Kolumne 175

18.1.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Schounefäld, Boarding Completed

Berlin, deine Flughäfen! Jeder für sich eine Legende: Der Nazi-Zentralflughafen Tempelhof, Nachkriegs-Nabelschnur, auf dessen Start- und Landebahn die Einheimischen nun Rollerblades fahren – neulich war Tag der offenen Tür und die ganze Stadt war auf den Beinen, um noch einmal durch die alte Abflughalle mit dem (Singular!) Gepäckband gehen zu können.

Dann der nicht vergehen wollende Flughafen Tegel, Tor zur Freiheit, von den einen (weit genug entfernten) Berlinern geliebt, von den anderen (anwohnenden) gehasst. Und natürlich „Willy Brandt“, der Geisterflughafen, der es nicht vermag, sich aus seinem Milliardenloch zu erheben, und nachts unheimlich im märkischen Sand vor sich hin leuchtet. THF, TXL, BER sind in aller Munde – und alle scheinen zu vergessen, dass es doch auch einen völlig unproblematischen Flughafen gibt. Mit S-Bahn-Anbindung.

SXF, Berlin-Schönefeld. Flughafen der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik und immer schon Weltniveau. Es ist zum Beispiel der einzige Flughafen der Welt, bei dem man, um in den Abflugbereich zu gelangen, durch eine Burger-King-Filiale gehen muss – und direkt im Anschluss durch einen Irish Pub. Und das ist auch gut und richtig so, denn hier verkehrt der wahre Berliner Jet-Set, der Easy-Jet-Set. Party-People aller Länder statt Lufthansa-Business-Class, und alle hier abfahrenden Busse enden in Neukölln.

Es gibt einen funktionierenden Brandschutz, in der Haupthalle kann man ihn sogar sehen und anfassen, Brandschutzschrottwände, die bei Bedarf heruntergefahren werden können. Immer ist Bewegung in SXF. Ungefähr dort, wo neulich eine Frittenbude abgebrannt ist, wurde nun ein kleiner Container für „Kamps“ errichtet – und gleich gegenüber gibt es eine riesige hölzerne Ski-Hütte, in der man bayerische Spezialitäten ordern kann, Germany ist Germany.

Überhaupt ist er schön, der Flughafen. Das Hauptgebäude mit seiner goldrot schimmernden Sonnenbrillenverglasung, wie sie auch schon den Palast der Republik (weg) und das Palasthotel (auch weg) zierte, macht Lust auf Belgrad. Und dann erst, wie schon angedeutet, die vielen Container und Anbauten: Nur böse Zungen würden angesichts all des Wellblechs von einer High-Tech-Favela sprechen, Luftfahrtkenner hingegen zischen anerkennend: „Hugo Junkers!“ Wenn auch tatsächlich eher Flugzeuge von Henschel an diesem Standort produziert wurden, am Stabsgebäude des alten Flugzeugwerks rollt man heute vorbei in Richtung Startbahn.

Von SXF aus hat man auch einen guten Blick auf den zukünftigen BER, ist ja gleich nebenan. Aber ob es dort je so schön werden kann wie in SXF? Wird es „Rollbrot“ geben von Marché? Kaffeespezialitäten, die teurer sind als ein Flug nach London? Der einzige Trost ist, dass sie an den neuen, so hört man, auch Container anbauen wollen, weil die Kapazität nicht ausreicht. Juhu!

Kolumne 174

28.12.2017

Martin Reichert Herbstzeitlos

Weihnacht in Neukölln

Dieses Jahr haben wir den Vogel abgeschossen mit unserer Balkan-Bling-Bling-Lichterkette am Balkon, die mein Lebensgefährte aus Slowenien mitgebracht hatte. Es sind blaue LED-­Lichter, die man verschieden einstellen kann. Es gibt zum Beispiel eine heftig pulsierende Turbofolk­version, aber die erschien mir zu riskant, der potenziellen epileptischen Anfälle wegen. Die sanft wallende Adriaschaltung reicht völlig, um die Nachbarn in den Wahnsinn zu treiben – früher, vor der Gentrifizierung, hätte man uns dafür nicht mal belächelt. Unser blaues Bling-Bling wäre einfach von nikotingelben Vorhängen geschluckt worden; doch heute sind da keine Vorhänge mehr, stattdessen hat man glatten Durchblick auf meterhohe Bücherregale und moderne Kunst. „Guck mal, die haben auch alle blaue Lichterketten“, meinte mein Lover noch – aber es war bloß die unsere, die sich in den Fenstern spiegelte.

