst im nächsten Jahr, bis dahin muss noch viel geschraubt und gebaut werden. Keine Angst: Wir basteln nicht an einer künstlichen Gebärmutter, lediglich am Dachgeschoss unseres Hauses, das ausgebaut werden muss. Die Zwillinge befinden sich im Uterus der Nichte meines Freundes – und sie, ihr Freund und ihr fünfjähriger Sohn haben sich entschlossen, dem Prenzlauer Berg den Rücken zuzukehren und aufs Land zu ziehen. In unser Haus. Wir hingegen machen Platz und ziehen in die Ruine von nebenan. Die Welt gehört schließlich den Kindern.

Auf unsere kleine Welt bezogen, werden es derer gleich drei sein, in der Familie meines Freundes hatte man noch nie Schwierigkeiten damit, die Uschi-v.d.L.-Gebärquote zu erfüllen, auch wenn bislang noch kein einziges Akademikerkind darunter ist. Der kleine Florian ist mit seinen fünf Jahren jedenfalls ein sehr aufgewecktes Kerlchen und schon jetzt handwerklich begabt, mein Freund hatte große Schwierigkeiten, ihn davon abzuhalten, selbst (Patsche-)Hand an die diversen Baustellen zu legen. Doch seine bisher brachliegenden pädagogischen Fähigkeiten deuteten sich schon beim gestrigen Antrittsbesuch deutlich an. Wenn auch sein anonkeln weitgehend auf taube Ohren stieß.

Bei Kartoffelsuppe und Landbrot haben wir gestern schon mal protestantische Großfamilie geübt, „zwei sind geladen, fünf sind gekommen, gieß Wasser zu Suppe, heiß alle willkommen“. So ungefähr, nur ohne Beten – vorher hatte ich noch schnell die Männer Aktuellhinter dem Klavier versteckt. Im Esszimmer hatte früher die Großmutter gewohnt, genau genommen: die Urururgroßmutter des kleinen Florian, der nun, genau wie sie früher, die Suppe nicht aufessen wollte. Mit ihrem Ableben war unserem generationsübergreifenden Wohnprojekt eine Ebene abhanden gekommen, nun schließt sich die Formation eben vom unteren Ende der Generationenzwiebel. Das Leben geht weiter, auch in der kleinen, trostlosen Ackerbürgerstadt, der man vor kurzem noch die einzige Schule schließen wollte. Stattdessen werden eifrig Pläne geschmiedet. Wo kommt die Rutsche hin? In welches Zimmer kommen die Zwillinge? Werden sich die beiden Familienkatzen mit unseren verstehen?

Eigentlich hatten wir uns bloß – ganz hedonistisch – über die endlich eingetroffenen, den Sommer bringenden vier (!) Schwalben gefreut. Das Storchenpaar, das auf dem Schornstein in unserer Straße nistet und mit den Schnäbeln klappert, hatten wir nicht weiter beachtet. Prompt melden sich aus Berlin kritische Stimmen: „Was wollt ihr denn mit den Heten? Dann ist ja wohl Schluss mit draußen grillen und Lärm machen, von wegen das Kind schläft und so.“

Oops. Hatten wir vielleicht die Rechnung ohne den Wirt gemacht? Liefen wir Gefahr, Stichwort heterosexuelle Zwangsmatrix, im Verlauf der Gebärfront zwischen die Linien zu geraten? Planiert von Zwillingskinderwagen, eingeebnet von bis an den Rand mit Windeln gefüllten Familienkutschen?

Bange machen gilt nicht. Wenn die Heten so unerschrocken sind, mitsamt ihrer Bagage bei uns einzuziehen, dann wären Berührungsängste unsererseits doch wohl nicht angebracht, oder? So gaben wir denn dem jungen Glück nach seinem Antrittsbesuch endgültig unseren Segen: „Ich bin tolerant gegenüber Heteros“, sagte ich ihnen zum Abschied. Mein Freund bestand lediglich darauf, dass im Haus kein Laminatboden verlegt wird. Die Schrankwände werden wir schon verkraften.

Als die Familie unter regem Winken um die nächste Straßenecke gebogen war, herrschte geradezu unheimliche – oder doch himmlische? – Ruhe. Mein Freund und ich standen Arm in Arm vor der kleinen Ruine, die bald schon unser zu Hause sein soll. Und freuten uns.

Kolumne 19

12.4.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Rosa von Praunheims Baseballkappe

In meiner Heimat ist Wein, Mann und Gesang ausdrücklich nicht vorgesehen. Wie ich Ostern trotzdem überlebte

An Ostern habe ich in diesem Jahr „Ja“ zur Regression gesagt und meine Familie besucht. Dort, wo ich herkomme, ist man jenseits des Limes. Es herrscht katholische Sinnenfreude, immer läuten irgendwo Glocken und der Rest ist: Wein, Weib und Gesang. Wein, Mann und Gesang sind ausdrücklich nicht vorgesehen. Meinen Freund habe ich also mal lieber zu Hause in Brandenburg gelassen, ist besser so, der angeheirateten Verwandtschaft wegen.

