Kolumne 16

23.11.2006

Martin Reichert über LANDMÄNNER

Streusand im Auge

Im Fernsehen ist Brandenburg immer prima kuschelig. Aber waren Sie schon mal im Oranienburger Einkaufszentrum?

So wie es ZDF-Punks und Degeto-Frauen gibt, existiert auch ein schönes, kleines Bundesländchen namens RBB-Brandenburg. Dort scheint meistens die Sonne, und scheint sie einmal nicht, machen dies die patent-bodenständig wirkenden ModeratorInnen mit einem strahlenden, penetrant glaubwürdigen Lächeln wieder weg: nicht zu hübsch und nicht zu hässlich. Es brüten die Störche, es krähen die Kraniche – und das Volk feiert allzeit Feste mit irdenen Speisen und selbstgebrauten Alkoholika. RBB-Journalisten mit Timberland-Boots und Goretex-Jacken fahren rund um die Uhr mit ihren silberglänzenden Opel Vectras und VW-Bussen über die Alleen, um diese Bilder einzufangen.

Nur im Oranienburger Einkaufszentrum war noch nie jemand. Einem Aufenthalt in der Kreisstadt verdanke ich die erschütternde Erfahrung, die Welt für einige wenige Minuten wie Wiglaf Droste betrachten zu müssen: Überall waren hässliche Menschen, die Einkaufswagen mit hässlich ausschauenden, ungesunden Lebensmitteln vor sich her schoben. Ein Geruch von ranzigem Bratenfett lag in der Luft, feiste, schnurrbärtige Männer schoben verschmorte Würste in ihre roten Gesichter, dazu schales Regionalbier trinkend. Vereinzelte Gestalten mit Dauerwellen schreiten in den „Orion“-Sexshop, um „Glitschi“ zu kaufen, als handele es sich um Zahnpasta. Fruchtbarkeit inmitten dieser Einöde? Da soll sich mal lieber der Storch drum kümmern.

Und beim Abendessen kommt mir mein Freund dann auch noch mit folgendem Satz: „Die Tragik der Ostdeutschen besteht doch darin, dass ihre Biografien nicht anerkannt werden.“ Eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust, meinen Abend ausgerechnet mit Wolfgang Thierse zu verbringen, aber bitte: Die Ost-West-Diskussion haben wir beide schon so oft geführt. Also das ganze Programm. „Ihr“ und „wir“ und „das hat ja alles auch ganz schön viel Geld gekostet“ und „es war ja nicht alles schlecht in der DDR“. Das Gulasch lag ganz schön schwer im Magen, dementsprechend träge waren die Gedanken. Ein halbherziges Ritual.

Dabei sind wir uns eigentlich einig, da hilft auch keine zehnte Wiederauflage des Kalten Krieges: In unserem Frust. Er kann einfach nicht glauben, wie viele seiner Exmitstaatsbürger einfach so tun, als gäbe es die DDR noch. Sie spielen einfach weiter Arbeiter-und-Bauernstaat, als hätte es die Wende nie gegeben: Privat geht vor Katastrophe. Ossi-Parallelgesellschaften in Berlin-Hohenschönhausen – darum könnte sich „Spiegel-Online“ mal kümmern, anstatt sich aufgrund von Ortsunkundigkeit im Kreuzberger Wrangel-Kiez zu verlaufen.

Aber für den tristen Alltag im Osten interessiert sich eben nicht mal der RBB. Kann man auch schlecht verkaufen. Auch ich selbst stelle mitunter gewisse Ermüdungserscheinungen an mir fest. Plötzlich ist die geballte, graue Tristesse nicht mehr „exotisch“, sondern beängstigend, die eigenbrödlerisch-privatistische Mentalität nicht mehr „spannend“, sondern schlicht piefig-miefig.

Nach all den Jahren „sensibler Annäherung“, der Neugierde und Anteilnahme, dem Bemühen um Verständnis und Verstehen, meldet sich auch gelegentlich ein Gefühl von Enttäuschung. Das Gefühl, immer ein Fremder im Osten geblieben zu sein und auch bleiben zu sollen. Und irgendwie überhaupt keine Lust darauf zu haben, dass in der Stammwirtschaft die örtlichen Nazis genauso freundlich bedient werden wie alle anderen.

Aber es gibt ja noch das RBB-Brandenburg, und das ist für alle da, auch für mich. Pilze sammeln im Spätsommer, Baden im See, den Kranichen auf ihrem Weg nach Süden auf Wiedersehen sagen. Kirschen aus LPG-Beständen klauen und Schnitzel mit Spargel essen. Vielleicht sollte ich mir einfach einen RBB-Aufkleber auf mein Auto machen, silberfarben ist es ja schon. Immer dranbleiben an den schönen, bunten Geschichten aus der Mark Brandenburg.

Es ist nun einmal die Heimat meines Freundes. Und deine Liebe ist meine Liebe. Es wird schon gehen.

Kolumne 15

26.10.2006

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Wo the fuck bleibt Alice?

Ohne einen DSL-Anschluss haben die Gayromeos in Brandenburg ein Problem: Sie können nicht zueinander finden

Wir hätten sie gerne bei uns empfangen, aber Alice kann nicht kommen: Die auf sumpfigem Grund erbaute Ackerbürgerstadt ist nicht an das Breitbandnetz angeschlossen oder wie das heißt. Bedeutet: Nix DSL und WLAN – dabei dachte man immer, dass wenigstens die Infrastruktur im Osten auf dem neuesten Stand ist.