Andererseits: Welche Nachbarn eigentlich? An Weihnachten sind die Neuberliner ja alle in ihren Heimatdörfern und Kleinstädten, alles sehr gut auf Facebook dokumentiert. Ein kurzer Kontrollblick auf das Treiben der Neuen Rechten in den sozialen Medien ergibt den Befund: Feiertagsmodus auch hier, also bloß routinemäßige Hetze gegen den Islam, kein besonderer Untergang des Abendlandes steht an. Originell nur: In einem Thread beschwert sich ein ansonsten fröhlich alles und jeden mithassender Landwirt über die pejorative Verwendung des Begriffs „Bauer“ in gesellschaftlichen Zusammenhängen.

Stille Nacht also, heilige Nacht sogar, und das in Berlin. In Neukölln und Wedding ist nur Leben noch, weil die Araber ihre Restaurants offen halten und die Türken die Spätis. Im Stadtteil Prenzlauer Berg hingegen herrscht Totalverdunkelung, als sei Weihnacht 44.

Und noch ein Lichtlein brennt, und zwar im lokalen Stadtbad, das auch am ersten Weihnachtsfeiertag geöffnet hat für die Mühseligen, Dagebliebenen und mit Gänsebraten Beladenen. Schon am Eingang geschieht Unglaubliches: Die Kassiererin und stolze Angestellte der Berliner Bäderbetriebe wünscht tatsächlich auch noch „viel Spaß“, nachdem sie, es ist ja Weihnachten, auf den „Warmbadezuschlag“ verzichtet hat. Drinnen ist das Becken, auch unglaublich, fast leer. Eine weihnachtlich anmutende Szene spielt sich ab: Vater und Tochter lernen zugleich schwimmen. Während die Mutter die mit Schwimmflügeln bepackte Tochter durch das Wasser zieht, balanciert der Schwiegervater seinen Nichtschimmer-Schwiegersohn auf seinen Armen, damit dieser die Bewegungen üben kann. Es klappt schon ganz gut – und auch wenn seine Tochter schneller sein wird, eines Tages werden sie gemeinsam schwimmen gehen können.

Später sind wir hungrig und müde. Bei McDonald’s am Hermannplatz wühlt ein Mann nach Essensresten. Ein anderer Mann, der auch nicht aussieht, als ob er Geld hätte, kauft ihm einen Cheeseburger. Der Verkäufer hinter dem Tresen trägt eine rote Nikolausmütze.

Kolumne 173

7.12.2017

Martin Reichert Herbstzeitlos

Stille Momente in Rom­­­, an einem sonnigen Wintertag

Ganz in der Früh an einem Dezembertag in Rom. Nach einer Vollmondnacht, in der nur von fern Verkehr rauschte, ist der Himmel eisig blau, und die Sonne bescheint warm klassizistische Gebäude, deren helle Fassaden das Licht so stark reflektieren, dass man eine Sonnenbrille tragen darf. Sogar in der Metro setzt mancher sie nicht ab, wohl um vergessen zu machen, wie zugig es dort unten in den Katakomben ist und dass Daunenjacken getragen werden in grellen Farben und Mäntel und Schals.

Ein mittelalter Mann hat den Bürgersteig auf der Brücke gefegt, mit einem einfachen Haushaltsbesen. Laubhaufen, mit Plastikmüll durchsetzt, häufen sich eindrucksvoll an den Rändern. Für seine Arbeit ist der Mann nicht von der Stadt bezahlt worden, er will eine Spende haben dafür, dass er sich um den öffentlichen Raum bemüht. Man sieht einige Münzen, auch silberne, in der Pappbox, die er aufgestellt hat.

Eng gedrängt stehen die Menschen in der Metro, Linie A, in Richtung Stadtzentrum. Sie sprechen laut, sie drängen und schubsen, schniefen, schnauben und husten. Die Stationen werden laut plärrend angesagt von einem Mann, der wohl aus Blech ist, sich aber trotzdem recht vital und sonor anhört, es muss an der Sprache liegen, „Ponte Lungo“ knarzt es aus dem Lautsprecher.

Die Touristen sind noch nicht auf den Beinen, und wenn doch, dann stehen sie am Frühstücksbuffet des Hotels. Am Trevi-Brunnen stehen zwei Polizisten Wache und haben ein Auge auf ein einziges Paar, das sich mithilfe einer Selfiestange ablichtet, ältere Damen auf Scootern ziehen knatternd vorbei. Selbst das Pantheon ist noch fast verlassen, eine Frau im Kostüm begrüßt die wenigen Besucher, missbilligende Blicke auf unpassende Kleidung werfend, „Please dont write your name on the walls“ steht drinnen auf einem Schild, einer aber steht ganz groß geschrieben, „Vittorio Emanuele II.“. Die Sonne wirft einen leuchtenden Fleck auf die Innenseite der riesigen Kuppel, es ist angesichts des Zeitgeschehens fast beruhigend, dass dieses Gebäude hier so gut erhalten steht, mag auch das Römische Reich lange untergegangen sein – noch immer sind Menschen hier und leben und lieben.

