Kolumne 12

23.5.2006

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Tarnkappenbomber nach Brandenburg

No-go-Areas? Man kann überall hingehen, es kommt nur darauf an, wie man sich bewegt

Wochenende, jetzt geht es schön gepflegt in die No-go-Area, nach Brandenburg, mitten rein in den speckigen Gürtel Berlins, nicht zu Fuß, sondern mithilfe sämtlicher Varianten des ÖPNV.

Schönleinstraße. U-Bahn-Linie 8, von Neukölln aus in Richtung Wedding. Mit schwerem Freizeitsturmgepäck in der Vierersitzgruppe, um mich herum drei Migrationshintergrund-Mädels mit Kulleraugen. Sagt die eine: „Guck mal, ich sitze am liebsten so in der Bahn“, und schlägt ihre Beine graziös übereinander, sagt die andere: „Ja, okay, aber bei Männern sieht das echt voll schwul aus.“ Nun quietschen alle wie Meerschweinchen, die niedlichen Gören – den breitbeinig inmitten ihrer thronenden Homo einfach ignorierend: Wäre es jetzt nicht an der Zeit für ein aufklärendes Gespräch, sensibel und bestimmt? Es sind ja noch Kinder und vielleicht …? Ich bin so müde. „Dü gübts hür nüscht“, sagt der Breitmaulfrosch zum Storch, der ihm auf den Fersen ist, um als Spitzmaulfrosch durchzukommen. So müde.

Gesundbrunnen. S-Bahn vom Wedding in Richtung Hennigsdorf. Eine Gruppe arabischstämmiger Jungs betritt den Waggon, tipptopp gezupfte Augenbrauen, rosa T-Shirts, kleine Knackärsche in weißen, eng anliegenden Hosen, „GUCK MAL DA, DIE SCHWULE SAU“. Schweißausbruch: Hatte ich doch eine Sekunde zu lange aufgeschaut, womöglich einem von ihnen zu lange in die adrett bewimperten Augen geschaut? Nein, sie zeigen nach draußen, wummern an die Scheibe, denn auf dem Bahnsteig geht ein junger Mann vorbei, der eigentlich genauso aussieht wie sie selbst, aber mit trippelnden Schrittchen und wiegenden Hüften. Die übermüdete andere schwule Sau mit dem Dreitagebart, Jeans und schwarzem T-Shirt blieb unerkannt. „Dü gübts hür nüscht.“

Hennigsdorf. Regionalbahn in Richtung Rheinsberg. Wer hat wohl jetzt seinen Auftritt? Hm? Und schon sitzen sie im gleichen Waggon. Glatzen, Lonsdale, Hakenkreuztätowierung auf Stiernacken, Bierdosen – das ganze Programm eben. Praktisch meine Frisur, sie spart den Gang zum Coiffeur und erleichtert das Leben in der No-go-Area, wenn nur die verräterische „Zecken“-Brille nicht wäre und die aufgeschlagene Zeitung südwestdeutscher Provenienz. Desinteressiert tun, Beine NICHT übereinander schlagen, nicht mit dem Handgelenk schlackern, bloß kein Collier-Griff jetzt. Müsch gübts hier gar nüscht.

Bahnhof der brandenburgischen Ackerbürgerstadt, die hier nicht genannt wird, sonst googelt mich noch einer, man kann nie wissen. Zu Fuß in Richtung Marktplatz. Neben einer stillgelegten Werkstatt feiern stämmige Jungmänner mit Bier und Grillwurst und stieren. No-go-Area? Es kommt einfach nur darauf an, WIE man(n) geht. Brust raus, Schultern gerade. Fester, schneller Schritt mit sicherem Tritt, Augen geradeaus, ein ungewisses Ziel vor den Augen. Nicht nur Hunde spüren, wenn man Angst hat.

Endlich im sicheren Hafen, mein Freund steht vor dem Haus, weil er noch einen Balken einziehen muss. Ich freue mich, ihn zu sehen, und haue ihm auf den muskulösen Arm, „Na, Alter, allet klar?!“ Gegenüber stehen die Opel-Vectra-Boys.

Wenn man sich „richtig benimmt“, passiert einem auch nichts. Einfach die Tarnkappe überziehen, dann klappt’s auch mit den Nachbarn.

