Kolumne 32

14.5.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Out of Ackerbürgerstadt

Brandenburg ist ein Land voller Musik. Manchmal wird es sogar uns zu laut

Wenn man so mitten in der Ackerbürgerstadt wohnt, immerhin 1.500 Einwohner, wird es einem doch ab und an ein bisschen viel mit dem urbanen Treiben.

Als wir neulich im Garten saßen, erklang zum Beispiel in Orchester-Lautstärke „Die Moldau“ aus dem Nachbarhaus. Dagegen wäre auch nichts einzuwenden gewesen, wenn wir keine Ahnung von den näheren Lebensumständen des HiFi-Karajans gehabt hätten. Es handelt sich um einen sehr netten, sensiblen Künstler, der beschlossen hat, sich zu Tode zu trinken. Zudem hatten die Nachbarn von schräg gegenüber in einem Anfall von Ohnmacht und sturem Überlebenswillen beschlossen, dieser Demonstration von Traurigkeit einen akustisch an Badezimmerradios gemahnenden Klangteppich aus fröhlicher Schlagermusik entgegenzuwedeln. Vicky Leandros’ „Glaub mir, ich liebe das Leben“. Man kann es nicht erfinden.

Mag ja sein, dass es in Brandenburg immer weniger Menschen gibt, aber die wenigen verbliebenen tun alles, um sich bemerkbar zu machen – manchmal ist es ein Pfeifen im dunklen Wald, damit man sich nicht so alleine fühlt. Ganz anders wiederum verhält es sich bei den Besuchern aus Berlin, die angeblich aufs Land fahren, um endlich mal Ruhe zu haben. In Wirklichkeit kommen viele von ihnen nur, um endlich mal so richtig Krach machen zu können – bei einem Streifenwagen im Umkreis von 50 Kilometern hat man ja im Vergleich zu Berlin viel Zeit, bis es an der Tür klopft.

So auch beim „Biker-Treffen“. Sicher gibt es auch sensible Krad-Fahrer, die mit ordnungsgemäßen Auspuffanlagen über Land fahren, um bei gelegentlichem Rasten die Vögel zu beobachten und am Denkmal der Schlacht von Fehrbellin klugen Gedanken über Europa zwischen gestern und heute nachhängen. Die Mehrzahl jedoch lässt lieber die Rohre so laut krachen, dass die Störche vom Schornstein fallen. Und wenn die Krümmer abgekühlt sind, rotten sie sich zusammen und hören bei literweise Bier Yes- und Jethro-Tull-Klassiker, live und ohrenbetäubend.

Am nächsten Morgen lagen gleich drei tote Fledermäuse in unserem Garten. Mein Freund vermutet, dass sie an akutem Tinnitus gestorben sind.

Als wir dann später am Rande der Stadt spazieren gingen, um endlich mal abschalten zu können, raunzte ich ihn plötzlich an, dass er doch mal endlich an sein Handy gehen solle – wobei es sich bei dem penetranten Geräusch einfach nur um tatsächliches Vogelgezwitscher gehandelt hatte und nicht um einen polyphonen Klingelton.

Wenn ich ihn nicht hätte, wäre ich wahrscheinlich sowieso schon durchgeknallt, und auch dieses Mal wusste er Rat. Er nahm einen großen, verrosteten Schlüssel vom Bord und wir fuhren weit über Land – raus aus der Ackerbürgerstadt und bis an den Rand eines brandenburgischen Straßendorfes. Dort stand ein Haus, groß und blau. Mein Freund hat eben immer noch eine Ruine in Reserve.

Die bisherige Mieterin hatte die Stille des Straßendorfes nicht mehr ausgehalten und hat in den zersiedelten Westen rübergemacht. Da ist ja immer Hully-Gully – und wir haben jetzt ein Wochenendhaus, um uns von den diversen Urbanitäten zu erholen. Diese Stille!

Als die hier vor Ort recht vital wirkenden Fledermäuse begannen, ihr Nachtwerk zu verrichten und ich mich erstmals zur Ruhe bettete, hallte mein eigener Tinnitus laut wie ein Airbus-Triebwerk – Lärmtraumatisierte können mit Stille nicht mehr umgehen. Doch nach einer Weile vernahm auch ich den Sound des nächtlichen Straßendorfes: Bedeutungsschwer rauschende Linden und ambitionierte Nachtigallen. Klaus Mann geisterte durch meinen Kopf, „Es gibt keine Ruhe, bis zum Schluss“, flüsterte er, und ich sagte zu meinem Freund, dass es so nicht weitergehen könne mit dem Künstler und dem Zu-Tode-Saufen und niemand unternimmt was. Dann kam der Schlaf, und er war so tief, dass sogar die Träume in ihm verborgen blieben.

Am nächsten Morgen knatterten die Rasenmäher der Straßendörfler, als hätte gerade eine Kartbahn eröffnet.

Kolumne 31

8.4.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Bunte Plastetiere für den Osten!

In Neufünfland gibt es immer von allem zu wenig. Aber manchmal ist weniger einfach mehr

Im Zeit-MagazinLebenwird einmal in der Woche die Lage der Nation skizziert, sowohl geografisch als auch lebensweltlich. Man sieht dort eine Deutschlandkarte inclusive der seit 1989 dazugekommen Beule rechts. Ostdeutschland. Die Beule kommt dabei nie gut weg, statistisch betrachtet: Es gibt dort weniger Outlet-Center, die Bibel verkauft sich wesentlich schlechter und es mangelt an Pilgerwegen, zudem gibt es dort kaum Menschen, die bei „Wer wird Millionär“ gewinnen (die wohnen alle in einem Ort namens Ensdorf in Bayern).