Ohne DSL allerdings ist es schwierig, im „schwulen Einwohnermeldeamt“ Gayromeo die nötige Präsenz zu zeigen – wer nicht permanent oder wenigstens dauerhaft bei diesem größten schwulen Internet-Portal Deutschlands online ist, existiert eigentlich gar nicht. Insbesondere in der flachen Provinz, in der homosexuelle Identitäten gerne auch mal autoerotisch im Badezimmer ausgelebt werden, während die Ehefrau nebenan in der Küche das Abendessen für die Familie zubereitet, bedeutet dies eine zusätzliche Erschwernis: selten online und dann auch noch ohne Gesicht. Die Profile (digitale Karteikarten) der Landbewohner sind überdurchschnittlich häufig ohne Fotos, die Jungs verschwinden einfach in der Anonymität des märkischen Sandes, von Kyritz an der Knatter betrachtet kann das nahe Berlin verdammt weit weg sein. Ohne Alice bleibt die Klemmschwester im Schrank. Unsere Meldeamt-Karteien sind nicht anonym, im Gegenteil: Im Profil meines Freundes ist sogar ein „Partnerprofil“ mit meinem Konterfei eingewoben. Manche Chat-Bekanntschaft meines Freundes hat schon angemerkt, dass man mein Grinsen auch als drohend empfinden könne – völlig zu Recht übrigens. Ansonsten sind unsere Profile harmlos, wegen uns hätte Gayromeo nicht nach Amsterdam umziehen müssen. Aufgrund der Verschärfung des Jugendschutzes in Deutschland hätte das Portal die vielfältigen „x-rated“ urologischen und proktologischen Nahaufnahmen in Zukunft nur noch nach persönlicher Inaugenscheinnahme des Users freigeben können. Da man also hierzulande die Jugend so sehr vor sich selbst schützen möchte, dass sie kaum noch zu sich finden kann, haben die Gayromeo-Betreiber ihre Server in Umzugskisten gepackt. Vom liberalen holländischen Exil aus geht es nun weiter wie gehabt, dafür können Mütter und Väter in Deutschland wieder ruhiger schlafen: In dem Gefühl, wenigstens etwas getan zu haben gegen all den Schmutz & Schund.

Für die schwulen Landbewohner, insbesondere die jüngeren, ist das Internet hingegen kein Fundus des Grauens, sondern ein wahrer Segen: Glaubten früher die meisten Landei-Homos, dass sie die einzigen in der weiten Welt (also des Landkreises) seien, können sie sich heute ganz einfach vom Gegenteil überzeugen, und vor allem: miteinander in Kontakt kommen. Ganz egal, ob sie Informationen theoretischer oder praktischer Natur sammeln möchten. Früher wären sie auf die spärlichen Informationen von Dr. Sommer angewiesen gewesen – oder auf eine heimliche Radtour zur nächs- ten Autobahnraststätte. Finster. Sogar von jenseits der Oder melden sich junge Polen in gebrochenem Deutsch oder Englisch, die im Lande der Kaczyńskis keine Luft zum Atmen finden. Im Vergleich ist das nahe Brandenburg total Holland, digital zumindest: „Bitte einladen!“ fleht ein junger Mann aus Kostryn. Ein anderer Jungmann aus der Ostprignitz fühlt sich „noch unentschieden“ und möchte bloß chatten, ein 19-Jähriger aus der Lausitz sucht den Partner fürs Leben. Wer sagt denn auch, dass man diesen nur in der Oper kennenlernen kann?

Das Internet ermöglicht so viele Freiheiten, am Ende werden sich sowohl chinesische Parteikader als auch engagierte Jugendschützer die Zähne an seinen Möglichkeiten ausbeißen. Schlimmer als die Verbissenheit mancher Porno-Jäger ist nur noch die verklemmte Sprachlosigkeit im Umgang mit den inkriminierten Inhalten – aufklärende, offene Gespräche über das tatsächliche Verhältnis zwischen „Hengst“ und „Dreilochstute“ sind immer noch der beste Jugendschutz.

Und Alice kann uns mal gerne haben. Wir bekommen demnächst DSL über Satellit. Da spielt der kleine Umweg über die Niederlande gar keine Rolle mehr.

Kolumne 14

10.10.2006

Martin Reichert über LANDMÄNNER

Tag des offenen Denkmals

Bei uns in der Ackerbürgerstadt blühen die Landschaften derart, dass den Nazis noch Hören und Sehen vergehen wird

Die Einschläge kommen näher: Gleich um die Ecke, mitten in der Altstadt unserer kleinen brandenburgischen Ackerbürgerstadt treffen sich neuerdings Jugendliche mit verdächtigen Haarschnitten, die zum einen rülpsend-feist an Straßenlaternen urinieren und zum anderen rechtsradikalen Rock hören – unsere insgeheime, selbstberuhigende Ausrede, dass die Nazis ganz woanders hausen, vornehmlich in den ehemals industrialisierten Bereichen Brandenburgs, scheint sich so nicht mehr haltbar zu sein: Und plötzlich sind sie überall, man muss sie nur wahrnehmen wollen.

Beim Schnitzelessen in der lokalen „Speisegaststätte“, geführt von zwei reizenden Schwestern, die uns immer persönlich und herzlich begrüßen, hängt ein NPD-Funktionär in gestyltem Landarbeiter-Outfit herum und politisiert. Gegenüber unserem Haus ist ein gewichtiger Glatzkopf eingezogen, aus dessen 1.000-Watt-Autoradioboxen gerne mal Störkraft-Klassiker dröhnen. Er grüßt nie. Wir auch nicht. Stattdessen höre ich stets mit heruntergekurbelten Fenstern Scissor Sisters (wahlweise auch Abba). Eine Form subversiven Widerstands, der sich auch bei Spazierfahrten ins Umland anböte. Auch wenn in diesem Dorf die Nazi-Gaststätte „Walhalla“ längst Pleite gemacht hat, so weht in jenem doch die Deutschland-Flagge über dem Einfamilienhaus ortsbekannter Nazis – womöglich als Antwort auf die US-Beflaggung der benachbarten Country-Ranch, zu der seit neuestem ganz in Weiß gekleidete Cowboys pilgern. Und zwar auf dem Fahrrad – eine „Überfremdung“ der etwas schrägeren Art, denn „Ausländer“ gibt es ja in dieser Gegend kaum, vielleicht abgesehen von den wenigen „Fidschis“, bei denen man gerne mal billig Klamotten kaufen geht.

Beim nächsten Dorf handelt es sich um eine ehemalige Manifestation der Nazi-Siedlungsbewegung, von der zum einen die sich noch im Originalzustand befindenden, holzverkleideten Flachbauten zeugen, zum anderen die noch immer deutlich über dem Durchschnitt liegende Schäferhund-Dichte. Gleich nebenan: eine vergessene Außenstelle des Konzentrationslagers Sachsenhausen, in der Häftlinge bis zur tödlichen Erschöpfung Torf stechen mussten.