Ob nun Neukölln oder Brandenburg – es handelt sich um No-Show-Areas.

Die Schwulen haben sich einfach längst daran gewöhnt, es ist ein uraltes, überliefertes Wissen, das von Generation zu Generation weitergegeben wird: Sei vorsichtig, sonst bekommst du ein paar aufs Maul. Die Angst fährt immer mit, und man hält das für völlig normal.

Freiheit und Sicherheit nur dank heterosexueller Vorannahme, mit „dü gübts hür nüscht“ kommt ein Mensch mit anderer Hautfarbe allerdings nicht weit. Uns bleibt wenigstens die Selbstverleugnung. Und abends, wenn alle Vorhänge zugezogen sind, darf man sich auch ruhig mal in den Arm nehmen. Diese Müdigkeit, die einen als schwule Sau ab und an überkommt. Gute Nacht. Und morgen früh geht’s dann auch wieder.

Kolumne 11

6.4.2006

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Dank an die Gleichstellungsbeauftragte

Berlin und Brandenburg sollen wiedervereinigt werden? Haben wir schon lange gemacht

Es nützt überhaupt nichts, aus Berlin wegzurennen, denn früher oder später kriegt einen die Stadt wieder, erst recht wenn man es auf der Flucht bloß bis ins brandenburgische Umland geschafft hat. Dort angekommen, sieht man die Großstadt nachts noch giftig-orange am Horizont schimmern, drohend und anziehend zugleich.

Wenn es nach ihrem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit geht, ist bald sowieso alles zu spät: BeBra ante portas, die Vereinigung von Berlin und Brandenburg soll nun endlich mal klappen. Unddasistauchgutso: Dieses doppelt administrierte Rest-Preußen ist sowieso „eine Wolke“, auch wenn dies aufgrund gewisser geschichtlicher Verwerfungen vorübergehend in Vergessenheit geraten war, bloß märkische Sandkörner im Auge des Betrachters: Die Häuser in Brandenburg sind kleiner und der Dialekt eher hell-kläffend als gut berlinisch bellend. Außerdem gibt es keine U-Bahn.

Man muss stattdessen den Regional-Express nehmen, dieselgetriebene Brotbüchsen mit unfreundlichen Schaffnerinnen, die einen zwingen, den bordeigenenen Fahrscheinautomaten zu benutzen. Womit sie sich überflüssig machen, aber unfreundlich waren sie schon vor Einführung der Automaten. Jedenfalls: Die Stadt kommt zum Land.

Am Wochenende sowieso. Auf den Landstraßen sind überall Kennzeichen-B-Fahrer, die überfordert sind, wenn sie mehr als 50 Kilometer pro Stunde zurücklegen sollen. Sie parken stattdessen und stolpern verwirrt durch die Wälder um Pilze zu sammeln, ganz egal, welche Jahreszeit gerade ist. Ganz wie bei Kaiser’s eben. Wenn sie damit fertig sind, verursachen sie einen Stau am Autobahndreieck Havelland.

Dann gibt es noch die Wochenend-Landeier, solche Menschen wie mich zum Beispiel. Feiglinge, die groß rumtröten, wie toll doch das Landleben ist, um dann sonntagabends schnell in Richtung Stadt zu entfliehen, das Stroh noch unter den Ledersohlen klebend und den Rucksack voll mit Eiern von glücklichen Hühnern.

Landleben mit Vollkasko.

Und dann ist da noch mein Freund. Der kann sich nun wirklich nicht entscheiden. Beim Holzhacken summt er ständig „Downtown“ von Petula Clark: „There are Movie Shows: Downtown!“ Unter der Woche steht er dann plötzlich abends vor der Tür und will mal „was unternehmen“. Doch schon am U-Bahnhof Kottbusser Tor findet er das alles ganz schön schlimm und im Möbel Olfe ist es dann viel zu laut und zu voll und überhaupt ist alles grau und doof.

Dieser Multioptions-Quatsch macht einen eben völlig gaga in der Birne, vor allem wenn die Grenzen zwischen den Wahlmöglichkeiten immer mehr verwischen. Die Suburbanisierung der brandenburgischen Provinz ist eindeutig fortschreitend: Auch „unsere“ Ackerbürgerstadt (7.500 Einwohner!) wird allmählich urban.