In einem kleinen Laden gibt es Espresso macchiato und mit Schinken und Mozzarella belegte Croissants oder solche mit Crema oder Schokolade gefüllt. Der Kellner sieht aus, als wäre er einem spätmittelalterlichen Gemälde entsprungen, ein Gesicht, so ewig wie die Stadt, aber das Lächeln ganz im Jetzt. Im Stehen nimmt eine korpulente Blonde ihr süßes Gebäck und ihren Kaffee zu sich, auf Italienisch sagt sie zu der Frau hinter dem Tresen: „Wie still es hier gerade ist, so schön. Aber ungewöhnlich.“ Nur die Kaffeemaschine knackt.

Doch schon geht die Tür auf, eine Gruppe junger Männer drängt herein, es ist Zeit für einen Espresso und Dolce und überhaupt, „Ciao, bello!“. Es ist ein Gedränge und Geschiebe und noch mehr Menschen kommen herein, junge Frauen, und die Kaffeemaschine zischt nun und sprotzt, und es wird sehr laut gesprochen und gelacht, und die Menschen sind schön. Alles andere wäre, seien wir ehrlich, eine furchtbare Enttäuschung gewesen.

Kolumne 172

16.11.2017

Martin Reichert Herbstzeitlos

Über Berge mitten ins Leben, mit Mutter und rosa Taschentüchern

Na, hast wohl nichts erlebt?“, fragte gerade der junge Kollege kess, kurz über dreißig und schon mittlere Führungsebene, mit einem Beamtenanwärter zusammen. Bausparer!

Bloß weil man mal kurz darüber nachgrübelt, was man denn dieses Mal Schönes aufschreiben könnte. In meiner Karstadt-Filiale wurde zum Beispiel gerade die Lampenabteilung entrümpelt, und das, was sie an Unglaublichem gefunden haben, verhökern sie jetzt auf Extratischen als „Schnäppchen“.

Man müsste wohl Kunsthistoriker sein, um angemessen beschreiben zu können, was dort an LED-Deckenleuchten und bizarr gebogenen Mehrfachstrahlern zu sehen ist; stattdessen starre ich immer nur fassungslos auf das Angebotene und frage mich, ob so etwas in zwanzig, dreißig Jahren irgendwo ironisch gemeint in die Decken von angesagten Lokalen gedübelt wird.

Was gut zu einem Etablissement namens „Monarch“ in Berlin überleitet, in dem Siebziger- und Achtzigerjahre-Beleuchtungen in den Sichtbeton gedübelt wurden – und zu einem Thema, über das ich leider auch nicht fachkundig schreiben kann, Musik nämlich.

Die Berliner Formation „Mutter“ ist dort aufgetreten, und ich bin hin mit meiner Ex-Mitbewohnerin, und zwar so wie damals in den Neunzigern in irgendeiner Abbruchhaus-Lokalität, an deren genauen Standort wir uns leider überhaupt nicht mehr erinnern können. Das seinerzeit aktuelle Album hieß jedenfalls „Hauptsache, Musik“, und bevor ich noch denken konnte, dass Ü40-Leute hier aber ganz schön überrepräsentiert sind und man dieses Zusammenkommen auch schon mal als Vorbereitungstreffen für spätere Rolling-Stones-Konzerte begreifen könnte, legten sie schon los, und es war so laut, dass ich gar nichts verstehen konnte. Außer, dass dieses eine Lied, ich glaube, das zweite war es, den aktuellen Zustand der Welt in ihrem Wahn sehr gut beschrieben hat. Einfach volle Pulle und laut und immer mehr und dazwischen Rückkopplungspfeifen; also etwa so wie Trump in Asien. Es war jedenfalls toll, auch wenn in meinen Ohren rosa Papiertaschentücher steckten, die ich in Luxemburg aus Langeweile gekauft hatte, aus Lärmschutzgründen.

So viel anderes kann man auch gar nicht machen in Luxemburg außer einkaufen, und wer kein Geld hat, muss halt Taschentücher kaufen im „Copal“-Markt in Wasserbillig, so heißt der Ort an der deutsch-luxemburgischen Grenze tatsächlich.

Gereist bin ich ja auch noch, Herr Kollege, wenn auch nur in die alte Heimat. An der Mosel waren die Weintrauben schon abgeerntet, aber die Blätter waren noch dran und leuchteten golden in der Herbstsonne. Meine Mutter erfreute sich daran, als wir einen Ausflug machten mit dem Auto, die Berge rauf und Berge runter.