Ob die Scissor Sisters mit ihrem New Yorker Queer-Sound gegen all das ankommen? Subversiver, ja, aber auch ziemlich sprachloser Widerstand. Mein Freund will den urinierenden Gröl-Jugendlichen demnächst das LKA auf den Hals hetzen. Er ist einfach nur sauer – auch weil man in seiner Heimat weiß gekleidete Cowboys ebenso hinnimmt wie Springerstiefel tragende Neonazis. Als handele es sich um eine Art karnevaleskes Naturereignis. Was kann man dem eigentlich entgegensetzen außer Lichterketten? Weitermachen. Aushalten.

Neulich zum Beispiel sind wir wieder einmal besichtigt worden, weil „Tag des offenen Denkmals“ war. Insgesamt drei lokal bestückte Gruppen drängten sich durch unser denkmalgeschütztes Eigenheim-Ensemble (von manchem auch als Bruchbuden-Haufen bezeichnet), es handelt sich um die ältesten Häuser der Ackerbürgerstadt. Ein Stück satter teutonischer Fachwerkidylle, bewohnt und in Stand gehalten ausgerechnet von einem Homo-Paar. Besichtigt wurde daher auch ein Stück Lifestyle, inklusive der utopischen Idee, aus dem ganzen Areal ein generationenübergreifendes Wohnprojekt zu machen. Eine Siedlungsbewegung, die in dieser Form ganz sicherlich nicht im Sinne des braunen Erfinders ist, aber wer zuletzt lacht, lacht eben am besten. Dem Großteil der Besucher hat es sehr gut bei uns gefallen: Entdecke die Möglichkeiten! Wohlwollen schlug uns entgegen, und dies nicht nur für die Auswahl der Lampen, auch die schulterklopfende Aufforderung, weiterzumachen.

Wir werden ja sehen, welche Konzepte, welcher Lebensstil, welche Ideen sich am Ende in unserer Ackerbürgerstadt durchsetzen werden. Bloß nicht Bange machen lassen. Die von uns geschaffenen Landschaften blühen jedenfalls schon jetzt ganz ordentlich. Und außerdem sehen wir einfach besser aus.

Kolumne 13

31.8.2006

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Der Stadtschreiber sieht alles

Nun ist es aber vorbei mit der schönen neuen Welt: Die Kameras am Marktplatz müssen weg

Es ist ein Skandal: Wir sind monatelang gefilmt worden. Und haben es nicht mal gemerkt, sonst hätten wir wenigstens mal in die Kamera winken können. In unserer kleinen brandenburgischen Ackerbürgerstadt wurde seit Ende letzten Jahres der „historische Marktplatz“ überwacht – mit großer Selbstverständlichkeit und gleich mit drei Kameras, obwohl dort nun wirklich nichts los ist.

Vielleicht gerade deshalb hatte der Bürgermeister (SPD) Angst um seinen neu gestalteten Marktplatz, den kaum jemand betritt: „Das war sehr teuer.“ Es ist eben nicht billig, die Geschichte umzuschreiben, dort, wo bis vor kurzem noch das sowjetische Ehrenmal stand, ein unförmiger Steinklotz, dessen Errichtung am Standort des vormaligen Weltkriegsdenkmals der Legende nach mit vorgehaltener Kalaschnikow erzwungen wurde, steht nun ein neuer, dieses mal sogar wasserspeiender Klotz aus Granit. Und vor der massivem Widerstand der PDS geschuldeten Bronze-Plakette, die des verschwundenen Sowjetmahnmals mahnt, stehen stets rote Nelken. Doch auch die können über die entschiedene, wenn auch lediglich optische Bundesrepublikanisierung des Marktplatzes nicht hinwegtäuschen, es fehlt nur noch eine Wall-Toilette. Wie dem auch sei: Die Stadtverordneten hatten der Überwachung zugestimmt, bis ihnen die Brandenburger Datenschutzbeauftragte Dagmar Hartge einen Strich durch die Rechnung machte: Die Kameras müssen weg, obwohl der Bürgermeister sich keiner Schuld bewusst war: „Die Bilder werden doch lediglich 30 Tage gespeichert und dann automatisch überschrieben, ohne dass sie jemand anschaut.“ Ja, dann!

Wir haben dieses Problem neulich mal in der lokalen Start-Up-Szene angesprochen, es handelte sich unter anderem um die Betreiberin eines Tex-Mex-Restaurants – die keinen leichten Stand hat, weil sich die Bevölkerung noch nicht an das neumodische Essen gewöhnt hat – und die Inhaberin eines florierenden Nagelstudios. Sicherheitspolitische Bedenken hatte man dort eher in Bezug auf Berliner Türken, die illegal im Tiergarten grillen, auch der durch die geplanten Bombenattentate in Regionalzügen näher gerückten Terror-Bedrohung wurde keine größere Bedeutung zugemessen, schließlich liegt der Bahnhof etwas außerhalb der Stadt und man fährt sowieso Auto – die in den liebevoll „Brotbüchsen“ genannten Regionalexpressen installierten Überwachungssysteme waren bislang niemandem aufgefallen. Die Kameras am Marktplatz scheinen den Ackerbürgern irgendwie am Arsch vorbeizugehen, demnach hätte der jetzige Bürgermeister Recht: Niemand schaut sich Bänder an, auf denen nichts zu sehen ist. Die Zeit, in der man den „aufrechten Gang“ geübt hatte, ist schon lange her, stattdessen liegt man horizontal auf der Couch.

Mein Freund und ich haben beschlossen, dass es so nicht weitergehen kann. Er will nun Bürgermeister werden und ich mache ihm den Jörn. Als First Gentleman kümmere ich mich dann um die Landfrauen und halte Reden zur Eröffnung von Seidenmalerei-Ausstellungen im Rathaus, außerdem fahre ich den Dienst-Mercedes, denn der zukünftige Bürgermeister hat gar keinen Führerschein.