Doch das Schlimmste von allem ist: Es gibt laut dieser Karte nicht ein einziges buntes Plastetier in ostdeutschen Innenstädten – außer in Berlin, wo in dieser Beziehung echt der Bär los ist. Jede verdammte Kleinstadt in Westdeutschland hat Plastetiere, vom Esel bis zum Elefanten. In meiner Geburtsstadt in Rheinland-Pfalz war bereits in den 80er-Jahren alles mit Schweinen zugepflastert, wenn auch nur solchen aus Bronze. Und im Osten? Nur feldgraue Hasen und schwarzbunt Geflecktes in freier Wildbahn. Dafür mehr Nazis, Verkehrsunfälle im Zusammenhang mit Jugend, Alkohol und Bäumen, mehr dumme betrunkene Männer und mehr Filmpreisträger – aber wieder nur wegen Berlin und zählt eigentlich nicht. Es ist zum Heulen.

Was also tun? Als Erstes fiel mein Blick auf eine unserer Katzen, die sich gerade auf meinem geliebten dunkelblauen Mantel auspelzte. Sie hat ein ausgerechnet weißes Fell und ist eigentlich nur noch bei uns, weil sie niemand haben wollte, als einzige aus dem Wurf. Schon als Junges wurde sie aufgrund ihrer farblichen Andersheit von ihren Geschwistern ausgegrenzt und ist seitdem ein bisschen verhaltensauffällig. Warum sie also nicht einfach bunt färben? Pink? Mintgrün? Irgendwo muss man ja anfangen.

Mein Freund indes bereitete dieser City-Marketing-Maßnahme im Projektstatus jedoch ein unbarmherziges Ende: „Du spinnst.“ Diese Nöl-Ossis sind aber auch wirklich unzugänglich manchmal. Es ist doch schließlich auch seine Ackerbürgerstadt, und ich kann auch nichts dafür, dass die Ossis das mit den Plastetieren nicht aus eigener Kraft auf die Beine stellen können: Der dafür zuständige VEB Plaho in Steinach/Thüringen wurde längst abgewickelt.

Wir kamen nicht weiter und gingen stattdessen zu Lidl, was so ähnlich war wie mit der weißen Katze. Es blieb uns nichts anderes übrig, denn Edeka war zu. Ich ging also durch die Regalreihen und machte mir so hier und dort unauffällig Notizen: Eine Tüte „Bellosan“-Hundefutter war bei den Damenbinden eingeordnet und ich meinte deutlich vernommen zu haben, dass eine der Verkäuferinnen in kundenabschreckend grobem Brandenburgisch zu einer Kollegin gesagt hat, dass sie sich schon jetzt, um 19.45 Uhr, auf den Feierabend freut – aber ich will es nicht beschwören.

Doch dann, nur ein paar Schritte weiter an den „Dinge, die die Welt nicht braucht“-Regalen, kam die Erleuchtung: Gleich neben den von brandenburgischen Jungmännern umlagerten Köchern für 14,95 Euro lag er: ein grasgrüner, wasserspeiender Frosch aus Plaste. Für den Garten! Ich lief damit sofort zu meinem Freund, der in der Obst- und Gemüseabteilung frustriert an einzelnen unreifen Früchtchen herumdrückte. Nur um mir schon wieder eine Abfuhr zu holen: „Das kommt überhaupt nicht in Frage!“

Mir will nun fast scheinen, dass es in Ostdeutschland allein deshalb keine bunten Plastetiere in Fußgängerzonen gibt, weil die Ossis solchen Plunder nicht haben wollen. Sie wollen schon lange nicht mehr in der Bibel lesen und schon gar nicht auf Pilgerwegen herumkrauchen. Outlets für markenfetischistische Geizkragen gehen ihnen womöglich am Allerwertesten vorbei, und den theoretischen Überbau von „Wer wird Millionär“ kennen sie schon aus dem Staatsbürgerkundeunterricht.

Zuhause habe ich dann das Zeit-Magazindazu benutzt, um die nassen Schuhe vom Nachmittagsspaziergang zu trocknen. Der Politikteil ist geeigneter. Das Papier saugt mehr auf.

Kolumne 30

19.3.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Im Hasenwunderland mit Wolfgang Petry

Den Brandenburger Osterhasen geht es besser. Darf man sie deshalb für ein Berliner Ledertreffen im Stich lassen?

Die gute Nachricht zum Osterfest: Der Feldhasenbestand in Brandenburg hat sich leicht erholt – obwohl wir uns mit einer Population von rund sechs Hasen je Quadratkilometer bundesweit immer noch im unteren Drittel befinden. Eigentlich also noch immer ein Skandal, aber es liegt nicht an uns: Wir essen weder Kaninchen noch Hasen, auch nicht in Senfsauce. Ob die Hasen vielleicht alle in den Westen abgehauen sind?

Mein Freund sagt, dass es an den diversen AB-Maßnahmen für brandenburgische Menschen liegt. So werden derzeit die Sträucher auch der allerletzten EX-LPG-Allee ratzfatz weggesäbelt, und das mit einer Gründlichkeit und Beharrlichkeit, die dem Sozialismus zum sicheren Sieg hätte verhelfen können. Die Schnittreste dieser Flurbereinigung werden dann zu riesigen Osterfeuern aufgeschichtet, damit man drum herum stehen kann, um Bratwurst zu essen und Wolfgang Petry zu hören. Wolfgang Petry ist Pflicht – kein Mensch weiß, warum, mein Freund auch nicht.

Für die Feldhasen ist so ein Osterfeuer nur ein vorübergehender, wärmender Trost in ihrem wenig beschaulichen Dasein im feuchtkalten Brandenburg. Erstens werden gerade jene Gebüsche abgefackelt, die ihnen als natürlicher Panic Room dienen, wenn der Fuchs kommt, und zweitens brauchen sie im wirklichen Leben Sandwege, um sich nach langer, feuchter Nacht trocken zu hoppeln. Sonst erkälten sie sich.

Und das nun ausgerechnet zu jener Zeit des Jahres, in der ausnahmsweise mal die Zeitarbeitsfirma anruft: Es winken befristete Verträge für Osterhasen – Unmengen von bunten Plaste-Eiern müssen ausgeliefert werden, die dann an Ziersträuchern vor DDR-Rauputzfassaden angebracht werden. Ein Großteil der Lieferung ist trotz Dauerregens schon angekommen, wie wir im Rahmen einer eher melancholischen Spazierfahrt feststellen konnten – den Scheibenwischer stets auf Stufe eins.