Man kann nicht immer als Gay Taliban unterwegs sein, manchmal wird der innere Rosa von Praunheim schlicht müde und sehnt sich nach Frieden und Harmonie. So war es dann auch. Vorerst schien eitel die Sonne, ich schob meinen kleinen Neffen im Kinderwagen durch die vom Eise befreite Natur. So bekam ich eine Ahnung von den Wonnen der Mehrheitsgesellschaft, von dem Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen: Die anerkennenden Blicke der Spaziergänger angesichts des stolzen „Vaters“, der seinen Wonneproppen spazieren fährt. Für eine halbe Stunde ist man ein Bestandteil der heterosexuellen Zwangsmatrix, in der sich alles um geleaste Kombis, pflegeleichte Laminat-Fußböden und Bausparverträge dreht – und der innere Udo Di Fabio tanzt Walzer mit Ursula von der Leyen.

„Na, immer noch keine Freundin?“, fragt mit lauerndem Blick die katholische Anverwandtschaft, wohl wissend, dass sie die Antwort auf die Frage nicht hören will. Die Walzerkapelle verstummt mit einem Schlag und es ertönt das große Trauerspiel in Moll. „Warum?“ stand immer in den Traueranzeigen der Heimatzeitung, wenn sich mal wieder ein junger Mann umgebracht hatte. Und ich kenne die Stelle, von der er gesprungen ist, sehr genau. Die große, nie gewagte Jugendliebe, die sich die Lampe ausgeknipst hat, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass sein Leben lebenswert sein könnte. Ob ich der Einzige bin, der die Antwort auf das „Warum?“ weiß – oder wollten die anderen keine Antworten hören? Dieses agressive Schweigen, das zu einer Grabplatte aus Stein gerinnt.

Später im Biergarten mit Freunden vertreibt der Alkohol die düsteren Gedanken. Es ist ja vorbei, und dort, wo man früher immer zusammen gesessen hatte, sitzen heute andere Abiturienten mit typischen Regionalfressen und schmieden Zukunftspläne: Raus in „die Welt“, die Sphäre jenseits der Region. Zwei Lesben und einen Schwulen meine ich in der Runde per „Gaydar“, dem inneren Erkennungssystem, ausgespäht zu haben – ob sie es besser haben? Ob sie mutiger sind und sich ihren Freunden und ihrer Familie schon jetzt anvertraut haben? In meinem Jahrgang wäre das undenkbar gewesen. Einen Klassenkameraden traf ich erst neulich zufällig in einer Berliner Homo-Bar. Ich hätte ihn damals schon erkennen können, wenn ich das nötige Selbstvertrauen gehabt hätte. Man muss eben erst lernen, mit dem „Gaydar“ umzugehen – und schon ist man nicht mehr allein.

Die Jugend von heute ist darauf nicht mehr angewiesen. Wo früher nur Dr. Sommer von Bravowar, ist heute das Internet. Mann kann sich informieren und notfalls anonym Kontakte knüpfen. Ich hingegen warte noch heute darauf, dass die „vorübergehende Phase“ vorübergeht. So lautete die Standardantwort von Dr. Sommer, wenn in Not geratene, gleichgeschlechtlich empfindende Kids geschrieben hatten.

Ich muss an meinen Freund denken, der wahrscheinlich gerade um ein heidnisches Osterfeuer in Brandenburg tanzt, Bratwurst isst und dazu Wolfgang Petri hört – Osterfeuer ohne Wolfgang Petri gibt’s nicht. Ich schicke ihm eine SMS aus der Heimat in meine neue Heimat und kündige schon mal reichhaltige Ostergeschenke an. Apfelsaft von heimischen Streuobstwiesen, von Mutter gefärbte Ostereier und selbstgemachte Marmeladen, Leberwurst vom Landfleischer. Er schreibt zurück, dass er mich vermisst. Und ich, innerlich Rosa von Praunheims Baseballkappe aufsetzend, bin verdammt froh, dass die Dr. Sommer-„Phase“ immer noch andauert. Nächstes Jahr kommt er mit, verdammt.