Der Plan geht so: Wir verkaufen die Video-Überwachungsbänder vom Marktplatz an die ARD, die sie dann nachts unter dem Titel „30 Tage in einer brandenburgischen Ackerbürgerstadt“ sendet – mit „Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands“ weiterzumachen wäre in Anbetracht der Sicherheitslage ohnehin zynisch. Mit den so erwirtschafteten vielen, vielen GEZ-Millionen sanieren wir den total verfallenen und daher auch schon lange geschlossenen Jugendklub am „historischen Markplatz“, dann kommen die Jugendlichen auch nicht mehr auf die Idee, vor lauter Langeweile Graffiti auf Betonklötze zu schmieren. Von dem übrig gebliebenen Geld stellen wir einen BAT-besoldeten Stadtschreiber ein, der den Ackerbürgern mal ein bisschen auf die Finger guckt. Statt Kameras. So richtig über den Weg traue ich denen nämlich nicht.

Kolumne 12

23.5.2006

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Tarnkappenbomber nach Brandenburg

No-go-Areas? Man kann überall hingehen, es kommt nur darauf an, wie man sich bewegt

Wochenende, jetzt geht es schön gepflegt in die No-go-Area, nach Brandenburg, mitten rein in den speckigen Gürtel Berlins, nicht zu Fuß, sondern mithilfe sämtlicher Varianten des ÖPNV.

Schönleinstraße. U-Bahn-Linie 8, von Neukölln aus in Richtung Wedding. Mit schwerem Freizeitsturmgepäck in der Vierersitzgruppe, um mich herum drei Migrationshintergrund-Mädels mit Kulleraugen. Sagt die eine: „Guck mal, ich sitze am liebsten so in der Bahn“, und schlägt ihre Beine graziös übereinander, sagt die andere: „Ja, okay, aber bei Männern sieht das echt voll schwul aus.“ Nun quietschen alle wie Meerschweinchen, die niedlichen Gören – den breitbeinig inmitten ihrer thronenden Homo einfach ignorierend: Wäre es jetzt nicht an der Zeit für ein aufklärendes Gespräch, sensibel und bestimmt? Es sind ja noch Kinder und vielleicht …? Ich bin so müde. „Dü gübts hür nüscht“, sagt der Breitmaulfrosch zum Storch, der ihm auf den Fersen ist, um als Spitzmaulfrosch durchzukommen. So müde.

Gesundbrunnen. S-Bahn vom Wedding in Richtung Hennigsdorf. Eine Gruppe arabischstämmiger Jungs betritt den Waggon, tipptopp gezupfte Augenbrauen, rosa T-Shirts, kleine Knackärsche in weißen, eng anliegenden Hosen, „GUCK MAL DA, DIE SCHWULE SAU“. Schweißausbruch: Hatte ich doch eine Sekunde zu lange aufgeschaut, womöglich einem von ihnen zu lange in die adrett bewimperten Augen geschaut? Nein, sie zeigen nach draußen, wummern an die Scheibe, denn auf dem Bahnsteig geht ein junger Mann vorbei, der eigentlich genauso aussieht wie sie selbst, aber mit trippelnden Schrittchen und wiegenden Hüften. Die übermüdete andere schwule Sau mit dem Dreitagebart, Jeans und schwarzem T-Shirt blieb unerkannt. „Dü gübts hür nüscht.“

Hennigsdorf. Regionalbahn in Richtung Rheinsberg. Wer hat wohl jetzt seinen Auftritt? Hm? Und schon sitzen sie im gleichen Waggon. Glatzen, Lonsdale, Hakenkreuztätowierung auf Stiernacken, Bierdosen – das ganze Programm eben. Praktisch meine Frisur, sie spart den Gang zum Coiffeur und erleichtert das Leben in der No-go-Area, wenn nur die verräterische „Zecken“-Brille nicht wäre und die aufgeschlagene Zeitung südwestdeutscher Provenienz. Desinteressiert tun, Beine NICHT übereinander schlagen, nicht mit dem Handgelenk schlackern, bloß kein Collier-Griff jetzt. Müsch gübts hier gar nüscht.

Bahnhof der brandenburgischen Ackerbürgerstadt, die hier nicht genannt wird, sonst googelt mich noch einer, man kann nie wissen. Zu Fuß in Richtung Marktplatz. Neben einer stillgelegten Werkstatt feiern stämmige Jungmänner mit Bier und Grillwurst und stieren. No-go-Area? Es kommt einfach nur darauf an, WIE man(n) geht. Brust raus, Schultern gerade. Fester, schneller Schritt mit sicherem Tritt, Augen geradeaus, ein ungewisses Ziel vor den Augen. Nicht nur Hunde spüren, wenn man Angst hat.

Endlich im sicheren Hafen, mein Freund steht vor dem Haus, weil er noch einen Balken einziehen muss. Ich freue mich, ihn zu sehen, und haue ihm auf den muskulösen Arm, „Na, Alter, allet klar?!“ Gegenüber stehen die Opel-Vectra-Boys.

Wenn man sich „richtig benimmt“, passiert einem auch nichts. Einfach die Tarnkappe überziehen, dann klappt’s auch mit den Nachbarn.

Ob nun Neukölln oder Brandenburg – es handelt sich um No-Show-Areas.

Die Schwulen haben sich einfach längst daran gewöhnt, es ist ein uraltes, überliefertes Wissen, das von Generation zu Generation weitergegeben wird: Sei vorsichtig, sonst bekommst du ein paar aufs Maul. Die Angst fährt immer mit, und man hält das für völlig normal.

Freiheit und Sicherheit nur dank heterosexueller Vorannahme, mit „dü gübts hür nüscht“ kommt ein Mensch mit anderer Hautfarbe allerdings nicht weit. Uns bleibt wenigstens die Selbstverleugnung. Und abends, wenn alle Vorhänge zugezogen sind, darf man sich auch ruhig mal in den Arm nehmen. Diese Müdigkeit, die einen als schwule Sau ab und an überkommt. Gute Nacht. Und morgen früh geht’s dann auch wieder.