Es gibt dort zum Beispiel eine Gleichstellungsbeauftragte (demnächst veranstaltet sie einen Gesprächskreis zum Thema Osteoporose). Bald schon soll ein Go-Cart-Rennplatz errichtet werden und noch in diesem Monat wird die „Kulturscheune“ ans Netz gehen, ein alternativer Veranstaltungsort mit „französischen Chansons und Rotwein“, der auf keinen Fall Familienfeiern beherbergen möchte. Neulich habe ich sogar einen leibhaftigen Migranten gesehen. Wenn das so weitergeht, eröffnet am Ende auch noch eine ausgewiesene Homo-Bar.

Was soll das dann überhaupt noch mit dem Landleben, wenn es nicht mehr klar identifizierbar ist? Bloß noch eine Attitüde im Landhausstil?

Meinetwegen können Berlin und Brandenburg ruhig wiedervereinigt werden. Früher musste sich unsereins in die Zentren der großen Städte flüchten, um in Frieden existieren zu können. Heute ist es längst umgekehrt: Wir strömen aus den Zentren aufs Land und stören ein wenig den Frieden, um am Ende friedlich miteinander zu leben. Es nützt eben überhaupt nichts, vom Lande in die Großstadt wegzurennen. Am Ende kriegt einen das Land wieder: grüne Natur, nachts totenstill, anziehend und drohend zugleich.

Kolumne 10

9.3.2006

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Freie Sicht auf freie Bürger

Seitdem Omas Gardinen weg sind, sind wir die Big Brothers der Kleinstadt. So sieht es jedenfalls die Jugend von heute

Weg mit den alten Zöpfen: Großmutters Spitzengardinen haben wir endgültig abgehängt, in ihrem ehemaligen Zimmer ist nun ein Wohn- und Arbeitsraum. Von dort aus hat man einen schönen Blick auf die mit Kopfsteinpflaster belegte Straße, in der die ältesten Häuser des kleinen Städtchens stehen. Umgekehrt funktioniert es auch ganz gut. So hat sich neulich die schwer gelangweilte, kleinstädtische Jugend vor unserem Fenster versammelt, um mal zu gucken, wie wir so gucken. So besonders viel passiert ist nicht, wir haben bloß Linsensuppe gegessen.

Bei „Big Brother“ ist das eigentlich nicht anders, bloß dass ab und zu mal jemand duschen geht. Bei uns liegt das Badezimmer allerdings im ersten Stock, absolut tote Hose. Keine sexuellen Ausschweifungen, kein Krach, nichts. Dennoch scheint die örtliche Jugend die Faszination des wirklichen Lebens für sich entdeckt zu haben, wenn auch nur über den Umweg des Fernsehens. Aber warum kulturkritisch daran herumnörgeln, ist doch schön, wenn sich die jungen Menschen interessieren und Fremdem gegenüber aufgeschlossen sind.

In der kleinen Ackerbürgerstadt ist ansonsten überhaupt nichts los. Der örtliche Jugendklub, früher Aufmarschgelände der FDJ und Schauplatz wildester Jugendtanzveranstaltungen, ist schon lange geschlossen. Es gibt keine jugendgerechten gastrokommerziellen Ausweichquartiere, und die Bushaltestellen, üblicherweise Sehnsuchtsort jener 14- bis 17-Jährigen, die weder Fisch noch Fleisch sind und sich irgendwohin sehnen, wo alles ganz anders und vor allem richtig ist, sind nicht einmal überdacht. Das ist doch nichts.

Ein Kino gibt es auch nicht, stattdessen hat das Amt für Denkmalschutz in der angrenzenden Straße ein Schild aufgehängt: „In diesem alten Gasthaus-Saal, der früher auch als Kino genutzt wurde, sprach einst Karl Liebknecht zu den Arbeitern der Stadt“. Na super, denkt sich da die Jugend. Was bleibt ihnen also anderes übrig, als zu uns zu kommen und ans Fenster zu klopfen. Herumzualbern und blöde Sprüche zu machen. Es sind die einzigen bewegten Bilder, denn alle anderen Bürger haben sich hinter blickdichten Gardinen verschanzt, durch die lediglich das bläuliche Licht der Glotzen durchschimmert. Wer hier abends spazieren geht, fühlt sich, als hätte er sich aus Versehen in die Filmkulisse des Helge Schneider Films „Praxis Dr. Hasenbein“ verirrt, eine irrwitzige Karikatur kleinstädtischer 50er-Jahre-Tristesse in grau.