Mein Vater aber wollte nicht mit, „habe ich doch alles schon gesehen“ sagte er. Er ist über achtzig Jahre alt.

Und das, dieses Nichterlebenwollen, das hat mich traurig gemacht.

Kolumne 171

26.10.2017

Martin Reichert Herbstzeitlos

Eine Weltreise durch die Stadt – aber ohne Papiere

Können Sie sich ausweisen? Ich konnte immer gerade so: der alte Personalausweis schon lange abgelaufen, der Reisepass zwar gültig, aber fast auseinanderfallend. Mag sein, dass er fälschungssicher ist, Feuchtigkeit verträgt er nicht gut. Nun also alles neu, nicht so einfach in der Hauptstadt. Auch wenn das Redaktionsgebäude der taz sich fast in Nachbarschaft der Bundesdruckerei befindet, man kann da nicht einfach klingeln und fragen: „Könnense ma?“ Stattdessen muss man online einen Termin buchen – und, hey, schon zwei Wochen später einen Termin bekommen im Bürgeramt Lichtenberg, „Am Tierpark“.

Nun galt es also, zu reisen. Zunächst an das Kottbusser Tor in Kreuzberg, zum Fotofachgeschäft, das auch biometrische Passfotos anbietet. Der Laden öffnet um 9.30 Uhr, nebenan gibt es „Street Coffee“ in einer Bude. Man sitzt auf den Stühlen des Dönerrestaurants, hinter dessen Schaufenster gerade der frische, rosa glänzende Fleischspieß in Rotation gebracht wird. Mediterrane Männer rauchen, die Kippe mit der Glut drehen sie nach innen, sodass die Handflächen das kleine Feuer vor dem Wind schützen. Schließlich kommt der Fotofachmann. Er sagt: „Nicht die Zähne zeigen, das ist nicht erlaubt beim Personalausweis.“ Fünf Euro für vier Abzüge, sauber ausgestanzt. Auf dem Weg zur U-Bahn fegen junge Männer die Straße vor den Geschäften und Restaurants, es riecht nach frischem Fleisch und kaltem Tabak, nach Urin und Gemüse. Wie in Paris, vielleicht in Belleville, wenn Markt ist. Die Touristen schlafen noch. Die polnischen Obdachlosen sind wach und trinken Kaffee.

Mit der U-Bahn geht es weiter. Tierpark, das ist tiefster Osten. Als die U5 am Alex anfährt, kippt eine alte Frau einfach um, sie konnte sich nicht halten. Junge Männer springen herbei und richten sie auf. Besorgte Blicke, aber kein Aufhebens, sozialistische Menschengemeinschaft. Am Tierpark, vor dem Bürgeramt, ist Markt. Es gibt einen Stand, an dem ausschließlich Kartoffeln angeboten werden. Ein alter Mann hat eine Orgel aufgebaut und spielt Schlager, eine alte Frau nähert sich: „Sindse mal wieder da? Is ja so schön, die Musik. Hamse nich mal ne CD?“ Sie geht nicht wieder weg, er muss ohnehin sitzen bleiben, der Orgel wegen. Beide müssen an die achtzig sein.

Wind pfeift herab von den Plattenbauten, doch die Sonne scheint. An der „Gulaschkanone“ gibt es nur noch Erbsensuppe, Gulasch „ist aus“. Die Leute stehen Schlange, „fünfmal zum Mitnehmen, sagt die Frau im grauen Mantel, die hinter ihr stehende beschwert sich: „Die sitzen da an den Tischen mit der Bockwurst vom Stand nebenan, ditt is so aber nich gedacht.“

Das Bürgeramt liegt in einem Einkaufszentrum. Im Warteraum sitzen noch mehr Leute, die von der Berliner Behördenlotterie hierhergespült wurden. An der Wand hängt ein Flachbildschirm, leuchtet Nummern in den kahlen Raum, „Nr. 125777 Platz 13“, pünktlich. „Den Finger bitte einmal in das kleine Gerät legen“ sagt die junge Frau freundlich. Jetzt haben sie nicht nur meine „biometrischen Daten“, sondern sogar meine Fingerabdrücke.

Aber was für eine Weltreise innerhalb einer Stadt. Und das alles ohne Papiere.

Kolumne 170

5.10.2017

Martin Reichert Herbstzeitlos

Vier Hochzeiten, kein Todesfall. Schwule vor dem Altar

Jedes Mal, wenn es um die Öffnung der Ehe für Homosexuelle ging in den letzten Jahren – gefühlt waren es Jahrzehnte –, habe ich den gleichen Spruch gebracht: Die reden immer noch über die Öffnung der Ehe, während ich schon längst wieder geschieden bin. Ha, ha! Dabei war ich nur „eingetragen lebensverpartnert“, aber viel Glück hatte ich in meinem Leben bislang nicht mit der Ehe, wenn man davon absieht, dass mein Steuerberater den Ehrgeiz hatte, einiges für mich herauszuholen dank des Ehegattensplittings. Wobei „einiges“ in meinem Fall auch schon wieder unter „Ha, ha!“ fällt.

