Kolumne 182

16.8.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Noch ein allerletztes MalKolumne Schreiben 

Zum letzten Mal draußen im Garten sitzen, schon mit einer Decke auf dem Schoß, und Kaffee trinken und Kuchen mit Streuseln essen, während oben im kühl-stahlblauen Himmel die Kraniche singen, Nachzügler schon auf dem Weg in den Süden.

Noch ein letztes Bier bestellen, wenn alle schon lange gegangen sind, und draußen vor dem großen Fenster wird es morgengrau in der großen Stadt und Menschen mit ebensolchen Gesichtern hetzen zur Bahn. Und dann noch ein letztes Lied, „Sometimes it snows in April“.

Noch ein letztes Mal durch die alte Wohnung gehen, bevor der Schlüssel an den Vermieter zurückgeht. Noch ein letztes Mal auf dem alten Küchenstuhl mit der abgeblätterten grünen Farbe sitzen, der morgen früh auf der Straße verregnen wird. Den weißen Fleck auf der Wand im Schlafzimmer betrachten, den eben noch das Foto zweier Liebender von einst bedeckte.

Noch einmal im Kreis fahren mit dem „Polyp“-Karussell auf der Kirmes in der alten Heimat, „letzte Fahrt für heute“, ruft jemand aufgekratzt und zugleich ermüdet durch die Lautsprecherboxen, dann brandet „Rhythm is a Dancer“ auf und alles dreht sich, dreht sich, dreht sich. Die Krakenarme drehen sich, die Gondeln drehen sich, alles dreht sich auf einer Scheibe im Kreis. Und alles wird ganz leicht, als wäre gar nichts passiert.

Noch einmal gemeinsam mit den Eltern den steilen Weg gehen durch die mit Schieferbruch bedeckten Weinberge im goldenen Oktoberlicht. Die Knie. Die Hüften. Das Herz. Der schöne Blick auf das Moseltal und dort hinten, die alte Burg.

Noch einmal zusammen auf den Wochenmarkt gehen mit der so vertrauten Freundin, die in der nächsten Woche nach Südwestdeutschland umziehen wird, um zu heiraten und Kinder zu bekommen und um zu versuchen, ihr Glück zu finden. Woanders. Noch einmal zusammen Blumen kaufen und mit Kräutern eingelegte Oliven und zu dem Stand gehen mit dem frisch gepressten, süßsauren Orangensaft, „ich lade dich ein“. Und: „Lass uns in Verbindung bleiben, ja?“

Noch einmal die Tür hinter sich zuziehen im bis eben noch gemeinsamen Haus und gleichzeitig wissen, dass man nie wiederkommen wird. Erst Jahre später werden die Gefühle so unauffindbar sein wie die Bücher, die man hat liegen lassen, irgendwo im zweiten Stock.

Noch einmal baden gehen im abgekühlten Wasser des Golfes von Triest, bevor es nach Hause geht, zurück nach Deutschland. Noch einmal zwischen den Felsen balancieren, noch einmal Meerwasser schlucken und zuhören, wie die Wellen an den Strand schlagen und die Steine zu Murmeln werden lassen, die sich nass aneinander reiben, ein Kieselklang. Noch einmal aus dem Wasser steigen und sich in ein Handtuch wickeln und hinausschauen auf die Bucht, wo die Frachter auf Reede liegen.

Und einmal noch Kolumne schreiben auf der Seite vierzehn der taz. Zum letzten Mal.

Kolumne 181

27.7.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Ganz ohne Schirm 

Was New York so alles über sich preisgibt, wenn man nur ein paar Minuten lang Zuflucht vor dem plötzlichen Platzregen sucht.

Warum sollte man einen Schirm dabei haben, wenn man sich in New York herumtreibt bei über 30 Grad im Schatten?

Hell’s Kitchen am Spätnachmittag. Ein Tropfen. Zwei Tropfen. Drei Tropfen. Dann kommt die Gewitterwand, in einem Affenzahn naht sie vom übernächsten Block her; bedrohlich wie in einem Blockbuster. Tatsächlich heulen Polizeisirenen, aber sie gelten nicht unserer Not. Dort, gleich rechts: ein überdachter Hauseingang; dort rennen wir hin, so schnell es nur geht. Eine ältere Dame folgt uns, auch sie ohne Schirm. Das lange graue Haar zu einem Zopf gebunden, eine perlmuttfarbene Brille, eine New Yorkerin wie aus einem Buch entsprungen.