Womit wir bei der schlechten Nachricht zum Osterfest wären: Mein Freund will an Ostern unbedingt zum Treffen der Leder-und-Fetisch-Szene in Berlin. Noch heidnischer als ein Osterfeuer und zwingend ohne Wolfgang Petry, obwohl der doch auch immer Lederklamotten anhatte. Nur mal gucken will er.

„Soso, nur mal gucken“, sagte ich und drückte auf das Gaspedal, weil er sich bei höheren Geschwindigkeiten unwohl fühlt. „Und das heißt dann, dass ich hier allein mit irgendwelchen durchgefrorenen Feldhasen am Osterfeuer rumstehe, während du in Berlin mal guckst, wie die Fetisch-Rammler gucken oder wie? Hast du auf einmal ein Problem mit Wolfgang Petry?“

Ich habe jedenfalls ein Problem mit dem Treffen der Leder-und-Fetisch-Szene. Nicht so ein anstrengendes wie Klaus Wowereit, als er dereinst ein Grußwort für das Folsom-Europe-Treffen im Sommer verfasste. Ich habe einfach nur keine Lust mich über Ostern zu fühlen, als habe jemand „Madmax“, „Matrix II“ und „Ein Käfig voller Narren“ zu einem Endlos-Trailer zusammengeschnitten und den Schlüssel zum Ausgang weggeschmissen.

Die Hasen im Stich lassen, und das ausgerechnet jetzt, wo es ein bisschen aufwärtszugehen scheint mit ihnen. Sagt sogar der Präsident des Deutschen Jagdschutzverbandes, der ausgerechnet in Bonn sitzt: „Es gibt für den Hasen in Brandenburg einen leichten Schein am Horizont“. Ja eben!

Aber für mich auch. Ich weiß nämlich jetzt schon, wie es enden wird. Ich werde zu Hause sitzen und Eier ausblasen oder so, Strümpfe stricken kann ich nicht, und irgendwann wird mein Freund total entnervt aus Berlin zurückkommen. Weil er den Endlos-Trailer schon einmal zu oft gesehen hat. Weil er weiß, dass es etwas Gutes zu essen gibt. Und weil wir zusammen am Osterfeuer stehen wollen, um die Feldhasen mit dem Handtuch trocken zu rubbeln und Wolfgang Petry zu hören: „Ein Freund, ein Mann“.

PS: Kann mir jemand kurzfristig eine Lederhose leihen? Am besten so eine mit Schnüren an der Seite. Sie bekommen sie nach Ostern gewaschen und gebügelt zurück. Versprochen.

Kolumne 29

20.2.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Unter der Heizdecke mit Bushido

Das Leben ist gar nicht so, es ist ganz anders? Das kann einem ja mal jemand mitteilen, bitte schön

An einem Samstag auf dem Lande den lieben, langen Tag lang gar nichts, aber auch gar nichts getan zu haben kann verdammt anstrengend sein. Der Kreislauf sackt ins Bodenlose und der Rhythmus des Daseins wird allein von den Vibrationen der Katze bestimmt, die zusammengerollt auf den hochgelagerten, müden Beinen vor sich hin schnurrt. Ein sonores Begleitbrummen, das von der stillen Hoffnung getragen ist, später gefüttert zu werden. Eben!

Das Abendessen gibt einem dann später den Rest. Die Energie reicht nur noch, sich die Treppe hinauf ins Bett zu schleppen, um den Klobig-Screen anzuwerfen – und die Heizdecke. Mag auch draußen ein eiskalter Wind aus Moskau über endlose, karge Flächen pfeifen, mag auch Berlin in der Ferne hysterisch-orange vor sich hin glühen: Das Leben ist schön. Kuschelig warm, eingelullt von den Gesprächsvibrationen diverser Talkgäste und ModeratorInnen, deren Hoffnung einzig und allein auf Aufmerksamkeit gerichtet. Das Beste daran: Man kann sie ihnen mit nur einem Knopfdruck entziehen.

Apropos Aufmerksamkeit: Wo ist eigentlich mein Freund? Die Katze ist auch weg, und ich bin hier mutterseelenallein mit Amelie Fried und Giovanni di Lorenzo. Wenn da nicht noch Bushido und Udo Kier nebeneinandersitzen würden. „Ich glaub es ja nicht!“ – frei nach Hape Kerkeling –, schießt es mir plötzlich wie ein Stromstoß durch den Kopf, gleichsam als habe das Heizkissen einen Schaden in der Isolierung. Bushido und Udo Kier?

Na das kann ja was werden: „Komm mal schnell!“, brülle ich ins Fachwerklabyrinth. „Der Kier ist bei ‚Drei nach Neun‘, und daneben sitzt Bushido, ich brech zusammen!“ Kampf der Titanen! Vergaser aus Berlin trifft zickige Schnappschildkröte aus Los Angeles – wem wird da zuerst die Luft ausgehen? Wessen Finger zuerst abgebissen?

Ja, und dann erzählt Bushido, dass er eigentlich davon träumt, in seinem Garten die Hecke zu schneiden und den Rasen zu mähen. Und dass er seine Mutti ganz doll lieb hat. Und den Udo Kier echt voll gut findet. Den gefährlichen Aggro-Rapper mimte stattdessen Udo Kier, indem er die arme Amelie Fried bösartigst disste: Bevor Sie auch nur eine ihrer Fragen vom Kärtchen ablesen konnte, leierte er einfach seinen Text runter – Warhol, Madonna, Los Angeles, Hollywood, reicht das ? –, versehen mit dem Hinweis, nie wieder kommen zu wollen, wenn er nicht als Erster an die Reihe kommt und überhaupt. So kann’s also gehen.