Hochzeiten. Bei der Heirat meines ersten Bruders war ich pubertierend und es war kein Spaß für alle Beteiligten; es gab Buttercremetorte und ich fragte mich, was es bei meiner Hochzeit mal zu essen geben würde.

Bei der Heirat meines zweiten Bruders forderte die Standesbeamtin ein, dass auch ja die ehelichen Pflichten vollzogen werden müssten. Was sie damals dazu bewogen hat, weiß ich nicht. Hatte sie aufgrund des Migrationshintergrundes meiner Schwägerin Bedenken, dass es sich um eine Scheinehe handeln könnte? Wahrscheinlich war es genau so. Die Standesbeamtin, so erzählte mir meine Mutter, ist heute bei der AfD. Zu essen gab es, glaube ich, Spanferkel – und mir dämmerte, dass es bei mir womöglich gar keine Hochzeit geben könnte.

Das kam dann anders, hieß aber ja auch anders. Die „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ ging ich in einem ehemaligen Neuköllner Krankenhaus ein, in der Krankenhauskapelle, die zum Trauzimmer umgewidmet worden war. Keine Ahnung, was die Standesbeamtin heute wählt, aber sie sah original aus wie Evelyn Hamann. Wir hatten die „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ ohne Musikbegleitung gebucht, denn die hätte 20 Euro extra gekostet. Aus heutiger Sicht wäre es natürlich interessant zu wissen, welche Hits Evelyn mit Hilfe des alten Technics-Stereoturms für uns abgefeuert hätte.

Ich weiß nicht mehr, was es zu essen gab. Aber wir hatten Champagner im Garten getrunken, zusammen mit Freunden. Es gab eine weiße Tisch­decke, womöglich war Spätsommer. Wir hatten „geheiratet“, weil wir es konnten – auch wenn uns von der Union ganz bewusst eine tatsächliche Gleichberechtigung vorenthalten worden war. In unserem Freundes- und Bekanntenkreise waren wir die Einzigen, die eine solche Partnerschaft eingegangen waren. Warum sollte man sich mehr Pflichten als Rechte aufladen?

Das nächste Mal getanzt auf einer Hochzeit habe ich dann, nachdem unsere Ehe am Ende war. Meine Cousine hatte auf einer Burg hoch oben über dem Rhein gefeiert und ich tanzte den ganzen Abend mit mir alleine. Um Mitternacht gab es ein Feuerwerk, und auch danach tanzte ich weiter.

Auch die Scheidung hatten wir dann ohne Musikprogramm gebucht – aber war das dann eigentlich eine richtige Scheidung oder doch bloß eine „ausgetragene Lebenspartnerschaft?“.

Jetzt also „Ehe für alle“, auch für mich und meine neue Liebe. Wenn wir wollten. Wir können auch nicht wollen. Und genau das ist der Unterschied.

Kolumne 169

24.8.2017

Martin Reichert Herbstzeitlos

Die totale Verfinsterung

AUF DEM WEG IN DEN URLAUB SENDET MEIN AUTO HYSTERISCHE BOTSCHAFTEN. TOTAL ECLIPSE – NICHT NUR AM HIMMEL

Once upon a time I was falling in love now Im only falling apart“. Kennen Sie? Aus der Karaokebar? Oder aus dem Dudelfunk? Bonnie Tyler, UK-Rockröhre mit Reibeisenstimme, „Total Eclipse of the Heart“, irgendwie gut durchgeknallter Welthit aus dem Jahr 1983. Der Inhalt: Nicht weiter begründeter Verlustschmerz, auch der zugehörige, eher somnambule Videoclip gibt wenig Aufschluss.

Ein Hit also, der zu jedem Anlass passt. Und wie die Faust aufs Auge zur Sonnenfinsternis am vergangenen Montag. Zur Total Solar Eclipse also. Musikredakteure drehten also global durch, die Dame Tyler (66) kam in die Heavy Rotation. Spotify vermeldete Rekordzugriffe, in den USA, dem Hauptland der Finsternis, erklomm das Lied erneut die Charts. Die Sängerin selbst hatte einen gut bezahlten Liveauftritt auf einem Royal-Carribean-Kreuzfahrtschiff, „I know theres nothing better, theres nothing I just wouldn’t do“.