Das Haus hat so zehn, fünfzehn Stockwerke, und wenn der Eindruck stimmt, ist die von der nahe gelegenen High Line ausgehende Gen­trifizierungswelle hier noch nicht angekommen. Ein älterer Mann in schmutzig grauem Unterhemd kommt aus dem Haus geschlurft, schaut sich die massive Regenwand an, die nun vor uns steht wie aus Beton gegossen und ­murmelt so etwas wie incredible, bevor er sich eine Zigarette (!) anzündet. Er zieht einmal, zweimal. Dreimal. Und schlurft wieder in das Haus; doch ein junger Mann winkt nun von innen: „Wanna come in?“ Wenn wir wollten, dürften wir hineinkommen und den wenigen Platz vor den Briefkästen blockieren statt, so wie jetzt, den ganzen Eingang. Doch niemand beschwert sich, auch nicht die übergewichtigen Frauen, die mit ihren Einkaufs­taschen und Schirmen kaum an uns vorbeikommen auf ihrem Weg in ihr angestammtes Terrain, ihr Zuhause. Schnell ins Trockene, aber für uns drei haben sie ein Lächeln übrig, ein freundliches Wort.

Als die Regenwand durchsichtiger wird und dann sogar zu verschwinden scheint, wagen wir uns hervor, rennen bis zum nächsten Block. Doch dann kommt der Regen wieder, im nächsten Hauseingang treffen wir die alte Dame wieder. Eine junge Frau ist dazugekommen, sie hat sich unter einem durchsichtigen, glockenförmigen Schirm verschanzt, ist ununterbrochen via Smartphone in Kontakt mit der Außenwelt, nicht aber mit uns.

Der Vorsprung ist noch schmaler, das Haus ist so groß wie das vorherige, drinnen gibt es einen Concierge, einen Wachmann, ein Ledersofa und eine Designerlampe. Hier bittet uns keiner herein. Vielmehr werden wir zum Problem, als einer der bewachten Hausbewohner herauswill und wir im Weg stehen: „Are these people a problem for you?, fragt der Wachmann servil, doch der Gefragte, Brooks-Brothers-Hemd und Chinos, schaut kurz auf die nasse Wand, lächelt, geht wieder zurück zum Aufzug, dessen Türen silbern schimmern – vielleicht bestellt er einen Fahrdienst?

Glück gehabt. Wir dürfen bleiben, alle vier. Bis der Regen aufhört und wir alle wieder unserer Wege gehen, „Singing and dancing in the rain / What a glorious feeling / And I’m happy again / and singing – in the rain“. Wer braucht schon einen Schirm.

Kolumne 180

7.7.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Seitlich dran vorbei gehen 

Fußball ist für unseren Autoren in erster Linie ein Geräusch, das erklingt, wenn er irgendwo vorbeigeht, wo andere öffentlich gucken.

„Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens“, gleich ein ganzes Buch von Max Goldt trägt diesen Titel – und dieser Tage hat mich der schöne Satz recht häufig begleitet auf meinen Wegen. Weil doch Fußball-WM ist und das „Public Viewing“ seit dem „Sommermärchen“ zum öffentlichen Leben des Landes dazugehört. Auch wenn „Schland“ längst ausgeschieden ist.

Fußball war und ist für mich in erster Linie ein Geräusch. Ein Klangteppich aus Fan-Gesängen und Gegröle, durchbrochen von Gehupe und überblendet von aufgeregten Kommentatoren-Stimmen. Und nur manchmal ein Gesicht, wenn es gefällig ist wie das von Mats Hummels.

Oder einprägsam und unausweichlich wie das des „Bundestrainers“ Yogi Löw; jemand der nie zu lachen scheint aber manchmal lustige Dinge tut. In der Nase bohren oder sich am Gemächt kratzen und 50 Millionen schauen live zu, solche Dinge.

Die Geräusche gehen weiter, auch ohne Schland. Wenn ich durch die Straßen gehe, sehe ich überall große, viereckige grüne Flecken, vor denen sich kleine Menschentrauben bilden. Flatscreens, die vor Kneipen, Spät- und Backshops aufgebaut sind.

Menschengrüppchen

Die Screens wurden aufgehängt, angedübelt oder auf abenteuerliche Tisch- und Regalkonsturktionen gestellt, wirre Kabelagen dahinter, die in geöffneten Fenstern verschwinden oder scheinbar hinter Blumenkübeln enden.