Kolumne 18

15.3.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Machen wir ’ne Drogenfahrt

Bedröhnt, bekifft, besoffen: die Jugend von heute in Brandenburg

Wir hatten uns ja nun schon des Öfteren gefragt, was die jungen Leute hier draußen so treiben, wenn abends die Bürgersteige hochgeklappt werden: DVD gucken? Nachtwanderungen? Schlafen? Zur „Frauentagsdisco auf dem Sackboden“ (Frauen Eintritt frei, Männer drei Euro) gehen? Dank der Brandenburger Drogenbeauftragten Ines Kluge wissen wir nun endlich Näheres: Die Brandenburger Jugend von heute stopft sich mit Amphetaminen, Ecstasy-Pillen, Alkohol und Cannabis voll und begibt sich auf rasante „Drogenfahrt“.

Könnte schon sein, man kommt sich ja mittlerweile vor wie in Bayern: So wie dort an jeder Ecke eine Mutter Gottes aufgestellt ist, wachsen an Brandenburgs Alleen die Holzkreuze aus dem Boden – wie schon Jörg Schönbohm sagt: „Wer unter Drogeneinfluss fährt, ist eine rollende Lebensgefahr im Straßenverkehr.“ Aber da nützen wohl auch die überall aufgestellten „Auto fährt gegen Baum“-Warnschilder nicht allzu viel.

Die Berliner Jugendlichen haben es da besser. Die stopfen sich mit Amphetaminen, Ecstasy, Alkohol und Cannabis-Pillen voll und fahren dann mit der BVG nach Hause. Sie bilden dann höchstens eine rollende, laut herumquiekende Lärmgefahr, die erwachsene Besoffene wie mich im gleichen Waggon beim Dösen stört.

Normalerweise ist denn auch der Bedarf an High Life & Konfetti gründlich gedeckt, wenn ich am Wochenende in Brandenburg angekrochen komme – während es für die Kids dort erst so richtig losgeht. Saturday Night Fever! Die Augenbrauen zupfen, noch mal unter das Solarium, und los geht die Drogenfahrt! Während draußen gut hörbar die tiefergelegten Jettas und Astras vorbeifahren, deren schwarzgetönte Scheiben Gefahr laufen, von den Subwoofern aus den Gummis gedrückt zu werden, sitzen wir schön im Warmen und quatschen über Gott und die Welt.

Wenn mein Freund nicht mal wieder zum Drogenbeauftragten mutiert und spontane Rauchverbote ausspricht, so wie neulich. Trotzig warf ich mich in volle Montur, schmiss die Haustür zu und setzte mich in MEIN Auto, um in Ruhe und ohne kritisches Hüsteln eine Zigarette zu rauchen. Es war kalt und einsam dort draußen, ein Vorgeschmack auf den nahenden September der Prohibition.

Vor lauter dampfendem Frust, schwelender Langeweile und Zigarettenqualm beschlugen schon die Scheiben – jetzt so eine richtig krasse Drogenfahrt, das wäre doch was! Sich von den 75 PS meines Franzmann-Boliden mal so richtig in den Sitz drücken lassen, röhrend die Alleen entlangbrettern und den Rehen zuwinken. Und dann vielleicht zum nächsten Klinikum fahren, sich durch die Babyklappe quetschen und drinnen eine Zigarette rauchen – nach dem Vorbild eines jungen Mannes aus Dortmund, der auf diese Art versuchte, seine Langeweile zu besänftigen. Allerdings: Drogen hatten wir leider gerade keine im Haus, und ich war mir auch nicht sicher, ob es in Brandenburg überhaupt Babyklappen gibt. Ist nicht so mein Thema.

Laut einer Statistik des Potsdamer Gesundheitsministeriums wird jedenfalls bundesweit unter Jugendlichen nirgends so viel gebechert wie in Brandenburg. Ich halte das ja ehrlich gesagt für Angeberei – im Naturschutzgebiet Südeifel, Wiege meiner Jugend, wurde und wird mindestens genauso viel gesoffen. Vielleicht kann man dort einfach besser Auto fahren? Oder es liegt daran, dass man in einem Mittelgebirge selten dazu kommt, auf gerader Strecke auf 160 Stundenkilometer zu beschleunigen, um dann die Kurve nicht zu kriegen?

Was nicht sein soll, muss verboten werden – in Poltikerkreisen läuft man sich diesbezüglich gerade erst warm: Jugendlichen unter 18 den Alkohol zu verbieten wird das Unfallproblem wohl nicht lösen, denn einen Autoführerschein bekommt man frühestens am 18. Geburtstag. Und nun? Alleen verbieten? Autos verbieten? Jugendliche verbieten? Das sind so Gedanken, die einem kommen, wenn man aus Verbotsgründen in die Kälte geschickt wird und nichts zu tun hat. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um unsere Brandenburger Jugend.