Kolumne 11

6.4.2006

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Dank an die Gleichstellungsbeauftragte

Berlin und Brandenburg sollen wiedervereinigt werden? Haben wir schon lange gemacht

Es nützt überhaupt nichts, aus Berlin wegzurennen, denn früher oder später kriegt einen die Stadt wieder, erst recht wenn man es auf der Flucht bloß bis ins brandenburgische Umland geschafft hat. Dort angekommen, sieht man die Großstadt nachts noch giftig-orange am Horizont schimmern, drohend und anziehend zugleich.

Wenn es nach ihrem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit geht, ist bald sowieso alles zu spät: BeBra ante portas, die Vereinigung von Berlin und Brandenburg soll nun endlich mal klappen. Unddasistauchgutso: Dieses doppelt administrierte Rest-Preußen ist sowieso „eine Wolke“, auch wenn dies aufgrund gewisser geschichtlicher Verwerfungen vorübergehend in Vergessenheit geraten war, bloß märkische Sandkörner im Auge des Betrachters: Die Häuser in Brandenburg sind kleiner und der Dialekt eher hell-kläffend als gut berlinisch bellend. Außerdem gibt es keine U-Bahn.

Man muss stattdessen den Regional-Express nehmen, dieselgetriebene Brotbüchsen mit unfreundlichen Schaffnerinnen, die einen zwingen, den bordeigenenen Fahrscheinautomaten zu benutzen. Womit sie sich überflüssig machen, aber unfreundlich waren sie schon vor Einführung der Automaten. Jedenfalls: Die Stadt kommt zum Land.

Am Wochenende sowieso. Auf den Landstraßen sind überall Kennzeichen-B-Fahrer, die überfordert sind, wenn sie mehr als 50 Kilometer pro Stunde zurücklegen sollen. Sie parken stattdessen und stolpern verwirrt durch die Wälder um Pilze zu sammeln, ganz egal, welche Jahreszeit gerade ist. Ganz wie bei Kaiser’s eben. Wenn sie damit fertig sind, verursachen sie einen Stau am Autobahndreieck Havelland.

Dann gibt es noch die Wochenend-Landeier, solche Menschen wie mich zum Beispiel. Feiglinge, die groß rumtröten, wie toll doch das Landleben ist, um dann sonntagabends schnell in Richtung Stadt zu entfliehen, das Stroh noch unter den Ledersohlen klebend und den Rucksack voll mit Eiern von glücklichen Hühnern.

Landleben mit Vollkasko.

Und dann ist da noch mein Freund. Der kann sich nun wirklich nicht entscheiden. Beim Holzhacken summt er ständig „Downtown“ von Petula Clark: „There are Movie Shows: Downtown!“ Unter der Woche steht er dann plötzlich abends vor der Tür und will mal „was unternehmen“. Doch schon am U-Bahnhof Kottbusser Tor findet er das alles ganz schön schlimm und im Möbel Olfe ist es dann viel zu laut und zu voll und überhaupt ist alles grau und doof.

Dieser Multioptions-Quatsch macht einen eben völlig gaga in der Birne, vor allem wenn die Grenzen zwischen den Wahlmöglichkeiten immer mehr verwischen. Die Suburbanisierung der brandenburgischen Provinz ist eindeutig fortschreitend: Auch „unsere“ Ackerbürgerstadt (7.500 Einwohner!) wird allmählich urban.

Es gibt dort zum Beispiel eine Gleichstellungsbeauftragte (demnächst veranstaltet sie einen Gesprächskreis zum Thema Osteoporose). Bald schon soll ein Go-Cart-Rennplatz errichtet werden und noch in diesem Monat wird die „Kulturscheune“ ans Netz gehen, ein alternativer Veranstaltungsort mit „französischen Chansons und Rotwein“, der auf keinen Fall Familienfeiern beherbergen möchte. Neulich habe ich sogar einen leibhaftigen Migranten gesehen. Wenn das so weitergeht, eröffnet am Ende auch noch eine ausgewiesene Homo-Bar.

Was soll das dann überhaupt noch mit dem Landleben, wenn es nicht mehr klar identifizierbar ist? Bloß noch eine Attitüde im Landhausstil?

Meinetwegen können Berlin und Brandenburg ruhig wiedervereinigt werden. Früher musste sich unsereins in die Zentren der großen Städte flüchten, um in Frieden existieren zu können. Heute ist es längst umgekehrt: Wir strömen aus den Zentren aufs Land und stören ein wenig den Frieden, um am Ende friedlich miteinander zu leben. Es nützt eben überhaupt nichts, vom Lande in die Großstadt wegzurennen. Am Ende kriegt einen das Land wieder: grüne Natur, nachts totenstill, anziehend und drohend zugleich.

Kolumne 10

9.3.2006

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Freie Sicht auf freie Bürger

Seitdem Omas Gardinen weg sind, sind wir die Big Brothers der Kleinstadt. So sieht es jedenfalls die Jugend von heute

Weg mit den alten Zöpfen: Großmutters Spitzengardinen haben wir endgültig abgehängt, in ihrem ehemaligen Zimmer ist nun ein Wohn- und Arbeitsraum. Von dort aus hat man einen schönen Blick auf die mit Kopfsteinpflaster belegte Straße, in der die ältesten Häuser des kleinen Städtchens stehen. Umgekehrt funktioniert es auch ganz gut. So hat sich neulich die schwer gelangweilte, kleinstädtische Jugend vor unserem Fenster versammelt, um mal zu gucken, wie wir so gucken. So besonders viel passiert ist nicht, wir haben bloß Linsensuppe gegessen.

Bei „Big Brother“ ist das eigentlich nicht anders, bloß dass ab und zu mal jemand duschen geht. Bei uns liegt das Badezimmer allerdings im ersten Stock, absolut tote Hose. Keine sexuellen Ausschweifungen, kein Krach, nichts. Dennoch scheint die örtliche Jugend die Faszination des wirklichen Lebens für sich entdeckt zu haben, wenn auch nur über den Umweg des Fernsehens. Aber warum kulturkritisch daran herumnörgeln, ist doch schön, wenn sich die jungen Menschen interessieren und Fremdem gegenüber aufgeschlossen sind.