Menschen sitzen auf Plastikstühlen rund um den Bildschirm, in Shorts und Flip-Flops. Frauen halten Bierflaschen in der Hand, gerne Radler von Gösser, Männer auch. Geht man langsam an den Menschengrüppchen vorbei riecht es nach Zigarettenrauch, Alkohol, Sonnenlotion und Duschgel, so, als hätte man sich aus Versehen auf einem Campingplatz irgendwo am Meer verlaufen.

Belegte Brötchen mit schwitzender Salami werden gegessen, manchmal auch Bockwurst mit Senf. Kleinkinder wuseln um die Eltern herum auf dem Trottoir. Auch die Angestellten schauen zu.

Oben in der Mitte des grünen Flecks sieht man stets zwei kleine Flaggen und Zahlen – also welches Land gegen welches spielt und „wie es steht“. Gestern erst fragte mich ein Wildfremder wie es denn stehe, nachdem ich an einem großen Public Viewing-Gelände vorbeigegangen war, also einem solchen mit eigenen Bratwurststand und Bierausschank, und ich konnte nur mit den Achseln zucken.

Unterlassen des Drogenhandels

Ich wusste nur, dass einige der T-Shirts gelb-blau waren, so wie die Tragetaschen bei Ikea. Und dass die vor der grünen Fläche ausharrenden irgendwie tapfer auf mich wirkten. Wie jemand, der auch nach einem Bombenattentat noch Kirmes feiert, weil das Leben bedeutet.

Das schönste seitliche Vorbeigehen aber widerfuhr mir im nahe gelegenen Park, der Berliner Hasenheide. Es gibt dort einen Pavillon im Zentrum, mit Flaschenbier und Tiefkühlkuchen; und einer großen Public-Viewing-Leinwand. Und dort versammelt saßen an einem Nachmittag in der letzten Woche sämtliche Dealer, die sonst entlang der Wege ihren Geschäften nachgehen, um ein Spiel zu sehen, dass für sie offensichtlich von so großer Bedeutung war, dass sie das Verticken auch mal Verticken sein ließen.

Müssen die KonsumentInnen halt mal was anderes oder gar nichts einwerfen, ziehen oder rauchen. Eine Unterlassung des Drogenhandels, zu der es sonst nur bei den routinemäßigen, eher lustlos ausgeführten Razzien der Polizei kommt.

Der Zauber dieser WM ist für mich die scheinbar mit ihr einher gehende Trägheit. Das Leben, nichts als ein langer, großer Fluss. Viel länger als bloß zwei mal 45 Minuten.

Kolumne 179

24.5.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Herta war einfach härter

Herta hieß so, weil sie härter war. Herta hatte goldene Füßchen. Hertas eher hässliches Antlitz musste man immer bedeckt halten. Denn Herta war alt. Herta war gebraucht. Und jetzt hat sie mich verlassen, zermalmt wurde sie vom gefräßigen Reiß- und Quetschwerk am Heck eines orangenen Müllwagens der Berliner Straßenreinigung.

Herta war ein lindgrünes Sofa, und den Namen hatte es schon von den Vorbesitzern erhalten, einem freundlichen, nervösen, dauerkiffenden Paar aus Ostberlin. Sie fanden Herta eigentlich von Anfang an zu hart und hatten sie daher bereitwillig und ohne Ablöse hergegeben. Zehn Jahre lang hatte sie nun ihr Gnadenbrot bei mir erhalten, komplett eingehüllt in „Indira“-Decken von Ikea und drapiert mit großen Kissen. Derart aufgetakelt sollte sie Mittelklassezugehörigkeit in meinem Haushalt simulieren, in dessen Budget ein Designersofa schlicht nicht vorgesehen ist.

Aber es hat auch so gut funktioniert mit Herta. Als wir zusammenkamen, hatte man noch Motorola-Klappmobiltelefone und statt eines Smartphones oder Tablets schleppte man seinen weißen, zwei Kilo schweren Mac in riesigen Umhängetaschen durch die Gegend. Obama wurde Präsident der Vereinigten Staaten und alle dachten, dass Jesus auf die Erde hinabgestiegen sei. Die Finanzkrise erreichte ihren Höhepunkt, aber dank „Indira“ würde man das schon nicht so merken. Auch in Berlin trat 2008 das offizielle Rauchverbot in Kraft, an das sich fürderhin kein Mensch halten würde. In einer Herta-Ritze fand ich tatsächlich eine Zigarettenkippe, obwohl ich seit zwei Jahren nicht mehr rauchte. Es wurden lustige Partys gefeiert in der Wohnung. Und auf und mit Herta.