Kolumne 17

1.2.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Mängelzwerge auf großer Fahrt

Unser Auto ist ein Edel-Stinker mit VIP-Plakette. Ohne es wären wir in der Umweltzone Brandenburg verloren

Das Auto hat jetzt eine VIP-Markierung, eine Art All-Areas-Badge: eine Plakette zur Nutzung der künftigen „Umweltzonen“ der Berliner Innenstadt – auch TÜV und ASU sind neu, weshalb einem die Horrormeldungen des Technischen Überwachungsvereins gerade runtergehen wie Öl, endlich mal auf der richtigen Seite: Jedes fünfte Auto ist mit erheblichen Mängeln unterwegs? Meines nicht.

Nicht mehr jedenfalls, dank des Improvisationstalents unseres polnischen Schraubers, der mich immer mit einem herzlichen „Mein Freund“ begrüßt. Ein guter, ein sehr guter Kunde eben, dessen Fahrzeug sich auf den vorderen Plätzen der Pannenstatistik tummelt, weil die Franzosen ihre zickigen Gerätschaften nach dem Motto „So gut wie nötig“ statt „So gut wie möglich“ herstellen – la „Grande Nation“ gibt sich eben nonchalant, und die Deutschen freuen sich stattdessen wie blöde, dass sie wieder die Spitzenplätze bei den „Mängelzwergen“ besetzten. Puh.

Der „Zitrööhn“, so die ostdeutsche Aussprache der schon von Honecker favorisierten Marke – als Bonzenkutsche geschmäht geschätzt –, wird allerdings in den Berliner „Umweltzonen“ eher herumstehen, denn zum Einsatz kommt er für gewöhnlich in der richtigen grünen Umwelt: auf den LPG-Plattenwegen und Alleen der Mark Brandenburg, die wiederum von den meisten Berlinern für „die Zone“ schlechthin gehalten wird. Fährt man mit den Öffentlichen in die Ackerbürgerstadt, braucht man länger als nach Hamburg – und ist dann vor Ort an die Scholle gekettet, als hätte es die Bauernbefreiung nie gegeben. Ohne Auto läuft da gar nichts.

Nur mein Freund ist immer auf der ökologisch korrekten Seite. Wenn wir mal wieder in den Baumarkt oder zum Förster müssen, um Materialien für den Ausbau seines „ökosozialen Wohnprojekts“ zu organisieren, bin ich ja der fossile Brennstoffe verheizende Täter. Er hat nicht mal eine „Fahrerlaubnis“, sondern nur das Trauma, als Jugendlicher von der Obrigkeit zu einer KFZ-Schlosser-Lehre gezwungen worden zu sein. Was bedeutet, dass er zwar die Blattfederung eines 79er Wartburgs reparieren kann, aber nicht weiß, was eine Einspritzpumpe ist. Opfer.

Wenn wir dann mit „Abba-Gold“-Soundtrack zum Baumarkt fahren, vorbei an den unzähligen Holzkreuzen jugendlicher Raser, kann er ruhigen Gewissens über den Klimawandel dozieren. Noch besser war nur unser Versuch, Öko-Ziegenkäse aus Kuhhorst (kein Witz!) zu organisieren. Ja, es sollte ein Geschenk für einen lieben Menschen sein, aber für den Erwerb dieses Stücks Nachhaltigkeit gingen mindestens fünf Liter Benzin drauf. Wir hatten uns verfahren, erst ein keineswegs ökologisch arbeitender Bauer, der einer Kuh gerade dermaßen die Hufe auskratzte, das Blut floß, schickte uns auf die richtige Spur. Einen völlig verschlammten Feldweg. Wie der Feinschmecker-Kritiker mit seinem Volvo bis zu diesem Hof gelangt ist, weiß kein Mensch. Aber wir haben es ja auch geschafft.

Der Gourmet-geadelte Biokäse war dann recht schnell eingetütet, doch nach den Strapazen wollten wir uns bei einem Kaffee erholen, den man in Kuhhorst laut Beschilderung „mit Blick auf die grünen Wiesen Brandenburgs“ genießen kann. Als mein Freund dann jedoch ansetzte, den Besitzer darauf hinzuweisen, dass es sich bei den Wiesen genau genommen um ein Rapsfeld handele, war ich kurz davor, ihn einfach in Kuhhorst auszusetzen.

Manchmal stimmen die Texte, die man so ablässt, eben mit der Wirklichkeit nicht überein. Wir brauchen das Auto beide, leisten können wir es uns nur, weil ich es geerbt habe – und eigentlich überhaupt nicht, das Geld für die Reparaturen ist geliehen. Drei-Liter-Auto? Gibt’s zwar nur noch gebraucht, aber immer noch zu teuer.

Auf die VIP-Plakette für zehn Euro hätte ich jedenfalls verzichten können, schlimmer ist jedoch, dass der TÜV auch nicht mehr ist, was er mal war. Die wichtigsten Mängel haben sie übersehen: Die „Abba“-CD bleibt bei „Voulez-Vous“ und „Super Trouper“ hängen.

Kontrollzwerge.