Plötzlich steht mein Freund neben mir und schaut mich ganz merkwürdig an. „Und, ist dir schön warm?“, fragt er. „Na und wie. Stell dir mal vor, der Bushido sitzt neben dem Kier. Das „H“-Wort fällt nicht einmal, und der Bushido hat keine Lust mehr auf Aggro mimen und will ein Haus in Zehlendorf, und der Kier hat hat sich eine alte Schule in Thüringen gekauft und findet, dass Ossis viel netter sind als alle anderen Menschen, außer Bushido, aber der ist doch nun wirklich ein typischer Westberliner. Erst große Klappe und dann Zehlendorf. Ich verstehe das alles nicht! Was ist denn hier los?“

Mein Freund schaut mich nur sanftmütig an, mit diesem typischen brandenburgischen Buddha-Blick. So, als hätte ich sie nicht mehr alle: „Was musst du dich auch immer gleich so hochschrauben? Ist dir schon mal aufgefallen, dass sich manche Ängste nur in deinem Kopf abspielen? Und ist dir auch warm?“

„Das mag ja alles sein“, antwortete ich, „aber gelernt ist nun mal gelernt“, ein Satz, der vielleicht von Ängsten, aber auch von der stillen Hoffnung genährt ist, eines Tages seine Ruhe zu haben, unbelästigt zu sein von kalten Ostwinden der Gehässigkeit und Aggressionen in glühenden Metropolen.

„Ist dir denn auch wirklich schön warm?“, fragt er mich schon wieder mit diesem Blick und ergänzt: „Und bist du dir denn auch sicher, dass deine Wahrnehmungen immer eins zu eins der Wirklichkeit entsprechen?“, fragt er. „Ja, verdammt, mir ist warm! Was soll das denn jetzt bitte?“ Er dirigierte meinen Blick nach links: Der Stecker des Heizkissens war überhaupt nicht in der Steckdose.

Kolumne 28

17.1.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Das taugt für eine schöne Ruine

Vom Besuch eines alten Herrn aus Bayern, der gekommen war, um sein Haus in Brandenburg aufzusammeln

Immer wenn mein Freund eine Ruine sieht, bekommt er ganz feucht-glänzende Augen. Er liebt Ruinen, und ich hoffe, dass es da keine Parallelen zu unserer Beziehung gibt, besonders dann, wenn ich nach einer kurzen Nacht in den Spiegel schaue.

Wie dem auch sei: Seit ich ihn kenne, lebe ich im Prinzip in Ruinen, die gerade einem Dauersanierungsprozess unterworfen sind. Ist der Prozess beendet, muss eine neue Ruine her, denn eine sanierte Ruine ist ja keine Ruine mehr.

Wenn wir über Land spazieren fahren, besichtigen wir Ruinen, was in Brandenburg eigentlich keine Kunst ist. LPG-Ruinen, Schlossruinen, Hausruinen. Und wenn wir mal in Urlaub fahren, dann schauen wir uns eben kaputte Häuser in Südfrankreich oder Polen an, wobei Polen diesbezüglich viel attraktiver ist.

Doch warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah: Krachte doch neulich das spätmittelalterliche Nachbarhaus einfach so in sich zusammen. Es hatte zwar mehrere Stadtbrände und Kriege, den Aufstieg und Niedergang Preußens sowie auch die Wiedervereinigung heil überstanden, nicht jedoch einen veritablen, nicht sofort reparierten Dachschaden, den gelangweilte Kids mit Brandenburg-Hintergrund durch Kokelei verursacht hatten. Niemand fühlte sich zuständig für die Reparatur, und der Besitzer war nicht zu ermitteln – aus Datenschutzgründen, wie man uns im Amt mitteilte. Wozu speichern die Leute eigentlich alles auf Vorrat, wenn doch wieder nichts im Haus ist, wenn man was braucht.

Der stolze Hausbesitzer wohnt eigentlich in Bayern und besucht uns jetzt immer. Leider erst jetzt, wo es bereits deutlich nach zwölf ist. Er ist an die 70 Jahre alt, und er liebt Ruinen. Ein stiller, bescheidener Herr ist er, der erst nach einem Schluck Riesling erzählt, dass er nachts immer von Ruinen träumt, schon sein ganzes Leben lang, solange er sich erinnern kann. Doch mit seiner Ruine im richtigen Leben hat er jetzt ein ziemliches Problem: die Hälfte des Hause liegt zum Beispiel gerade in unserem Garten. Die Autoritäten der Ackerbürgerstadt sitzen ihm im Nacken.

Er versucht nun, der Lage Herr zu werden, trägt Stein um Stein, Balken um Balken ab, versucht, Ordnung in den Haufen Schutt zu bringen. Und als ihn der Nachbar über den Zaun mit Sperrfeuer belegt und ihn, den Wessi aus Bayern, beschuldigt, dass sein Haus eine Schande für die Straße und darüber hinaus für die ganze Stadt sei, antwortet er nicht so, wie man das von einem Wessi aus Bayern in Brandenburg erwartet. Er müsste doch sagen: „Gerade ihr, die ihr hier über Jahrzehnte alles runtergewirtschaftet habt! Host mi, Saupreiß!“.

Aber er sagt gar nichts, kein Wort. Er lächelt eher unbestimmt als süffisant und geht weiter seiner diskret verzweifelten Aufräumtätigkeit nach. Ein „Immobilienspekulant“ aus Westdeutschland – ohne Kapital und in seinem Alter ohne Aussicht auf einen Bankkredit. Und auf der anderen Seite des Zauns ein Besserossi. Menschliche Ruinen gibt es ja überall zu besichtigen.

Beim dritten Schluck Riesling hatte unser bayerischer Wochenend-Arbeitsmigrant wie nebenbei erwähnt, was die Grundlage seiner nächtlichen Traumexpeditionen in Ruinenlandschaften sein könnte. Als Kind hatte er die Bombardierung Dresdens erlebt.

Ein Bayer mit innerdeutschem Migrationshintergrund und einer Leidenschaft für Ruinen? Bei uns ist er willkommen und bekommt auch immer etwas zu essen. Und das mit der Ruine: Das wird schon. Da muss ich meinem Freund doch nur in die Augen sehen.