Als ich Herta zuletzt sah, stand sie nackt und schutzlos in der Mitte des Wohnzimmers, über und über von Staub und Schutt bedeckt. Meine alte Wohnung wird „luxussaniert“, wenn sie fertig ist, wird sie das doppelte kosten. Wer hier einzieht, kann sich sicher auch ein Sofa von Minotti leisten und befindet sich auf der richtigen Seite der auseinanderdriftenden Schere zwischen Arm und Reich.

Vom Müllwerker bekam ich einen Anschiss Berliner Art, grob im Ton, hart in der Sache aber nicht böse gemeint: Wie man denn bitte so bescheuert sein könne, jemandem zuzumuten, einen solch dreckigen, schuttbedeckten Kram die Treppen herunterzutragen? Hatte er ja völlig recht. Ich entschuldigte mich, obwohl ja nicht ich das Sofa mit Schutt bedeckt hatte, sondern die luxussanierenden Handwerker, Herr Finster und Herr Altmann. Aber das Eis war gebrochen. Über dem siechen Korpus von Herta kamen wir ins Gespräch. Er erzählte mir von seiner französischen Bulldogge. Seinem kleinen Garten im Erdgeschoss, den er sich mit seinem Lebensgefährten schön gemacht hat. Schließlich fragte er: „Ziehst du mit deinem Freund zusammen?“ Das konnte ich bejahen, und er freute sich.

Als er Herta schließlich die Treppen hinab ihrem Schicksal entgegenwuchtete, fiel der Abschied gar nicht mehr so schwer.

Kolumne 178

12.4.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Das grazile Handwerker-Ballett

Langweile muss nicht beklagen, wer umzieht, denn alles ist ein Wirbel. Seit ungefähr vier Wochen nun schon führen Herr Finster und Herr Altmann eine Art Handwerker-Ballett auf: Kommt der eine nicht, kommt auch der andere nicht. Beide beziehen sich stets aufeinander, obwohl sie sich persönlich gar nicht kennen, aber der eine soll „die Türen gang- und schließbar machen“ und der andere selbige anstreichen, wenn auch nur von außen. Und mag nun auch der Rest der neuen Wohnung längst in einem Zustand sein, der es der der Lufthansa ermöglichen würde, hier ein Drehkreuz mindestens für den ost­euro­päi­schen Luftraum einzurichten – Herr Finster und Herr Altmann umkreisen einander, telefonisch und per Mail, und kommen nicht in die Pötte.

Handwerker sind auch sehr empfindsame Wesen. Als Journalist und Homosexueller hatte ich es in meinem Leben weiß Gott schon oft mit Diven zu tun, und was für welchen, aber Handwerker sind im Vergleich sinistre Stummfilmdiven. Ich hatte mal einen, das war noch in der alten Wohnung, der das Wohnzimmer spachteln sollte. Als nach einer Woche noch immer kein Handschlag getan war, organisierte ich einen Überraschungsbesuch – und fand den jungen Mann ermattet auf einem Sack Rotputz liegend. Depressionen!

Dann Piotr aus Polen. Er hatte so starkes Heimweh, dass man ihn quasi auf der Besucherritze hatte übernachten lassen müssen. Man musste für ihn kochen und ihn abends ausführen, mindestens. Einmal haben wir sogar eine YouTube-Disco für ihn organisiert, mit Wodka und „Geronimo’s Cadillac“, denn für das Berghain hatte er laut eigener Aussage „nicht die richtigen Klamotten mit“. Getanzt wurde also auf am Boden liegender Kartonage und beschallt aus den Einbaulautsprechern eines Medion-Klapprechners.

Dann gibt es noch den Haushandwerker. Das bedeutet, dass er im Haus wohnt und nicht weglaufen kann. Sogar seine Mutter wohnt im Haus, da ist man dann eigentlich auf der sicheren Seite. Denkt man: Als ich ihn gestern bat, ob er nicht doch vielleicht noch die Steckdosen anbringen könnte, verschwand er umgehend. Auch eine Razzia in den benachbarten Eckkneipen des Quartiers blieb erfolglos, auch, weil sich dort nunmehr eher Hipster als Handwerker herumtreiben.

Herr Altmann hat nun gestern wieder den Termin verschoben, auf morgens 7 Uhr, mitten in der Nacht – obwohl er sehr genau weiß, dass um diese Zeit Was-mit-Medien-und-bunte-Socken-Leute noch nicht wach sind. Und das immer in einem schnippischen Ton: „Ja, ja, letzte Woche hieß es ja wohl noch, dass eine andere Firma das machen soll, nicht?“ Und Herr Finster geht schon wieder nicht an sein Telefon, Mailbox nicht existent.