In der kleinen Ackerbürgerstadt ist ansonsten überhaupt nichts los. Der örtliche Jugendklub, früher Aufmarschgelände der FDJ und Schauplatz wildester Jugendtanzveranstaltungen, ist schon lange geschlossen. Es gibt keine jugendgerechten gastrokommerziellen Ausweichquartiere, und die Bushaltestellen, üblicherweise Sehnsuchtsort jener 14- bis 17-Jährigen, die weder Fisch noch Fleisch sind und sich irgendwohin sehnen, wo alles ganz anders und vor allem richtig ist, sind nicht einmal überdacht. Das ist doch nichts.

Ein Kino gibt es auch nicht, stattdessen hat das Amt für Denkmalschutz in der angrenzenden Straße ein Schild aufgehängt: „In diesem alten Gasthaus-Saal, der früher auch als Kino genutzt wurde, sprach einst Karl Liebknecht zu den Arbeitern der Stadt“. Na super, denkt sich da die Jugend. Was bleibt ihnen also anderes übrig, als zu uns zu kommen und ans Fenster zu klopfen. Herumzualbern und blöde Sprüche zu machen. Es sind die einzigen bewegten Bilder, denn alle anderen Bürger haben sich hinter blickdichten Gardinen verschanzt, durch die lediglich das bläuliche Licht der Glotzen durchschimmert. Wer hier abends spazieren geht, fühlt sich, als hätte er sich aus Versehen in die Filmkulisse des Helge Schneider Films „Praxis Dr. Hasenbein“ verirrt, eine irrwitzige Karikatur kleinstädtischer 50er-Jahre-Tristesse in grau.

Also weg mit den Ado-Gardinen, freie Sicht auf freie Bürger! Bei uns brennt immer ein wärmendes Lichtlein, das den Eingeborenen Trost zu spenden in der Lage ist, insbesondere natürlich der sich ödenden Jugend. Wir senden rund um die Uhr eine frohe Botschaft aus unserem Big-Brother-Fenster, drum herum streichen wir die Fassaden bunt und pflanzen Bäumchen, laden Menschen aus aller Herren Länder zum Kaffeetrinken ein. Wenn sich die Bürger der kleinen Stadt nicht vorsehen, herrschen dort – ruck, zuck! – niederländische Verhältnisse, die fehlenden Gardinen sind da nur ein symbolischer Anfang. Und dann ist wirklich Schluss mit DDR-Spielen, als ob nie was gewesen wäre, zerkochtem Mischgemüse und schlechter Laune.

Wir haben uns überlegt, dass wir uns nun um die Programmgestaltung kümmern müssen, schließlich haben wir einen Bildungsauftrag. Geplant sind unter anderem öffentliches Bücherlesen und zur Unterhaltung drei Runden „Mensch, ärgere dich nicht“-Spielen. Oder kochen? Dann müssten die Jungs und Mädels allerdings in den Hinterhof kommen, sonst sieht man nichts.

Jedenfalls wurde mir das Gejohle, Geklopfe und Gequietsche irgendwann zu viel. Ich stellte den Suppenteller ab und ging entschlossenen Schritts auf die Haustür zu. Bis ich sie endlich geöffnet hatte, war die kleinstädtische Jugend unter lauten Panikschreien um die nächste Ecke. Als ob Dagmar Berghoff plötzlich aus dem Nordmende-Fernseher gekrochen wäre, einen Baseballschläger in der Hand. Ich weiß gar nicht, ob die wiederkommen. Schade eigentlich.

Kolumne 9

20.2.2006

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Der Clan der Nichtsnutze

Wir sind ja hier nicht in Prenzlauer Berg: In unserem Haus wird sich nicht fortgepflanzt!

Sie lag mit allen vieren angeschnallt auf einem Holzbrett, den Kopf nach unten, bewusstlos. Er zog an seiner selbst gedrehten Zigarette, strich sich über den grauen Bart und griff seelenruhig zum Messer. Danach war es vorbei. Mit der Fruchtbarkeit. Schluss. Aus. Ruhe ist.

Großmutters ehemalige Therapiekatze Mitzi ist nun sterilisiert. Sterilisiert, wenn das die Großmutter wüsste! Es wäre ihr nur recht. Sie, Mutter von fünf Kindern, Großmutter zahlloser Enkel und Urenkel hatte schon immer ein Problem mit der Reproduktion: „Nur Ärger und Scherereien.“ Sie hatte ihre Kinder nach dem Krieg mit Brennesselsuppe durchgebracht, sie waren nun mal da, also musste man sich auch kümmern, so oder so ist das Leben, und für die Großmutter war es eben so gewesen. Später dann hatte sich die Mehrzahl ihrer Kinder geweigert, für die Kosten ihrer Beerdigung aufzukommen. Nur Ärger mit den Nichtsnutzen.

Der Landtierarzt war in Begleitung einer jungen Kleinfamilie mit just in die Welt geschossenem Akademikerkind gekommen. Während der brummig- gutmütige Doktor Mitzi die Eierstöcke entfernte, erfreute sich das junge Menschenpaar nebenan in der Küche bräsig-stolz an der Frucht ihrer Leiber. Meinem Freund wurde das alles zu viel, er ging in den Hinterhof, um mit irrem Blick Holz durch die Kreissäge zu jagen. Er wollte etwas Sinnvolles tun.

Unser Katze ist zu nichts nutze, sie kann nicht mal Mäuse fangen, Mitzi schaut stattdessen lieber Tatort. Jetzt kann sich nicht einmal mehr fortpflanzen, ihre entsprechenden Vorrichtungen liegen nämlich auf dem Komposthaufen. Evolutionär betrachtet ist Mitzi, genau wie mein Freund und ich, ein nutzloser Esser.

Wir werden der Kanzlerin niemals eine Akademikerkind schenken. Warum auch, hätte sie sich ja selbst drum kümmern können, und für die Rente kaufen wir uns ein Stückchen Ackerland in Brandenburg, auf dem man sich dann mit 68 in Ruhe zum Sterben hinlegen kann. Katzen gibt es auf der Welt auch genug, in China werden sie sogar aufgegessen, was ihnen dort wiederum einen hohen Nutzwert garantiert. Evolutionär betrachtet. Genau betrachtet sind wir jedoch, bitte schön, keine nutzlosen Esser.