Kolumne 27

20.12.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Bauer suchte Mann und fand ihn

Ostelbischer Großgrundbesitz kann belastend sein, wenn man sich nicht damit auskennt

Es gibt viele gute Gründe für schlaflose Nächte, aber dass nun ausgerechnet der braun-schwarze Thuja-Borkenkäfer (Phloeosinus aubei) einmal zu diesen gehören könnte – wer hätte das gedacht? Er besiedelt Zypressengewächse, Mammutbäume und den gemeinen Wacholder, wie das Brandenburger Landesamt für Landwirtschaft und Flurneuordnung mitteilte. Flurneuordnung ist das Stichwort: Mein Freund und ich sind jetzt ostelbische Großgrundbesitzer. Acht Hektar Land inmitten der Prignitz! Wenn wir möchten, können wir einfach einen Zettel hinterlassen, „Wir sind dann mal weg“, und Wanderungen durch die Mark Brandenburg auf dem eigenen Grundstück machen.

Ich hatte dieses larmoyante „Besitz ist ja so belastend“-Geheule bislang immer für einen ärgerlichen Ausdruck von Wohlstandsverwahrlosung gehalten. Und jetzt liege ich nachts wach und habe Angst, dass die Borkenkäfer uns fertigmachen. Wenn man im Reihenhaus groß geworden ist, braucht man ja in der Regel keinen Feldstecher, um bis ans Ende des Grundstücks schauen zu können. Da muss man sich ja auch erst mal daran gewöhnen, an die neue Rolle.

Zum Eingrooven habe ich mir erst mal „Namen, die keiner mehr kennt“ von Marion Gräfin Dönhoff gekauft. So als Ratgeberliteratur für Neujunker, aber die Lektüre hat mir auch nicht wirklich weitergeholfen: Soll ich mir jetzt eine Barbour-Jacke kaufen? Wild und Hundabonnieren? Brauchen wir jetzt einen Geländewagen?

Fragen über Fragen, nur mein Freund ist natürlich wieder die Ruhe selbst. Er sagt, dass dieses Stück Land ganz einfach ein Stück Sicherheit für unser Alter sei. „Ja was, sollen wir uns dann mit 67 zum Sterben auf die nackte Wiese legen oder wie?“, fragte ich, bevor es losgehen sollte: zum ersten Besuch auf der Scholle. Auch auf der Hinfahrt war ich einfach nicht zu beruhigen und dachte darüber nach, ob wir zwei beiden nicht wenigstens eine Sternfahrt nach Brüssel machen sollten, um für eine Erhöhung der Stilllegungsprämien zu demonstrieren. Die LPG, die das Grundstück derzeit „nutzt“, macht das ja schließlich genau so: Sie zahlt Pacht und macht dabei Gewinn, aber nicht etwa, indem sie dort etwas anbauen würde oder Viehzucht betriebe. „Wenn Landwirtschaft so geht, dann kann ich das auch“, sagte ich, „ein paar Mails schreiben und Formulare ausfüllen, schon ist man EU-Bauer.“

Also dann weniger Barbour-Jacke, sondern mehr so „Bauer sucht Frau“-Outfit? Mustang-Jeans mit Karohemd und Gummistiefel?

Als wir dann endlich vor dem Grundstück standen, musste ich feststellen, dass es genau zwischen einem Friedhof und einem Golfplatz gelegen ist. Einem Golfplatz in Brandenburg! Bauerland in Yuppie-Junkerhand? Wobei die Einputtenden mit ihren SUV’s eher den Eindruck erweckten, als ob sie ihr Geld mit illegalen Pornoseiten und Investmentfonds machten anstatt mit Kartoffelschnaps.

Wir nahmen dann unser Land in Besitz, indem wir es gemeinsam abschritten. Ich war zwar immer noch nervös, weil ich Angst vor vagabundierenden Golfbällen hatte, aber man muss sagen: Ostelbischer Großgrundbesitzer sein ist ganz o.k. so weit. Auch die Sache mit dem Borkenkäfer stellte sich als undramatisch heraus: Kein Wacholder nirgends, und Mammutgewächse und Zypressenbäume findet man auch in Brandenburg eher in Reihenhaus-Vorgärten, nicht auf stillgelegten LPG-Flächen.

Wenn die Borkenkäfer sich weiterhin brav auf dem Nachbar-Friedhof verlustieren, haben wir auf unseren acht Hektar genug Platz für andere Viechereien: „Equus ferus caballus“ und „Capra hircus hircus“. Kennen Sie nicht? Pferd und Ziege. Wir Junker reden eben manchmal etwas geschwollen. Besitz verändert ja auch. Die Verantwortung, verstehen Sie?

In diesem Sinne: Es lebe das heilige Deutschland. Mein letztes Problem besteht jetzt nur noch darin, eine Steckdose für den Elektrorasenmäher zu finden. Die Mäherei bleibt ja sowieso wieder an mir hängen.

Ackerbürger bleibt eben doch Ackerbürger.

Kolumne 26

27.9.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Raumpioniere auf dem Treck nach Osten

Im Wilden Osten treffen zugereiste Cowboys auf maulfaule Indianer. Wer sind denn nun die Guten?

Dank Deutschlandradio haben wir endlich den Sinn unseres Brandenburger Daseins erfahren: Wir sind Raumpioniere. Laut Radio-Beitrag hat der Brandenburger Forscher Ulf Matthiesen in seiner Denkerstube eine Art Gegenmittel entwickelt, nämlich gegen die Abwanderung, von der ganz Ostdeutschland und besonders Brandenburg heimgesucht wird. Es gehen die Klugen, Jungen – und/oder bzw. sowohl als auch – Frauen. Es bleibt die DDR, also DER DUMME REST. Da wir jedoch nicht geblieben sondern gekommen sind, gehören wir zu den Raumpionieren. Siedler, die wie damals im amerikanischen Wilden Westen die leeren Landschaften besiedeln. Mit „neuen Ideen, guter Ausbildung und dem Enthusiasmus der Neuankömmlinge“.