Also weg mit den Ado-Gardinen, freie Sicht auf freie Bürger! Bei uns brennt immer ein wärmendes Lichtlein, das den Eingeborenen Trost zu spenden in der Lage ist, insbesondere natürlich der sich ödenden Jugend. Wir senden rund um die Uhr eine frohe Botschaft aus unserem Big-Brother-Fenster, drum herum streichen wir die Fassaden bunt und pflanzen Bäumchen, laden Menschen aus aller Herren Länder zum Kaffeetrinken ein. Wenn sich die Bürger der kleinen Stadt nicht vorsehen, herrschen dort – ruck, zuck! – niederländische Verhältnisse, die fehlenden Gardinen sind da nur ein symbolischer Anfang. Und dann ist wirklich Schluss mit DDR-Spielen, als ob nie was gewesen wäre, zerkochtem Mischgemüse und schlechter Laune.

Wir haben uns überlegt, dass wir uns nun um die Programmgestaltung kümmern müssen, schließlich haben wir einen Bildungsauftrag. Geplant sind unter anderem öffentliches Bücherlesen und zur Unterhaltung drei Runden „Mensch, ärgere dich nicht“-Spielen. Oder kochen? Dann müssten die Jungs und Mädels allerdings in den Hinterhof kommen, sonst sieht man nichts.

Jedenfalls wurde mir das Gejohle, Geklopfe und Gequietsche irgendwann zu viel. Ich stellte den Suppenteller ab und ging entschlossenen Schritts auf die Haustür zu. Bis ich sie endlich geöffnet hatte, war die kleinstädtische Jugend unter lauten Panikschreien um die nächste Ecke. Als ob Dagmar Berghoff plötzlich aus dem Nordmende-Fernseher gekrochen wäre, einen Baseballschläger in der Hand. Ich weiß gar nicht, ob die wiederkommen. Schade eigentlich.

Kolumne 9

20.2.2006

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Der Clan der Nichtsnutze

Wir sind ja hier nicht in Prenzlauer Berg: In unserem Haus wird sich nicht fortgepflanzt!

Sie lag mit allen vieren angeschnallt auf einem Holzbrett, den Kopf nach unten, bewusstlos. Er zog an seiner selbst gedrehten Zigarette, strich sich über den grauen Bart und griff seelenruhig zum Messer. Danach war es vorbei. Mit der Fruchtbarkeit. Schluss. Aus. Ruhe ist.

Großmutters ehemalige Therapiekatze Mitzi ist nun sterilisiert. Sterilisiert, wenn das die Großmutter wüsste! Es wäre ihr nur recht. Sie, Mutter von fünf Kindern, Großmutter zahlloser Enkel und Urenkel hatte schon immer ein Problem mit der Reproduktion: „Nur Ärger und Scherereien.“ Sie hatte ihre Kinder nach dem Krieg mit Brennesselsuppe durchgebracht, sie waren nun mal da, also musste man sich auch kümmern, so oder so ist das Leben, und für die Großmutter war es eben so gewesen. Später dann hatte sich die Mehrzahl ihrer Kinder geweigert, für die Kosten ihrer Beerdigung aufzukommen. Nur Ärger mit den Nichtsnutzen.

Der Landtierarzt war in Begleitung einer jungen Kleinfamilie mit just in die Welt geschossenem Akademikerkind gekommen. Während der brummig- gutmütige Doktor Mitzi die Eierstöcke entfernte, erfreute sich das junge Menschenpaar nebenan in der Küche bräsig-stolz an der Frucht ihrer Leiber. Meinem Freund wurde das alles zu viel, er ging in den Hinterhof, um mit irrem Blick Holz durch die Kreissäge zu jagen. Er wollte etwas Sinnvolles tun.