Ausgerechnet am Montag nun waren der Lebensgefährte und ich unterwegs mit dem Auto in Richtung Süden, in Richtung Golf von Trieste, der Sonne entgegen. Doch ob in Brandenburg, Sachsen-Anhalt oder Thüringen, die Dame Tyler besang die totale Verfinsterung. Die Dudelfunksprecher sekundierten mit allerlei Infos. In Oberfranken schließlich berichtete mein Lebensgefährte, dass sogar sein Heilpraktiker ihm gesagt habe, dass dieser Tag große Ereignisse mit sich bringen werde. Prompt reagiert das sensible Gefährt in Höhe Hof: Lampen leuchteten, das Display kommunizierte allerlei hysterische Botschaften. Röcheln, ruckeln, aus. Total Eclipse. Anrufen, Abschleppen, Abwarten.

Auf das Ende der Welt warteten wir nun in einem „Bistro“, das sich im Foyer eines Baumarkts befand. Es gab Schnitzel mit Pommes, beides aus der Fritteuse. An der Salatbar rohes Rotkraut und blassgrüne Dosenoliven in dunklem Gewässer. Der Geruch von Chlor. Müde Menschen schleppten sich durch das Foyer, Sonderangebote begutachtend. Solargartenleuchten, Froschskulpturen. Dunkelbayern. Finsterfranken. Aus den Lautsprechern Bonnie Tyler, „Every now and then I fall apart“. Nach drei Stunden im Baumarkt der Gedanke: Wenn jetzt die Welt unterginge, es wäre nicht schade um sie.

Weiterfahrt nach Kraftstofffilterwechsel. Bayern 3, „Turn around, bright eyes“. Nach 200 Kilometern: Röcheln, Ruckeln, Aus. Total Eclipse. Werkstätten schon zu. Warten in einer Tankstelle am Chiemsee. Eine Stunde, zwei Stunden. Ein Gast am Nebentisch erzählt, dass er schon seit zwanzig Jahren keinen Sex mehr hat mit seiner Frau, oder waren es dreißig? In den sozialen Medien heißt es, der Präsident der Vereinigten Staaten habe ohne Sonnenbrille in die total verfinsterte Sonne geblickt. Drei Stunden. Bonnie Tyler singt „Every now and then I fall apart“. Vier Stunden. Fünf Stunden.

Ein Abschleppwagen ist aus Ljubljana gekommen. Der junge Fahrer lädt das Auto huckepack. Er wird uns über die Alpen fahren und die Versicherung zahlt. Hinter den Alpen wird die Sonne scheinen. Es wird warm sein, heiß sogar. Im Radio läuft alles andere, Turbofolk, aber nicht mehr Bonnie Tyler.

Kolumne 168

13.7.2017

Martin Reichert Herbstzeitlos

Das brandenburgische Konzert

WENN DU DER KULTUR WEGEN NACH RHEINSBERG EILST, DANN NIEMALS OHNE ANSPRUCHSVOLLE PLASTIKTÜTE

Brandenburg. In bestimmten gesellschaftlichen Kreisen muss man ja nur den Namen dieses schönen Bundeslands aussprechen, und schon geht das Gekicher los. Aber wenigstens lachen die Leute nun dank Rainald Grebe anstatt nur, wie noch in den Neunzigern üblich, ängstlich mit den Zähnen zu klappern wegen der vielen Nazis, die angeblich hinter jedem Alleenbaum lauern.

Es gab Zeiten, in denen Brandenburg meine zweite Wahlheimat war, der Liebe wegen – und neulich war ich mal wieder da, nach dem Rechten schauen: In Rheinsberg, beim Opernkonzert. Rheinsberg! Das klingt. Friedrichs schönste Jahre, Hans Hermann von Katte, Kunst. Tucholsky ohnehin.

Erinnerungen wurden wach an diesem schwülwarmem Sommerabend mit all den aufgeputzten Brandenburgern und Brandenburgerinnen und ihren Plastiküten. Plastiktüten? Auf dem kiesbelegten Vorplatz des Schlosses promenierte die in Bussen herbeigekarrte Brandenburger Gesellschaft und auch vereinzelte „Buletten“, wie Berliner im Umland gern genannt werden. Ob ältere Damen in Gewändern oder Herren in Leinenhosen, allenthalben trug man zum ausgesuchten Outfit Plastiktüte. Besonders häufig gesehen wurde eine Modell der Firma Edeka, aber auch Blume 2000 und (extra zu zahlende und keineswegs kostenlos gereichte) Karstadt-Modelle wurden gesichtet.