Da haben wir ja gerade noch mal Glück gehabt. Wir sind die Cowboys vom Brokeback Mountain und die Rest-Ossis sind die Indianer. Mit dem Feuerross namens Regionalexpress penetrieren wir jedes Wochenende die endlosen, kargen Sandsteppen, stets den „myth of the frontier“ vor Augen, wenn nicht gerade eine Wanderdüne das Gleis blockiert. Oder durchgeknallte Berliner, die sich bei schönem Wetter schon mal raustrauen aus der Großstadt und jeden Zentimeter Grün platt trampeln: Familien suchen Steinpilze, jüngere Herrschaften eher Magic Mushrooms. Beide enden zumeist in der Dorfschänke und bestellen Schnitzel mit Champignons aus der Dose. Amateure, die sich ungefähr so ungelenk anstellen wie Taschendiebe aus dem Londoner East-End des 19. Jahrhunderts, die sich auf dem Weg nach Kalifornien mit dem Planwagen verfahren haben.

Wir sind da schon viel weiter. Unsere Einrichtung zum Beispiel haben wir schon von Landhaus- auf Kolonial-Stil umgerüstet. Laura Ashley wird sowieso überbewertet, und so eine Holzfigur mit schwarzem Butler, der ein Tablett hält, ist sehr praktisch, um die Teetasse abzustellen. Letztendlich ist unser Leben in dieser Lesart nur die Fortführung des interessanterweise gerade in linken Kreisen so beliebten Gesellschaftsspiels „Die Siedler von Katar“, bei dem es darum geht, aus einem Naturreservat möglichst viele Rohstoffe und Anbauerträge herauszupressen, um anschließend alles mit Immobilien zuzupflastern. Na ja, in den 80er-Jahren hantierte man auf dem Brett noch mit Atombomben – „Risiko“ –, heute geht es wenigstens nur noch ums Häuslebauen.

Dennoch will die Geschichte nicht vergehen. Schon der Alte Fritz, Friedrich der Große mit seiner Kartoffelnase, dessen persönliches Brokeback Mountain mit Freund Katte von seines Vaters strenger, mörderischer Hand verhindert wurde, musste sein ärmliches Ländchen „peublieren“, weil niemand in ihm wohnen wollte. Und eroberte sich blödsinnigerweise noch gleich ein europäisches Großreich dazu, anstatt erst mal genügend Statisten für sein heimisches Reich zu casten. Das ist zwar lange her, aber wie man ja sieht, will immer noch niemand in Brandenburg wohnen. Oder schon wieder nicht. Stattdessen stehen sie sich in Berlin, dem riesigen Raumschiff inmitten der märkischen Streusandbüchse, alle auf den Füßen herum, kläffen sich an und bekommen Neurodermitis. Wenn zum Beispiel Westberliner mal aufs Land wollen, fahren sie in den Harz oder gleich nach Schweden.

Dabei winkte doch gar nicht weit entfernt Brandenburger Gastlichkeit mit dem Slogan „Kommse rin, könnense rauskiecken“. Herrliche Seenlandschaften, Spargel, ornithologische Kostbarkeiten vom Kranich bis zum Storch, malerischer Preußenplunder und – wenn man sich nicht doof anstellt – tonnenweise Pilze. Die potenziellen Siedler haben jedoch eine Heidenangst vor den „Indianern“, den „Fremden“ und „Anderen“, die man im Grunde alle für rechtsradikal hält. So ist das mit Stereotypen, ein Körnchen Wahrheit steckt meistens in ihnen – selbstverständlich gibt es in Brandenburg Neonazis –, aber die Mehrheit der Steppenbewohner zeichnet sich durch zurückhaltende, fast scheue Maulfaulheit aus. Ihr Vertrauen zu gewinnen, ist gar nicht so leicht. Also, ihr urbanen Cowboys: nur Mut.

Kolumne 25

1.8.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Die Rückkehr der Weltreligionen

Der Dalai Lama hat es nicht bis zu uns geschafft, doch die Zeugen Jehovas scheuten keine Mühen

Bischof Huber wird das nicht gerne hören, aber Brandenburg ist ein ziemlich gottloser Herrgottswinkel. In unserer Ackerbürgerstadt ist das schöne Backstein-Pfarrhaus längst verwaist und im Kirchturm nisten prächtige weiße Eulen. Nur die Katholiken halten sich wacker, sie hausen am Ortseingang wie andernorts die Sekten. In einem schmucklosen Gebäude fristen sie ihr bedrängtes Dasein in der protestantisch-atheistischen Diaspora.

Doch nun, da die Weltreligionen auf dem Rückweg sind, das scharfe Schwert der Gegenaufklärung führend, klopfen sie auch bei uns an die Tür. Nein, nicht der Dalai Lama und auch nicht der Islam. Die Zeugen Jehovas.

„Guten Tag, wir wollten uns mit Ihnen über den Glauben unterhalten“, sagten die in grau-beige Anoraks verpackten Damen, die extra mit der Regionalbahn angereist waren. Mein Freund dachte schon, es wäre das Denkmalschutzamt, weshalb ich vorgeschickt wurde. „Lassen Sie mich raten: Zeugen Jehovas?“, fragte ich und erntete ein schüchternes Nicken – so schnell rücken die ja sonst nicht mit dem Firmennamen raus, die Menschen haben Vorurteile. Apropos: Nach Scientologen sahen die beiden nun wirklich nicht aus. Die haben schließlich genug Geld, um sich ihre Klamotten im KaDeWe zu kaufen. Und würden wohl auch nie auf die Idee kommen, ausgerechnet in unserem kargen, ärmlichen Örtlein Nachwuchs zu rekrutieren.

„Ja also, ich sage Ihnen gleich: Sie wollen ganz bestimmt nicht, dass wir in Ihrem Klub Mitglied werden. Wir sind homosexuell, müssen Sie wissen.“ Das mussten sie nun wissen und erröteten: „Oh, äh, das ist aber schön. Also, dass Sie so offen zu uns sind.“ Geschenkt. Doch die Damen blieben auch unter der Last der ungeschminkten weltlichen Wahrheit aufrecht: „Sie müssen wissen, dass uns dies, wie alles Menschliche, nicht fremd ist. Wir kennen manche in unserer Gemeinde, die geschafft haben, eszu überwinden, und den Weg zurück zu Gott fanden.“ Nun musste ich das also wissen und auch ich errötete. Ich bekomme dann so hektische rote Flecken, und auf der Stirn schwillt bedrohlich eine Ader: „Wissen Sie, diese evangelikal-christoiden Umerziehungsmethoden sind mir bekannt. Die Leute werden seelisch entkernt und landen am Ende in der Psychiatrie, werden Alkoholiker oder bringen sich einfach um. Sich selbst zu verleugnen hat einen Preis“, erklärte ich. „Ach, damit kennen Sie sich auch aus?“, fragten die Damen. Und ob!