Unser Katze ist zu nichts nutze, sie kann nicht mal Mäuse fangen, Mitzi schaut stattdessen lieber Tatort. Jetzt kann sich nicht einmal mehr fortpflanzen, ihre entsprechenden Vorrichtungen liegen nämlich auf dem Komposthaufen. Evolutionär betrachtet ist Mitzi, genau wie mein Freund und ich, ein nutzloser Esser.

Wir werden der Kanzlerin niemals eine Akademikerkind schenken. Warum auch, hätte sie sich ja selbst drum kümmern können, und für die Rente kaufen wir uns ein Stückchen Ackerland in Brandenburg, auf dem man sich dann mit 68 in Ruhe zum Sterben hinlegen kann. Katzen gibt es auf der Welt auch genug, in China werden sie sogar aufgegessen, was ihnen dort wiederum einen hohen Nutzwert garantiert. Evolutionär betrachtet. Genau betrachtet sind wir jedoch, bitte schön, keine nutzlosen Esser.

Im Gegenteil. Neulich zum Beispiel gab es Nudeln mit einer polnischen Tomatensoße der Marke „Pudliszki“.

Mit dem Verzehr dieser „Sos Slodko-Kwasny“ haben wir die Existenz einer in Not geratenen polnischen Arbeiter-Kleinfamilie unterstützt. Ihr Arbeitgeber „Pudliszki“ kann derzeit keine Löhne zahlen, stattdessen dürfen sich die Angestellten aus dem Sortiment bedienen und die Produkte selbst verkaufen. Unser Vorratsschrank ist nun bis oben hin voll mit polnischer Tomatensoße, damit die kleine Maria aus Kostrin ihren Babybrei bekommt.

Man muss was tun, gerade wenn im Nachbarland der Kapitalismus entgleist. Adoptieren geht schließlich, der Union sei Dank, immer noch nicht.

Ja, als evolutionärer Rohrkrepierer muss man sich was einfallen lassen, wenn man seine Existenz in der neobürgerlich-utilitaristischen Welt rechtfertigen möchte. Wir haben uns überlegt, dass wir zum Beispiel zum Frühlingsanfang Blumen verschenken könnten oder kostenlos auf dem Alexanderplatz Schubert-Lieder singen. Ein gottgefälliges Werk!

Wie beruhigend, dass sich unlängst nun doch noch ein winziges evolutionäres Türchen geöffnet hat: Mein Bruder wurde stolzer Vater eines strammen Söhnleins. Wir werden den Kleinen nun freundlich anonkeln, Nepotismus nennt man das: den eigenen Gen-Pool quasi indirekt weitertragen, indem man sich für den Nachwuchs der Geschwister engagiert. Das, was der graubärtige Mann da rauchend in unserem Wohnzimmer gemacht hat, werden wir einfach diskret verschweigen.

Und hoffen, dass weder mein Bruder noch meine Schwägerin die Geschichte von den homosexuellen Flamingos im Zoo, die ihren Hetero-Artgenossen einfach die Eier aus dem Nest gestohlen haben, gelesen haben.

Kolumne 8

9.2.2006

Martin Reichert über LANDMÄNNER

Auf Gummireifen zum Gottesacker

Eine agnostische Beerdigung in Brandenburg ist gar nicht so schlecht: Jeder für sich und Gott für uns alle

Schon seltsam, wenn bei einer Beerdigung die Kirchentüren verschlossen bleiben und die Trauerfeierlichkeiten stattdessen in einer Art Carport vollzogen werden: der Leichenhalle des brandenburgischen Dorffriedhofs. Schon seltsam, wenn statt des Pfarrers ein Herr mit Gummisohlen und hoher, salbungsvoller Stimme die selbstgebastelte Predigt verliest und dafür rund 150 Euro Honorar in Rechnung stellt.