Nur eine Dame, deren Gesamtausstaffierung an die ehemalige slowenische Ministerpräsidentin Alenka Bratušek gemahnte, trug – dem feierlichen Anlass angemessen – eine Tüte des Schokoladenherstellers Lindt in der rechten Hand, die mit goldenem Aufdruck auf blauem Grund ganz hübsch mit der Chanel-Handtasche zur Rechten korrespondierte. Sollte sich die ostdeutsche Sitte, Markenplastiktüten aus dem Westen zu sammeln und gegebenenfalls aufzubügeln ausgerechnet beim Opernfestival in Rheinsberg konserviert haben – womöglich als ein Art kultureller Trotzbehauptung?

Peinlich berührt erinnerte ich mich jener Szenen die sich in den neunziger Jahren in meiner ersten Ostberliner Mietskaserne in Prenzlauer Berg zugetragen hatten und in denen ich mich zum Gespött der ganzen Nachbarschaft gemacht hatte: Ich, der Wessi, hatte meine Kohlen aus dem Keller mit Benetton-Tüten in den vierten Stock geschleppt.

Die Irritation legte sich schließlich während des Konzerts im wunderbaren Innenhof des Schlosses. Junge Stimmen aus der ganzen Welt konkurrierten mit den hohen Tonlagen der Schwalben, die unter den Dachfirsten ihre Nester gebaut hatten. Auf dem hinter dem brandenburgischen Staatsorchester gut sichtbaren Grienericksee quakten die Enten, während vorn Mozart mit des Tenors Inbrunst vorgetragen wurde. Und wirklich nur ganz selten raschelte die ein oder andere Tüte in den Reihen des ansonsten höchstens diskret hüstelnden, kultivierten Publikums, das hier zum „Event“ sich versammelt hatte.

Erst im Hinausgehen fand ich heraus, was es mit den Tüten auf sich hatte. Beziehungsweise, was sie in sich trugen: Sitzkissen.

 

Kolumne 167

1.6.2017

Martin Reichert Herbstzeitlos

Auf die Pflanze gekommen

ERST KOMMEN ALLE AUF KINDER, UND DER REST KOMMT DANN AUF DEN HUND. ICH BIN DAVONGEKOMMEN

Auf dem kleinen Balkon in Berlin-Neukölln versammeln sich, von links nach rechts durchgezählt, folgende Gewächse: ein übrig gebliebener Weihnachtsstern vom letzten Jahr, drei Rosenbüsche, eine pink blühende Begonie, wilder Majoran aus Rehberge, eine weiße Buschrose, eine Sonnenblume, Lavendel, Rosmarin und – rankbereit in der Nähe des Regenabwasserrohrs untergebracht – die „Schwarz­äugige Susanna“, die ich bei einem Tag der offenen Tür einer Gartenlehrwerkstatt für psychisch Kranke erworben habe.

Vor ungefähr fünf Jahren, nach einer Trennung, ging es mir auch nicht besonders gut. Die Pflanzkästen auf dem Balkon dienten ausschließlich als Aschenbecher. Das ging so lange, bis es eines Tages zu einem Aufsehen erregenden Torfbrand kam und ein guter Freund mit einem ausgeglicheneren Verhältnis zur Welt sich meiner annahm: An seinem freien Tag kam er angebraust, den Kofferraum voller Pflanzen, Pflanz­erde sowie einer Flasche Champagner. Rauchend und Champagner in mich hinein kippend sah ich dabei zu, wie er Erika und ein silbrig schimmerndes Gewächs nebeneinander in die dunkle Erde fügte. Völlig unfähig, selbst Hand anzulegen. Das Gewächs war farblich harmonisch und pflegeleicht angelegt, also sogar für mich gut zu handhaben.

Die Bepflanzung war therapeutisch gemeint, und ich konnte das sogar „gut annehmen“. Heißt, ich goss die in straffer Ordnung stehenden Pflanzen auf dem Balkon tatsächlich regelmäßig und unterließ es von nun an, meine Zigaretten dort auszudrücken.

Einen ganzen Sommer lang passte ich gut auf. Dann kam der Winter, und als er vorbei war, war wieder Wüste auf dem Balkon, und das blieb auch noch eine ganze Weile so. Es wurde wieder geraucht, geascht und ausgedrückt.

Heute ist das Rauchen eingestellt, und in den Kästen blüht es kunterbunt und durcheinander. Kommt eine Laus, wird ihr mit Hilfe ökologischer Kampfstoffe der Garaus gemacht, und es ist immer genug Wasser für alle da. Es gibt einen Plaste-Flamingo mit Propeller, eine grüne Gießkanne und eine Rosenschere. Die Schwarzäugige Susanna wird bezupft und gestreichelt, der Lavendel beschnuppert und die Rosen bewundert.