Zum Kongress der Zeugen Jehovas in Berlin solle ich doch bitte kommen, dort sei Näheres zu erfahren. „Vielen Dank, aber da gehe ich lieber zum Fachkongress der Urologen, der ist auch demnächst. Auch über Urologen machen die Leute ja ganz gerne Witze, genauso wie über Schwule oder über Zeugen Jehovas. Ich weiß, dass Sie das hier machen müssen, und in einer Sekte zu sein ist auch nicht leicht. Aber trösten Sie sich, der Papst hat gerade sämtliche protestantischen Kirchen zu Sekten erklärt, seien ja im Grunde keine richtigen Kirchen. Sie befinden sich also in guter Gesellschaft, weiter so. Die Welt wird sicher mal untergehen. Das wird schon!“

„Sag mal, was treibt Ihr denn da eigentlich“, tönte es aus dem Nebenzimmer, wo mein Freund gerade die Frauenbeauftragte einer physiotherapeutischen Behandlung unterzog, „das mit dem Denkmalschutzamt habe ich doch schon längst geklärt!“ Leise vernahm man die Frauenbeauftragte: „Jaja, der Papst. Will immer selbst schöne Kleidchen tragen und die Frauen nicht an den Altar lassen.“

Nach Zeugnisnahme all dieser Bekundungen sprachen die Damen ihren Segen und suchten das Weite – jedoch nicht ohne eine Kongress-Einladung zu hinterlassen. Die Einladung ziert ein in bunt-pastelligen Tönen gemalter, ziemlich knackiger Herr mit modisch gestutztem Vollbart. Sieht aus wie ein „Pierre & Gilles“-Kunstwerk, das wir uns im Original niemals werden leisten können. Es hängt jetzt im Schlafzimmer. Mag sein, dass die Weltreligionen zurückkehren. Zu uns kommen sie jedenfalls nicht mehr.

Kolumne 24

5.7.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Bratwurst im Bärlauch-Style

Laut UNO wohnen immer mehr Menschen in Großstädten. Leider bleiben sie nicht, wo sie sind

Unsere kleine Ackerbürgerstadt wird jetzt richtig mondän. Am See wurde ein neues Wellness-Chichi-Hotel eröffnet. Neulich war Einweihung, sodass mein Freund und ich uns entschieden, für diesen einen Abend unsere Wirtinnen aus den Altstadt-Stuben zu betrügen: Wenigstens einmal chic urban ausgehen!

Mein Freund musste raus aus seiner Handwerkerkluft und rein in die Wurstpelle, nicht dass man sich am Ende noch hätte schämen müssen. Gerüchteweise haben die neuen Besitzer was mit Film und Fernsehen zu tun. So ähnlich war dann auch die Gästeliste. Lauter verwirrte Berlin-Mitte-Opfer mit Röhrenjeans und Neo-Mod-Bob stolperten verzweifelt an der Uferböschung entlang, bis sie endlich wieder vertrautes Terrain unter den goldenen Puma-Sneakers hatten: die Lounge-Zone mit weißem Mobiliar: „Entschuldigung, wo ist denn hier der VIP-Bereich?!“

Mein Freund war denn auch völlig fertig mit den Nerven. An der DDR-Beton-Seebrücke, wo er dereinst zum Schulschwimmen hinmusste, liegt jetzt eine Jacht vertäut, „die dereinst von Hildegard Knef für Wochenendausflüge genutzt wurde“. Das Hotel, in dem er als kleiner Junge immer Eintopf für 50 Pfennig gegessen hat, ist nunmehr ein bläulich illuminerter gastrokommerzieller Erlebnisbereich. Er ist einfach zu sensibel für so etwas.

Doch als ich mir dann einen Wodka Lemon bestellte und ein Stirnrunzeln erntete, das verdächtig nach „Hamwa nich“ aussah, begann ich zu ahnen, dass es mit der Hotelverwandlung so ähnlich bestellt sein muss wie mit der Wiedervereinigung: Überall frischer Beton und neue Deko, aber das Personal bleibt.

Um die Speisekarte auf Herz und Nieren zu überprüfen, packten wir als Nächstes den Koch am Schlafittchen, der, statt am Herd zu stehen, auf der Uferterrasse herumvagabundierte – auf erheiternde Weise angeheitert erläuterte er uns das Food-Concept in breitestem Brandenburgisch: „Allet regjonal. Na, und der Füsch, den holn wa direkt vonna Ostsee. Nisch böse sein, wenn dit denn ooch mal 16 Euro kosten. Man muss den ja ooch filetieren und allet!“ Wie jetzt? Wir dachten Pan Asia und Trans California? „Nee. Also. Nee. Ditt nu nich.“

Wenig später stellte sich heraus, dass die Abwesenheit des Kochs von seinen Töpfen an diesem Abend zumindest Teil des Konzepts war. Nichts mehr zu essen, sogar die „Bratwurst im Bärlauch-Style“ – der Snack, der Eingeborene und In-Crowd-Publikum auf einen Nenner hätte bringen können – war alle. Typisch Brandenburg: Um Punkt neun Uhr gehen die Mamsellen nach Hause, und die Küche ist kalt.

Und jetzt? Wir schämten uns ein wenig, weil wir unsere Wirtinnen im Regen hatten stehen lassen, und erwogen sogar, zur kilometerweit entfernten Mc-Donald’s-Filiale an der Autobahn zu fahren. Das wäre die gerechte Strafe dafür gewesen, dass wir uns in diese Eventfalle begeben hatten: wie die Motten auf der Glühbirne.