Die Menschen machen offensichtlich das Beste aus ihrer metaphysischen Obdachlosigkeit: Man behilft sich mit einem Ritual-Potpourri, flicht einen trostspendenden Tuberosen-Strauß aus Popmusik und Hollywood-Versatzstücken. Ein aus der Melodie des La-Boum-Klassikers „Reality“ von Richard Sanderson bestehender synthetischer Klangteppich, live von der Klarinette begleitet, fängt die Trauernden auf: „Dreams are my reality, the only kind of real fantasy.“ Bei eisiger Kälte gefrieren fast die Tränen, während der Milchlaster die Dorfstraße entlangscheppert. Mein Freund und ich vermeiden jeden Blickwechsel, weil alles so traurig und gleichzeitig absurd ist, man aber ganz bestimmt niemandes Gefühle verletzen möchte, indem man hysterisch lacht.

Jede Träne, die du weinst, weinst du um dich selbst? Man denkt an die Telefonrechnung, an die Handelsstrategie von General Motors, über die man irgendwann einmal etwas gelesen hat. Und früher oder später an die eigene Beerdigung. Wer wird kommen? Wer einen Kranz abwerfen? Sollte man einen Kollegen frühzeitig bitten, eine tragisch-komische Trauerrede zu schreiben? Und vor allem: Sollte man nicht auf jeden Fall zahlendes Mitglied der Kirche bleiben, alleine schon als Versicherungsschutz für eine anständig durchchoreografierte Beerdigung?

Die Trauergäste werden aufgefordert, ein Spalier zu bilden, der schwere Eichenholzsarg wird auf einem gummibereiften Wägelchen in Richtung Gottesacker gefahren, vorbei am verschlossenen Kirchenportal, dazu singt vom Band Frank Sinatra: „My way“.

Man blickt über weite Felder hinweg auf ehemalige LPG-Bauten und es scheint in diesem Moment, als hätte die SED den Kirchenkampf auf lange Sicht doch gewonnen. Bis auf die angereiste West-Verwandschaft mit Pelz und Turmfrisuren scheinen nur Atheisten anwesend zu sein. Wenn da nicht diese Atavismen wären: Der Sarg wird mit einem kleinen Zapfenstreich ins Erdreich befördert, und während die Pferde von der benachbarten Koppel neugierig herüberschauen, falten die Trauergäste ihre Hände. Und zwar nicht, weil sie nicht wissen, wohin mit ihnen. Am Grab schließlich wirft jeder drei Schaufeln Erde und Blumen in die Tiefe, ein trotz allem zutiefst christliches Ritual.

Es ist keine atheistische, sondern eine agnostische Beerdigung. Man weiß nicht so genau, ob es nicht doch ein höheres Wesen gibt oder gar einen Himmel. Vielleicht ist dieser Himmel sogar so wie diese Beerdigung. Alles Kraut und Rüben: Jungfrauen und Mundschenke, Erzengel und ein lieber Gott – vielleicht haben dort sogar Schwule einen Platz, auch wenn dies auf Erden anders propagiert wird und man sich dementsprechend genötigt sieht, auf der eigenen Beerdigung „Sympathy for the Devil“ laufen zu lassen.

Eigentlich eine symphatische Veranstaltung, so eine agnostische Patchwork-Beerdigung. Man hat theoretisch alles selbst in der Hand, und es ist auch nicht so schlimm, wenn man schwul ist oder aus Versehen einen knallroten Schal trägt. So wie mein Freund. Er und ich haben beschlossen, nicht nur für alle Fälle eine Patientenverfügung zu hinterlegen, sondern auch eine Beerdigungs-Choreografie. Ich bin zum Beispiel scharf auf die Eichenholztruhe, die im Wohnzimmer steht. Sieht exakt genauso aus wie der seit Jahrhunderten standardisierte Papstsarg. Eine ganz einfache Kiste ohne Schnickschnack. Fesch. Mein Freund hätte gerne ein Leichengewand aus Leinen und einen unbehandelten Bio-Fichtenholz-Sarg. Wenn ich zuerst stürbe, müsste er singen, ich umgekehrt die Trauerrede halten.

Einem gemeinsamen Freund ist nun unlängst der Nachbar weggestorben. Er hat sich wahrscheinlich um Weihnachten herum das Leben genommen und irgendwann roch es sehr streng im ganzen Haus. Der Mann hatte niemanden, der seinen Tod bemerkt hätte, ein sogenannter „Wendeverlierer“ mit Alkoholproblem. Wir wollen nun alle zur Sozialamt-Beerdigung, mit Kassettenrekorder unter dem Arm. „Bataillon d’Amour“ von Silly laufen lassen.