Wie es aussieht, handelt es sich beim dem 7-Uhr-Termin auch lediglich um eine Inaugenscheinnahme der potenziellen Baustelle. Aber gut, danach muss ich sowieso zum Flughafen. Schönefeld.

 

Kolumne 177

1.3.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Die Vergänglichkeit des liebgewonnenen Vorglühens

Der Erste war, logisch, ein Fahrschulwagen. Ein Audi 80, der schlecht nur innen roch, weil der Angstschweiß Hunderter pubertärer FahrschülerInnen und „Prüflinge“ in die hellgrauen Stoffpolster gedrungen war. Ein Diesel, gar ein Turbodiesel war es, mit dem man die Berge in der Eifel auch hinaufkam, ohne das Gaspedal bis zum Bodenblech durchzudrücken. „Drück mal drauf, bis hinten die Briketts rausfliegen“, pflegte mein Fahrschullehrer zu sagen, wenn ich zu zaghaft war und es doch galt, einen Traktor mit Anhänger zu überholen.

Traktor, das war das Ursprungsimage des Diesel-Pkws, und in besagter Eifel ging die Fama um, dass die Bauern sich allesamt einen Mercedes 200 D geleistet hatten, damit sie ihre „Wanderdüne“ klandestin mit wesentlich günstigerem Heizöl aus dem Keller betanken konnten. Später fand man heraus, dass man diese Mercedesse der Baureihe W 123 sogar mit Salatöl betreiben konnte – egal was im Tank ist, diese Autos fahren jedenfalls noch immer zu Tausenden als Taxis in Beirut oder Marokko.

Jedenfalls war der Begriff „Heizöl-Ferrari“ gesetzt für die nun zahlreich in Erscheinung tretenden Turbodieselfahrzeuge, die mit der Lahmheit meines eigenen ersten Autos, natürlich ein Golf Diesel, nicht mehr viel gemein hatten. Der Startvorgang meines weinroten Golf I.D. würde heute wahrscheinlich zu meiner sofortigen Verhaftung führen. Dreimal musste man die bereits maroden Glühkerzen betätigen, bevor man einen Startversuch wagen konnte. Gelang er, war das umliegende Gelände in schwarzen Rauch gehüllt, aber in den frühen Neunzigern dachte man sich nichts dabei, schließlich gab es in den Zügen noch Raucherabteile, und mit Swiss Air konnte man mit der Kippe im Gesicht über den Atlantik fliegen.

Vati erzählt vom Krieg. Später jedenfalls hatte ich keine Dieselautos mehr, weil ich „nicht genug Kilometer fuhr“. Ein Diesel lohnt sich nur, wenn man viel fährt; denn vergleichsweise günstig war ja nur der Sprit, die Steuer aber war viel höher als bei Benzinern.

Erst viele, viele Jahr später – man hatte sich längst daran gewöhnt, von Wald-und-Wiesen- Vatis mit ihren PS-starken Turbodieselkombis auf der Autobahn in einer Weise zur Seite gedrängt zu werden, wie man sie früher in den Achtzigern nur von Oberklasselimousinen kannte (Lichthupe, dichtes Auffahren) – brachte mein Lebensgefährte seinen schwedischen schwarzen Turbodiesel in unsere Beziehung ein. Was einen, im Hinblick auf meine schlecht bezahlte Tätigkeit bei der taz, skeptischen Freund zu der Bemerkung „Endlich Mittelschicht“ veranlasste und sogar für manchen Sozialneid Anlass bot bei solchen Großstadtvätern, die ihre Bruttransportbehältnisse nicht in einem großzügig bemessenen Kombi transportieren können.

Doch das liebgewordene Geschnaufe und Geschnorchel unter der Haube des fünf Jahre alten Wagens, der nur fünf Liter braucht, läuft unter „Euro 5“. Und das ist nun das Ende?

Kolumne 176

8.2.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Was heißt eigentlich Hass auf Italienisch?

Misstrauen ist angebracht, wenn sich an einem Dienstagabend zur Kino-Spätvorstellung Heerscharen in der Lichtspielstätte einfinden. Obacht, es könnte sich um einen fiesen Hype handeln. Was sonst könnte der Grund sein, wenn sogar nach dem Mongay noch eine Extra-Vorstellung einberufen wurde?

Andererseits kann es auch angebracht sein, immer nur vom Besten auszugehen: Ist es nicht allzu verständlich, wenn sich von Winter und Lichtlosigkeit gepeinigte Großstädter wacker auf die Beine machen, um endlich Sommer, Licht und Wärme zu tanken – und das auch noch in italienischem Umfeld?.