Während in meinem Ü40-Freundeskreis immer mehr Menschen verzweifelt auf den Hund kommen – also zumindest jene, die nicht schon auf Kinder gekommen sind –, renne ich mit der Ikea-Gießkanne herum und zupfe Blättchen. Ich bin auf die Pflanze gekommen!

Gut nur, dass es in meinem Leben nicht nur die Schwarz­äugige Susanna gibt, sondern auch noch meinen Boyfriend, der beim Gießen, Bezupfen, Streicheln, Beschnuppern und Bewundern tatkräftig hilft. Sonst müsste man sich wo­möglich doch wieder Sorgen machen um mein seelisches Befinden.

Kein Tabakaqualm mehr und keine Depression. Die Hummeln und die Bienchen summen, der Flamigopropeller rattert. Das Paradies ist tatsächlich gleich nebenan, und es gibt immer was zu tun – doch leider, so fand ich just heraus, sind die alten Pflanzkästen allesamt aus Asbest. Und jetzt?

 

Kolumne 166

11.5.2017

Martin Reichert Herbstzeitlos

Boarding Completed und Ready for Take Off

ZU BESUCH IN EINEM BERLINER SCHREBERGARTEN MIT GUTER VERKEHRSANBINDUNG

Die einen nennen es Urban Gardening, die anderen Schrebergarten. Eine Kollegin nennt ihr Stück kleines Glück inmitten der Großstadt schlicht „Garten“ und hatte neulich zu einem Besuch in selbigem eingeladen. Mit ihrer Lebensgefährtin betreut sie seit Jahren die grüne Parzelle im Herzen Berlins, und ...

16.00 Uhr. STUTTGART. AB 655.

... ich wundere mich, dass die beiden noch nicht verhaftet wurden.

16.04 UHR. TALLIN. BET 202.

Nicht etwa weil die beiden gleichgeschlechtlich Liebende sind und die Gewalt gegen Homosexuelle allgemein zunimmt, sondern weil die beiden ganz offensichtlich aus der Reihe tanzen mit ihrem Bepflanzungskonzept.

16.05 Uhr. München LH 2041.

Während die Kollegin in der kleinen, zum Garten gehörigen Hütte einen Espresso braut, schweift der Blick auf Nachbars Garten zur Linken: Messerscharfe Rasenkanten und verkrüppelte, da zu Tode beschnittene Obstbäume. Eine Carporttrennwand wurde installiert, um den Pollenflug von rechts abzuwehren. Und auf der Terrasse stapeln sich die neuesten Gadgets aus dem nahe gelegenen Baumarkt.

16.10 Uhr. BERN. SX 211.

Als der Blick zum Nachbarn auf der Rechten schweift: Symetrisch angeordnete Waschbetonplatten, militärisch straff organisierte Zierrabatten und Koniferen in preußischer Hab­achtstellung. Ganz anders bei der geschätzten Kollegin und ihrer Frau: Hier explodiert die Streuobstwiese und die Waschbären tanzen Tango. Hier summen die Bienchen um den wilden Majoran ...

16.15. HELSINKI. AB 8076.

…und der rotädrige Sauerampfer feiert fröhliche Urstände. Die Natur, so scheint es, ist hier völlig außer Kontrolle geraten. Und das ...

16.25 UHR. BASTIA. 4 U 8432.

... kann ja wohl nicht im Sinne des Erfinders sein: Schließlich folgt die Handhabung der Natur in einem deutschen Schrebergarten deutschen Gesetzen. Unkraut ist Unkraut und keine Leitkultur ...

16.35 UHR. DÜSSELDORF. EW 9043.

... und wer Gegenteiliges behauptet ...

16.40 UHR. PARIS CDG. AB 8296.

... gefährdet den Gartenfrieden. In deutschen Schrebergärten nämlich ist das Verhältnis von Nutz- und Zierpflanzen streng geregelt. Hier allerdings ...

16.45 UHR. LONDON LHR. BA 985

... herrscht die reinste Anarchie. Sicherlich aus Gründen allgemeinem Widerstands gegen die Staatsgewalt?

16.45 UHR. FRANKFURT. LH 195

„Ach nein“, winkt die Kollegin ab und schenkt den Espresso ein, „wir sind nur von dem Fluglärm so zermürbt, dass wir es einfach ...

16.50 UHR. MÜNCHEN. LH 2043.

... nicht mehr schaffen ...

16.50 UHR. LONDON CITY AIRPORT. BA 8494.

... herzukommen“.

Krass, wenn der Schrebergarten in der Abflugschneise des Flughafens Tegel liegt.

17.00 UHR. STOCKHOLM ARN. AB 8006.

Da kann man auf Dauer zur Terroristin werden. Besonders, weil der Lärm die Nachbarn links und rechts gar nicht zu stören scheint.