Im Gegenteil. Neulich zum Beispiel gab es Nudeln mit einer polnischen Tomatensoße der Marke „Pudliszki“.

Mit dem Verzehr dieser „Sos Slodko-Kwasny“ haben wir die Existenz einer in Not geratenen polnischen Arbeiter-Kleinfamilie unterstützt. Ihr Arbeitgeber „Pudliszki“ kann derzeit keine Löhne zahlen, stattdessen dürfen sich die Angestellten aus dem Sortiment bedienen und die Produkte selbst verkaufen. Unser Vorratsschrank ist nun bis oben hin voll mit polnischer Tomatensoße, damit die kleine Maria aus Kostrin ihren Babybrei bekommt.

Man muss was tun, gerade wenn im Nachbarland der Kapitalismus entgleist. Adoptieren geht schließlich, der Union sei Dank, immer noch nicht.

Ja, als evolutionärer Rohrkrepierer muss man sich was einfallen lassen, wenn man seine Existenz in der neobürgerlich-utilitaristischen Welt rechtfertigen möchte. Wir haben uns überlegt, dass wir zum Beispiel zum Frühlingsanfang Blumen verschenken könnten oder kostenlos auf dem Alexanderplatz Schubert-Lieder singen. Ein gottgefälliges Werk!

Wie beruhigend, dass sich unlängst nun doch noch ein winziges evolutionäres Türchen geöffnet hat: Mein Bruder wurde stolzer Vater eines strammen Söhnleins. Wir werden den Kleinen nun freundlich anonkeln, Nepotismus nennt man das: den eigenen Gen-Pool quasi indirekt weitertragen, indem man sich für den Nachwuchs der Geschwister engagiert. Das, was der graubärtige Mann da rauchend in unserem Wohnzimmer gemacht hat, werden wir einfach diskret verschweigen.

Und hoffen, dass weder mein Bruder noch meine Schwägerin die Geschichte von den homosexuellen Flamingos im Zoo, die ihren Hetero-Artgenossen einfach die Eier aus dem Nest gestohlen haben, gelesen haben.

Kolumne 8

9.2.2006

Martin Reichert über LANDMÄNNER

Auf Gummireifen zum Gottesacker

Eine agnostische Beerdigung in Brandenburg ist gar nicht so schlecht: Jeder für sich und Gott für uns alle

Schon seltsam, wenn bei einer Beerdigung die Kirchentüren verschlossen bleiben und die Trauerfeierlichkeiten stattdessen in einer Art Carport vollzogen werden: der Leichenhalle des brandenburgischen Dorffriedhofs. Schon seltsam, wenn statt des Pfarrers ein Herr mit Gummisohlen und hoher, salbungsvoller Stimme die selbstgebastelte Predigt verliest und dafür rund 150 Euro Honorar in Rechnung stellt.

Die Menschen machen offensichtlich das Beste aus ihrer metaphysischen Obdachlosigkeit: Man behilft sich mit einem Ritual-Potpourri, flicht einen trostspendenden Tuberosen-Strauß aus Popmusik und Hollywood-Versatzstücken. Ein aus der Melodie des La-Boum-Klassikers „Reality“ von Richard Sanderson bestehender synthetischer Klangteppich, live von der Klarinette begleitet, fängt die Trauernden auf: „Dreams are my reality, the only kind of real fantasy.“ Bei eisiger Kälte gefrieren fast die Tränen, während der Milchlaster die Dorfstraße entlangscheppert. Mein Freund und ich vermeiden jeden Blickwechsel, weil alles so traurig und gleichzeitig absurd ist, man aber ganz bestimmt niemandes Gefühle verletzen möchte, indem man hysterisch lacht.

Jede Träne, die du weinst, weinst du um dich selbst? Man denkt an die Telefonrechnung, an die Handelsstrategie von General Motors, über die man irgendwann einmal etwas gelesen hat. Und früher oder später an die eigene Beerdigung. Wer wird kommen? Wer einen Kranz abwerfen? Sollte man einen Kollegen frühzeitig bitten, eine tragisch-komische Trauerrede zu schreiben? Und vor allem: Sollte man nicht auf jeden Fall zahlendes Mitglied der Kirche bleiben, alleine schon als Versicherungsschutz für eine anständig durchchoreografierte Beerdigung?

Die Trauergäste werden aufgefordert, ein Spalier zu bilden, der schwere Eichenholzsarg wird auf einem gummibereiften Wägelchen in Richtung Gottesacker gefahren, vorbei am verschlossenen Kirchenportal, dazu singt vom Band Frank Sinatra: „My way“.

Man blickt über weite Felder hinweg auf ehemalige LPG-Bauten und es scheint in diesem Moment, als hätte die SED den Kirchenkampf auf lange Sicht doch gewonnen. Bis auf die angereiste West-Verwandschaft mit Pelz und Turmfrisuren scheinen nur Atheisten anwesend zu sein. Wenn da nicht diese Atavismen wären: Der Sarg wird mit einem kleinen Zapfenstreich ins Erdreich befördert, und während die Pferde von der benachbarten Koppel neugierig herüberschauen, falten die Trauergäste ihre Hände. Und zwar nicht, weil sie nicht wissen, wohin mit ihnen. Am Grab schließlich wirft jeder drei Schaufeln Erde und Blumen in die Tiefe, ein trotz allem zutiefst christliches Ritual.

Es ist keine atheistische, sondern eine agnostische Beerdigung. Man weiß nicht so genau, ob es nicht doch ein höheres Wesen gibt oder gar einen Himmel. Vielleicht ist dieser Himmel sogar so wie diese Beerdigung. Alles Kraut und Rüben: Jungfrauen und Mundschenke, Erzengel und ein lieber Gott – vielleicht haben dort sogar Schwule einen Platz, auch wenn dies auf Erden anders propagiert wird und man sich dementsprechend genötigt sieht, auf der eigenen Beerdigung „Sympathy for the Devil“ laufen zu lassen.