Call me by your Name“, eine mit schönen Menschen und herrlichen Interieurs ausstaffierte Hipster-Schmonzette, das ist der Film, der die Lemminge heute hierher getrieben hat in das ehemalige Premierenkino der DDR. Das entsprechend großzügig und luftig gestaltet ist, sodass man – gerade an einem Dienstagabend – normalerweise in Ruhe sein Ben & Jerrys kaufen kann, womöglich noch ein bisschen in den Sesseln im Foyer herumlümmeln, dann schön Werbung gucken, zur Einstimmung – für die Apotheke nebenan, Ökostrom und taz.de.

Aber heute: nichts da. Ein Gedränge wie im Karstadt-Schnäppchenmarkt beim Schlussverkauf, aber mit internationaler, kulturelles Interesse ausstellender LGBTIQ*-Crowd; die jedoch nicht frei ist von einer gewissen Rudeness beim Berghain-gestählten Queuing.

Und nein, Döner essen in einer Indoor-Kinoschlange ist sogar in Berlin not decent, das Mit-Hineinnehmen der miefigen Fleischtasche in den Kinosaal erst recht nicht. Am Herkunftsort wäre der jungen Frau von Nonnen auf die Fingerchen geklopft worden, hätte sie es gewagt, auch nur ein Amarettoplätzchen mit in die Vorführung zu nehmen!

Dann endlich geht es los. Die Achtziger sind im Film so schön, dass man fast vergessen kann, wie es damals wirklich war; ungeheuer hilfreich in dieser Hinsicht auch, dass er im Sommer 1983 spielt, also zu einem Zeitpunkt, an dem Aids gerade erst in Europa ankam. Autos ohne Katalysator und Liebe ohne Gummi, Nutella auf dem Frühstückstisch und früher Synthie-Pop im Radio.

Wenn nur die Gegenwart nicht wäre: ein trockener, aber doch kräftiger Husten gleich hinter uns links – und von hinten rechts Tritte in die Rückenlehne. Dazu das Gekraschpel, Geräuspere und Gewispere eines bis auf den letzten Platz besetzten Großkinos.

So nahm also die Hipster-Schmonzette ihren Lauf. Der Sommer so flirrend, die Abende so lauschig. Bisexuelles Nacht- und Nacktbaden. Husten und Tritte in den Rücken, Husten und Tritte in den Rücken. Husten und Tritte in den Rücken. Nach 44 Hustern, also ungefähr in der Hälfte des Films, war mein Lebensgefährte eingeschlafen. Und nach dem 88. Husten war es dann endlich vorbei mit der Herrlichkeit. Aber hey, Amore! Amore! Was Hass auf Italienisch heißt, weiß ich leider nicht.

 

Kolumne 175

18.1.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Schounefäld, Boarding Completed

Berlin, deine Flughäfen! Jeder für sich eine Legende: Der Nazi-Zentralflughafen Tempelhof, Nachkriegs-Nabelschnur, auf dessen Start- und Landebahn die Einheimischen nun Rollerblades fahren – neulich war Tag der offenen Tür und die ganze Stadt war auf den Beinen, um noch einmal durch die alte Abflughalle mit dem (Singular!) Gepäckband gehen zu können.

Dann der nicht vergehen wollende Flughafen Tegel, Tor zur Freiheit, von den einen (weit genug entfernten) Berlinern geliebt, von den anderen (anwohnenden) gehasst. Und natürlich „Willy Brandt“, der Geisterflughafen, der es nicht vermag, sich aus seinem Milliardenloch zu erheben, und nachts unheimlich im märkischen Sand vor sich hin leuchtet. THF, TXL, BER sind in aller Munde – und alle scheinen zu vergessen, dass es doch auch einen völlig unproblematischen Flughafen gibt. Mit S-Bahn-Anbindung.

SXF, Berlin-Schönefeld. Flughafen der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik und immer schon Weltniveau. Es ist zum Beispiel der einzige Flughafen der Welt, bei dem man, um in den Abflugbereich zu gelangen, durch eine Burger-King-Filiale gehen muss – und direkt im Anschluss durch einen Irish Pub. Und das ist auch gut und richtig so, denn hier verkehrt der wahre Berliner Jet-Set, der Easy-Jet-Set. Party-People aller Länder statt Lufthansa-Business-Class, und alle hier abfahrenden Busse enden in Neukölln.