Am Ende krochen wir reumütig zurück in unsere vertraute Wirtsstube und bestellten „Schnitzel Champignons“ wie immer – das wir auch prompt geliefert bekamen, obwohl die 9-Uhr-Demarkationslinie bereits deutlich überschritten war. Die Wirtsstube war gähnend leer, alle Stammgäste waren am See. Und dann noch die erschütternde Neuigkeit, dass die Tochter des Hauses in der Klinik liegt – sie war im Urlaub auf dem Balkan zusammengeklappt: „Die Ärzte dort haben nur mit dem Kopf geschüttelt. Die verstehen das einfach nicht. Die Leute aus Deutschland kommen dort an und brechen einfach zusammen“, erzählte die Wirtin. Die einzige Ärztin der Ackerbürgerstadt nimmt wegen Überlastung keine Termine mehr an.

In die folgende Stille unseres Abendessens drangen plötzlich seltsam vertraute Geräusche. Die Schwestern hatten ihre einzige CD von Barbra Streisand herausgeholt – die in der Großstadt zeitgleich ihr einziges Konzert in Deutschland gab. Extra für uns?

Unsere Ackerbürgerstadt hat ihren eigenen Glamour. Und die Großstädter, „Schrippen“ genannt, können mit ihren SUVs bleiben, wo der Pfeffer wächst.

Kolumne 23

25.6.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Zeit für den Ackerbürger-Pride

In unserer Kleinstadt gibt es noch keinen CSD, also muss man nach Berlin fahren. Das wird sich ändern

Der CSD ist wie Weihnachten. „Unser“ größter Feiertag, das große Familienfest. Im Vorfeld wird die Weihnachtsgeschichte erzählt: „Es begab sich zu jener Zeit in der New Yorker Christopher Street, dass die Schwulen und Lesben aufstanden, um sich gegen ihre Unterdrückung zur Wehr zu setzten“. Dann brezelt man sich auf und geht auf die Straße. Zu essen gibt es statt der Weihnachtsgans Bratwurst und statt des Weihnachtspunschs gibt es Caipirinha und Red Bull mit Wodka – man kann ja nicht schläfrig unter dem Christbaum herumlungern, sondern latscht durch die Innenstadt, was in Berlin ein ziemlicher Ritt ist.

Mein Freund mag eigentlich keine Familienfeste und blieb lieber in unserer brandenburgischen Ackerbürgerstadt. Er hatte auch eine gute Ausrede: Der ÖPNV in Richtung Berlin hatte sich über das Wochenende in einen SEV verwandelt: „Schienenersatzverkehr.“ Wegen SEV keine Zeit für die GV-Parade, ja, ja.

Eigentlich läuft es ja darauf hinaus: Man geht auf die Straße, damit man nicht aufgrund der Art und Weise, in der man Geschlechtsverkehr betreibt, fertiggemacht wird. Man beschämt die Zuschauer mit mehr oder weniger offensiver sexueller Zurschaustellung, um ihnen zu verdeutlichen, dass man sich nicht für seine Sexualität schämen möchte – und solange das immer noch so ist, trotz aller deutlichen Fortschritte, ist das sommerliche Weihnachtsfest auch mehr als nur eine Party. Aber eine Party ist es auch. Warum auch nicht? Manchmal feiert man doch auch einfach nur, dass es einen gibt.

Mein erster CSD war ein unglaublich berührendes Erlebnis: Wir sind so viele! Ich bin nicht allein! Und auch heute noch ist es ein tolles Gefühl, dabei zu sein. Am Straßenrand stehen die paradenfreudigen Berliner und digitalisieren alles, Familien kommen mit ihren Kindern, Touristen freuen sich, dass etwas los ist in der guten Stube Berlins. Die meisten von ihnen wissen wahrscheinlich nicht so richtig, worum es eigentlich geht – aber sie werfen auch nicht mit Steinen oder spucken.

Mein erster CSD, das war in den Neunzigerjahren, und damals galt noch das Motto „Schwul ist cool“. Mein Coming-out wurde denn auch von einigen Freunden zunächst gar nicht ernst genommen – man hielt es für einen Ausdruck übertriebener Trendaffinität. Aber auf Trends ist eben nie Verlass. Heutzutage gilt „Kinder sind Zukunft“, und wenn der Papst etwas zu melden hat, steht es nicht mehr unter „Vermischtes“, sondern im Politikteil. Die Schwulen und Lesben stehen dafür unter „Buntes aus aller Welt“. Schrill und so.

Im VIP-Bereich rund um die Siegessäule, umzäunt und von gestrengen Weisungsbefugten bewacht, versammelten sich gegen Ende der Parade die politisch aktiven Schwulen und Lesben – eine Minderheit innerhalb der Minderheit. Wackere Kämpfer, die stetig an den Stellschrauben arbeiten, damit der gesellschaftliche Druck auf sexuelle Minderheiten geringer wird. Die meisten dieser Menschen wollen ja einfach nur in Frieden gelassen werden und ihr Leben leben.

Ausgerechnet im VIP-Bereich traf ich dann Nachbarn aus der Ackerbürgerstadt! Ein Verleger, sozusagen ein schwuler Hugh Hefner, mit seinem Freund. Wir wussten gar nicht, dass wir Nachbarn sind und wollen uns demnächst mal treffen. Die beiden kennen sogar einige wenige Homos aus der Stadt, wir kennen einen. Zusammen wären wir also schon mal mindestens sieben. Für eine kleine Parade in der Ackerbürgerstadt reicht das locker – jetzt wird alles anders.

Die Drinks mixen wir zu Hause vor und füllen sie in Wasserflaschen, die Bratwürste kann man ja unterwegs auch kalt essen. Ghettoblaster auf Großmutters alten Bollerwagen und los geht’s. Motto: „Bürger auf die Äcker, die Stadt gehört heut uns.“ Zu radikal vielleicht, aber da kann man ja auch vorher ein Gremium einberufen. Dazu bräuchten wir dann aber auch Lesben, die hiermit aufgerufen werden, sich bitte bei uns zu melden.

Das Beste an diesem CSD wird sein, dass mein Freund sich nicht wieder drücken kann. Er muss die Weihnachtsgeschichte auf dem Marktplatz verlesen. Beschlossen.