Eigentlich eine symphatische Veranstaltung, so eine agnostische Patchwork-Beerdigung. Man hat theoretisch alles selbst in der Hand, und es ist auch nicht so schlimm, wenn man schwul ist oder aus Versehen einen knallroten Schal trägt. So wie mein Freund. Er und ich haben beschlossen, nicht nur für alle Fälle eine Patientenverfügung zu hinterlegen, sondern auch eine Beerdigungs-Choreografie. Ich bin zum Beispiel scharf auf die Eichenholztruhe, die im Wohnzimmer steht. Sieht exakt genauso aus wie der seit Jahrhunderten standardisierte Papstsarg. Eine ganz einfache Kiste ohne Schnickschnack. Fesch. Mein Freund hätte gerne ein Leichengewand aus Leinen und einen unbehandelten Bio-Fichtenholz-Sarg. Wenn ich zuerst stürbe, müsste er singen, ich umgekehrt die Trauerrede halten.

Einem gemeinsamen Freund ist nun unlängst der Nachbar weggestorben. Er hat sich wahrscheinlich um Weihnachten herum das Leben genommen und irgendwann roch es sehr streng im ganzen Haus. Der Mann hatte niemanden, der seinen Tod bemerkt hätte, ein sogenannter „Wendeverlierer“ mit Alkoholproblem. Wir wollen nun alle zur Sozialamt-Beerdigung, mit Kassettenrekorder unter dem Arm. „Bataillon d’Amour“ von Silly laufen lassen.

Kolumne 7

12.1.2006

Martin Reichert über LANDMÄNNER

Als Ackermann das silberne Auto stahl

Was tun, wenn der Chef der Deutschen Bank dem privaten Landglück im Weg steht? Stürzen, was sonst!

Das mit dem Josef Ackermann von der Deutschen Bank und dem erneut bevorstehenden Mannesmann-Verfahren kann ich erklären: mein Freund und ich stecken dahinter.

Ackermann von der Deutschen Bank steht nämlich unserem Glück im Weg. Wenn der Ackermann nicht wäre, hätten wir jetzt ein Auto: klein, alt, französisch und silbrig-metallisch schimmernd mit vielen elektrischen Helfern und einem besonderen Clou: einem Radio mit CD-Player inklusive einer ABBA-Gold-CD. Wenn man die Wegfahrsperre deaktiviert und den Zündschlüssel umdreht, dauert es ungefähr drei Sekunden, bis verlässlich „Dancing Queen“ erklingt. Ein feines Auto, es gehört meinen Eltern, die mit CD-Playern nicht viel am Hut haben und deshalb seit zehn Jahren nur eine einzige CD in dem kleinen Schlitz des Radios aufbewahren.

Wenn sie nicht einen Teil ihres sauer verdienten Geldes in den berüchtigten Deutsche-Bank-Immobilienfonds gesteckt hätten, der von Ackermann einfach mal so gesperrt wurde, hätten sie sich ein neues Auto gekauft und mir das alte vererbt. Mein Freund und ich hätten viele glückliche Tage vor uns gehabt, wären mit dem silbernen Auto zum Schiffshebewerk Niederfinow gefahren, um Milchkaffee zu trinken. Oder zum Baumarkt. Oder zu Großmutters Grab.

Stattdessen zeigt der Ackermann heimlich im Bad das Victory-Zeichen und singt dazu „The winner takes it all“. Schließlich sollte sein Ende 2006 auslaufender Vertrag bei der Deutschen Bank „informierten Kreisen zufolge“ noch einmal um fünf Jahre verlängert werden. So lange konnten wir beim besten Willen nicht warten, außerdem lautet die zweite Zeile des Songs: „The loser standing small“. Warte du nur ab, Ackermann.

Wir mussten handeln, ich weiß nämlich nicht, wie lange mein Freunde-Autoleih-System, das sich logistisch durchaus mit dem McKinsey-gestützten Leasing-Modell der Bundeswehr messen kann, noch funktioniert. Es nutzt zwar Synergie-Effekte und ist flexibel und kostengünstig, verwirrt aber im Gegenzug unsere bodenständigen Nachbarn in der brandenburgischen Ackerbürgerstadt. Ständig andere Autos mit obskuren Kennzeichen: Ein Fiat Cinquecento aus Mainz mit Mainzelmännchen auf dem Armaturenbrett („voll schwul“), ein staatstragend blauer Mercedes mit historisch wertvollem Autotelefon und Bonner Kennzeichen („Ich weiß genau, wo SIE herkommen, und Sie müssen nicht glauben, dass SIE sich hier vordrängeln können“), ein schrottreifer VW Golf aus Berlin mit taz-Aufkleber („Das ist dein Dienstwagen??“).

Fest steht, ob man es wahrhaben will oder nicht: Landleben ohne Auto ist nicht schön, denn geglücktes Landleben basiert im Wesentlichen auf dem Individualverkehr. Von ÖPNV weiß man dort nichts.

An Weihnachten hatten wir meine Eltern in Westdeutschland besucht und bei Ausflügen mit dem silbernen Auto laut „Money Money Money“ gesungen: „Must be funny in the rich man’s world“. Ackermann, wir kriegen dich! Die Revision ist erst mal durchgedrückt. Jetzt werden wir dich vor Gericht in Düsseldorf so was von auspacken. Als Nebenkläger alles mal klarstellen. Vor allem das mit den Heuschrecken und Großkopferten, die bräsig in die kleinsten Lebenseinheiten bzw. in das Leben der kleinen Leute hineinregieren und dabei Zigarre rauchen. Immobilienfonds schließen und das Ersparte von westdeutschen Rentnern blockieren und damit auch deren indirekte Aufbau-Ost-Subventionen für den Nachwuchs. Keine Kredite für ökosoziale, generationsübergreifende Wohnprojekte in Ostdeutschland rausrücken und stattdessen das Geld anderer Leute verbrennen.

Mein Freund und ich machen das jetzt mal genau umgekehrt. Wir werden in das Leben der Großkopferten hineinregieren und Ackermann sein persönliches „Waterloo“ beibringen. Und wenn wir schließlich gewonnen haben werden und das silberne kleine Auto mit OHV-Kennzeichen und der ABBA-CD vor der Tür steht, werden wir singen: „Thank you for the Music, Ackermann.“