Es gibt einen funktionierenden Brandschutz, in der Haupthalle kann man ihn sogar sehen und anfassen, Brandschutzschrottwände, die bei Bedarf heruntergefahren werden können. Immer ist Bewegung in SXF. Ungefähr dort, wo neulich eine Frittenbude abgebrannt ist, wurde nun ein kleiner Container für „Kamps“ errichtet – und gleich gegenüber gibt es eine riesige hölzerne Ski-Hütte, in der man bayerische Spezialitäten ordern kann, Germany ist Germany.

Überhaupt ist er schön, der Flughafen. Das Hauptgebäude mit seiner goldrot schimmernden Sonnenbrillenverglasung, wie sie auch schon den Palast der Republik (weg) und das Palasthotel (auch weg) zierte, macht Lust auf Belgrad. Und dann erst, wie schon angedeutet, die vielen Container und Anbauten: Nur böse Zungen würden angesichts all des Wellblechs von einer High-Tech-Favela sprechen, Luftfahrtkenner hingegen zischen anerkennend: „Hugo Junkers!“ Wenn auch tatsächlich eher Flugzeuge von Henschel an diesem Standort produziert wurden, am Stabsgebäude des alten Flugzeugwerks rollt man heute vorbei in Richtung Startbahn.

Von SXF aus hat man auch einen guten Blick auf den zukünftigen BER, ist ja gleich nebenan. Aber ob es dort je so schön werden kann wie in SXF? Wird es „Rollbrot“ geben von Marché? Kaffeespezialitäten, die teurer sind als ein Flug nach London? Der einzige Trost ist, dass sie an den neuen, so hört man, auch Container anbauen wollen, weil die Kapazität nicht ausreicht. Juhu!

Kolumne 174

28.12.2017

Martin Reichert Herbstzeitlos

Weihnacht in Neukölln

Dieses Jahr haben wir den Vogel abgeschossen mit unserer Balkan-Bling-Bling-Lichterkette am Balkon, die mein Lebensgefährte aus Slowenien mitgebracht hatte. Es sind blaue LED-­Lichter, die man verschieden einstellen kann. Es gibt zum Beispiel eine heftig pulsierende Turbofolk­version, aber die erschien mir zu riskant, der potenziellen epileptischen Anfälle wegen. Die sanft wallende Adriaschaltung reicht völlig, um die Nachbarn in den Wahnsinn zu treiben – früher, vor der Gentrifizierung, hätte man uns dafür nicht mal belächelt. Unser blaues Bling-Bling wäre einfach von nikotingelben Vorhängen geschluckt worden; doch heute sind da keine Vorhänge mehr, stattdessen hat man glatten Durchblick auf meterhohe Bücherregale und moderne Kunst. „Guck mal, die haben auch alle blaue Lichterketten“, meinte mein Lover noch – aber es war bloß die unsere, die sich in den Fenstern spiegelte.

Andererseits: Welche Nachbarn eigentlich? An Weihnachten sind die Neuberliner ja alle in ihren Heimatdörfern und Kleinstädten, alles sehr gut auf Facebook dokumentiert. Ein kurzer Kontrollblick auf das Treiben der Neuen Rechten in den sozialen Medien ergibt den Befund: Feiertagsmodus auch hier, also bloß routinemäßige Hetze gegen den Islam, kein besonderer Untergang des Abendlandes steht an. Originell nur: In einem Thread beschwert sich ein ansonsten fröhlich alles und jeden mithassender Landwirt über die pejorative Verwendung des Begriffs „Bauer“ in gesellschaftlichen Zusammenhängen.

Stille Nacht also, heilige Nacht sogar, und das in Berlin. In Neukölln und Wedding ist nur Leben noch, weil die Araber ihre Restaurants offen halten und die Türken die Spätis. Im Stadtteil Prenzlauer Berg hingegen herrscht Totalverdunkelung, als sei Weihnacht 44.

Und noch ein Lichtlein brennt, und zwar im lokalen Stadtbad, das auch am ersten Weihnachtsfeiertag geöffnet hat für die Mühseligen, Dagebliebenen und mit Gänsebraten Beladenen. Schon am Eingang geschieht Unglaubliches: Die Kassiererin und stolze Angestellte der Berliner Bäderbetriebe wünscht tatsächlich auch noch „viel Spaß“, nachdem sie, es ist ja Weihnachten, auf den „Warmbadezuschlag“ verzichtet hat. Drinnen ist das Becken, auch unglaublich, fast leer. Eine weihnachtlich anmutende Szene spielt sich ab: Vater und Tochter lernen zugleich schwimmen. Während die Mutter die mit Schwimmflügeln bepackte Tochter durch das Wasser zieht, balanciert der Schwiegervater seinen Nichtschimmer-Schwiegersohn auf seinen Armen, damit dieser die Bewegungen üben kann. Es klappt schon ganz gut – und auch wenn seine Tochter schneller sein wird, eines Tages werden sie gemeinsam schwimmen gehen können.

