23.5.2006
MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER
Tarnkappenbomber nach Brandenburg
No-go-Areas? Man kann überall hingehen, es kommt nur darauf an, wie man sich bewegt
Wochenende, jetzt geht es schön gepflegt in die No-go-Area, nach Brandenburg, mitten rein in den speckigen Gürtel Berlins, nicht zu Fuß, sondern mithilfe sämtlicher Varianten des ÖPNV.
Schönleinstraße. U-Bahn-Linie 8, von Neukölln aus in Richtung Wedding. Mit schwerem Freizeitsturmgepäck in der Vierersitzgruppe, um mich herum drei Migrationshintergrund-Mädels mit Kulleraugen. Sagt die eine: „Guck mal, ich sitze am liebsten so in der Bahn“, und schlägt ihre Beine graziös übereinander, sagt die andere: „Ja, okay, aber bei Männern sieht das echt voll schwul aus.“ Nun quietschen alle wie Meerschweinchen, die niedlichen Gören – den breitbeinig inmitten ihrer thronenden Homo einfach ignorierend: Wäre es jetzt nicht an der Zeit für ein aufklärendes Gespräch, sensibel und bestimmt? Es sind ja noch Kinder und vielleicht …? Ich bin so müde. „Dü gübts hür nüscht“, sagt der Breitmaulfrosch zum Storch, der ihm auf den Fersen ist, um als Spitzmaulfrosch durchzukommen. So müde.
Gesundbrunnen. S-Bahn vom Wedding in Richtung Hennigsdorf. Eine Gruppe arabischstämmiger Jungs betritt den Waggon, tipptopp gezupfte Augenbrauen, rosa T-Shirts, kleine Knackärsche in weißen, eng anliegenden Hosen, „GUCK MAL DA, DIE SCHWULE SAU“. Schweißausbruch: Hatte ich doch eine Sekunde zu lange aufgeschaut, womöglich einem von ihnen zu lange in die adrett bewimperten Augen geschaut? Nein, sie zeigen nach draußen, wummern an die Scheibe, denn auf dem Bahnsteig geht ein junger Mann vorbei, der eigentlich genauso aussieht wie sie selbst, aber mit trippelnden Schrittchen und wiegenden Hüften. Die übermüdete andere schwule Sau mit dem Dreitagebart, Jeans und schwarzem T-Shirt blieb unerkannt. „Dü gübts hür nüscht.“
Hennigsdorf. Regionalbahn in Richtung Rheinsberg. Wer hat wohl jetzt seinen Auftritt? Hm? Und schon sitzen sie im gleichen Waggon. Glatzen, Lonsdale, Hakenkreuztätowierung auf Stiernacken, Bierdosen – das ganze Programm eben. Praktisch meine Frisur, sie spart den Gang zum Coiffeur und erleichtert das Leben in der No-go-Area, wenn nur die verräterische „Zecken“-Brille nicht wäre und die aufgeschlagene Zeitung südwestdeutscher Provenienz. Desinteressiert tun, Beine NICHT übereinander schlagen, nicht mit dem Handgelenk schlackern, bloß kein Collier-Griff jetzt. Müsch gübts hier gar nüscht.
Bahnhof der brandenburgischen Ackerbürgerstadt, die hier nicht genannt wird, sonst googelt mich noch einer, man kann nie wissen. Zu Fuß in Richtung Marktplatz. Neben einer stillgelegten Werkstatt feiern stämmige Jungmänner mit Bier und Grillwurst und stieren. No-go-Area? Es kommt einfach nur darauf an, WIE man(n) geht. Brust raus, Schultern gerade. Fester, schneller Schritt mit sicherem Tritt, Augen geradeaus, ein ungewisses Ziel vor den Augen. Nicht nur Hunde spüren, wenn man Angst hat.
Endlich im sicheren Hafen, mein Freund steht vor dem Haus, weil er noch einen Balken einziehen muss. Ich freue mich, ihn zu sehen, und haue ihm auf den muskulösen Arm, „Na, Alter, allet klar?!“ Gegenüber stehen die Opel-Vectra-Boys.
Wenn man sich „richtig benimmt“, passiert einem auch nichts. Einfach die Tarnkappe überziehen, dann klappt’s auch mit den Nachbarn.
Ob nun Neukölln oder Brandenburg – es handelt sich um No-Show-Areas.
Die Schwulen haben sich einfach längst daran gewöhnt, es ist ein uraltes, überliefertes Wissen, das von Generation zu Generation weitergegeben wird: Sei vorsichtig, sonst bekommst du ein paar aufs Maul. Die Angst fährt immer mit, und man hält das für völlig normal.
Freiheit und Sicherheit nur dank heterosexueller Vorannahme, mit „dü gübts hür nüscht“ kommt ein Mensch mit anderer Hautfarbe allerdings nicht weit. Uns bleibt wenigstens die Selbstverleugnung. Und abends, wenn alle Vorhänge zugezogen sind, darf man sich auch ruhig mal in den Arm nehmen. Diese Müdigkeit, die einen als schwule Sau ab und an überkommt. Gute Nacht. Und morgen früh geht’s dann auch wieder.