Später sind wir hungrig und müde. Bei McDonald’s am Hermannplatz wühlt ein Mann nach Essensresten. Ein anderer Mann, der auch nicht aussieht, als ob er Geld hätte, kauft ihm einen Cheeseburger. Der Verkäufer hinter dem Tresen trägt eine rote Nikolausmütze.

Kolumne 173

7.12.2017

Martin Reichert Herbstzeitlos

Stille Momente in Rom­­­, an einem sonnigen Wintertag

Ganz in der Früh an einem Dezembertag in Rom. Nach einer Vollmondnacht, in der nur von fern Verkehr rauschte, ist der Himmel eisig blau, und die Sonne bescheint warm klassizistische Gebäude, deren helle Fassaden das Licht so stark reflektieren, dass man eine Sonnenbrille tragen darf. Sogar in der Metro setzt mancher sie nicht ab, wohl um vergessen zu machen, wie zugig es dort unten in den Katakomben ist und dass Daunenjacken getragen werden in grellen Farben und Mäntel und Schals.

Ein mittelalter Mann hat den Bürgersteig auf der Brücke gefegt, mit einem einfachen Haushaltsbesen. Laubhaufen, mit Plastikmüll durchsetzt, häufen sich eindrucksvoll an den Rändern. Für seine Arbeit ist der Mann nicht von der Stadt bezahlt worden, er will eine Spende haben dafür, dass er sich um den öffentlichen Raum bemüht. Man sieht einige Münzen, auch silberne, in der Pappbox, die er aufgestellt hat.

Eng gedrängt stehen die Menschen in der Metro, Linie A, in Richtung Stadtzentrum. Sie sprechen laut, sie drängen und schubsen, schniefen, schnauben und husten. Die Stationen werden laut plärrend angesagt von einem Mann, der wohl aus Blech ist, sich aber trotzdem recht vital und sonor anhört, es muss an der Sprache liegen, „Ponte Lungo“ knarzt es aus dem Lautsprecher.

Die Touristen sind noch nicht auf den Beinen, und wenn doch, dann stehen sie am Frühstücksbuffet des Hotels. Am Trevi-Brunnen stehen zwei Polizisten Wache und haben ein Auge auf ein einziges Paar, das sich mithilfe einer Selfiestange ablichtet, ältere Damen auf Scootern ziehen knatternd vorbei. Selbst das Pantheon ist noch fast verlassen, eine Frau im Kostüm begrüßt die wenigen Besucher, missbilligende Blicke auf unpassende Kleidung werfend, „Please dont write your name on the walls“ steht drinnen auf einem Schild, einer aber steht ganz groß geschrieben, „Vittorio Emanuele II.“. Die Sonne wirft einen leuchtenden Fleck auf die Innenseite der riesigen Kuppel, es ist angesichts des Zeitgeschehens fast beruhigend, dass dieses Gebäude hier so gut erhalten steht, mag auch das Römische Reich lange untergegangen sein – noch immer sind Menschen hier und leben und lieben.

In einem kleinen Laden gibt es Espresso macchiato und mit Schinken und Mozzarella belegte Croissants oder solche mit Crema oder Schokolade gefüllt. Der Kellner sieht aus, als wäre er einem spätmittelalterlichen Gemälde entsprungen, ein Gesicht, so ewig wie die Stadt, aber das Lächeln ganz im Jetzt. Im Stehen nimmt eine korpulente Blonde ihr süßes Gebäck und ihren Kaffee zu sich, auf Italienisch sagt sie zu der Frau hinter dem Tresen: „Wie still es hier gerade ist, so schön. Aber ungewöhnlich.“ Nur die Kaffeemaschine knackt.

Doch schon geht die Tür auf, eine Gruppe junger Männer drängt herein, es ist Zeit für einen Espresso und Dolce und überhaupt, „Ciao, bello!“. Es ist ein Gedränge und Geschiebe und noch mehr Menschen kommen herein, junge Frauen, und die Kaffeemaschine zischt nun und sprotzt, und es wird sehr laut gesprochen und gelacht, und die Menschen sind schön. Alles andere wäre, seien wir ehrlich, eine furchtbare Enttäuschung gewesen.