Kolumne 7

12.1.2006

Martin Reichert über LANDMÄNNER

Als Ackermann das silberne Auto stahl

Was tun, wenn der Chef der Deutschen Bank dem privaten Landglück im Weg steht? Stürzen, was sonst!

Das mit dem Josef Ackermann von der Deutschen Bank und dem erneut bevorstehenden Mannesmann-Verfahren kann ich erklären: mein Freund und ich stecken dahinter.

Ackermann von der Deutschen Bank steht nämlich unserem Glück im Weg. Wenn der Ackermann nicht wäre, hätten wir jetzt ein Auto: klein, alt, französisch und silbrig-metallisch schimmernd mit vielen elektrischen Helfern und einem besonderen Clou: einem Radio mit CD-Player inklusive einer ABBA-Gold-CD. Wenn man die Wegfahrsperre deaktiviert und den Zündschlüssel umdreht, dauert es ungefähr drei Sekunden, bis verlässlich „Dancing Queen“ erklingt. Ein feines Auto, es gehört meinen Eltern, die mit CD-Playern nicht viel am Hut haben und deshalb seit zehn Jahren nur eine einzige CD in dem kleinen Schlitz des Radios aufbewahren.

Wenn sie nicht einen Teil ihres sauer verdienten Geldes in den berüchtigten Deutsche-Bank-Immobilienfonds gesteckt hätten, der von Ackermann einfach mal so gesperrt wurde, hätten sie sich ein neues Auto gekauft und mir das alte vererbt. Mein Freund und ich hätten viele glückliche Tage vor uns gehabt, wären mit dem silbernen Auto zum Schiffshebewerk Niederfinow gefahren, um Milchkaffee zu trinken. Oder zum Baumarkt. Oder zu Großmutters Grab.

Stattdessen zeigt der Ackermann heimlich im Bad das Victory-Zeichen und singt dazu „The winner takes it all“. Schließlich sollte sein Ende 2006 auslaufender Vertrag bei der Deutschen Bank „informierten Kreisen zufolge“ noch einmal um fünf Jahre verlängert werden. So lange konnten wir beim besten Willen nicht warten, außerdem lautet die zweite Zeile des Songs: „The loser standing small“. Warte du nur ab, Ackermann.

Wir mussten handeln, ich weiß nämlich nicht, wie lange mein Freunde-Autoleih-System, das sich logistisch durchaus mit dem McKinsey-gestützten Leasing-Modell der Bundeswehr messen kann, noch funktioniert. Es nutzt zwar Synergie-Effekte und ist flexibel und kostengünstig, verwirrt aber im Gegenzug unsere bodenständigen Nachbarn in der brandenburgischen Ackerbürgerstadt. Ständig andere Autos mit obskuren Kennzeichen: Ein Fiat Cinquecento aus Mainz mit Mainzelmännchen auf dem Armaturenbrett („voll schwul“), ein staatstragend blauer Mercedes mit historisch wertvollem Autotelefon und Bonner Kennzeichen („Ich weiß genau, wo SIE herkommen, und Sie müssen nicht glauben, dass SIE sich hier vordrängeln können“), ein schrottreifer VW Golf aus Berlin mit taz-Aufkleber („Das ist dein Dienstwagen??“).

Fest steht, ob man es wahrhaben will oder nicht: Landleben ohne Auto ist nicht schön, denn geglücktes Landleben basiert im Wesentlichen auf dem Individualverkehr. Von ÖPNV weiß man dort nichts.

An Weihnachten hatten wir meine Eltern in Westdeutschland besucht und bei Ausflügen mit dem silbernen Auto laut „Money Money Money“ gesungen: „Must be funny in the rich man’s world“. Ackermann, wir kriegen dich! Die Revision ist erst mal durchgedrückt. Jetzt werden wir dich vor Gericht in Düsseldorf so was von auspacken. Als Nebenkläger alles mal klarstellen. Vor allem das mit den Heuschrecken und Großkopferten, die bräsig in die kleinsten Lebenseinheiten bzw. in das Leben der kleinen Leute hineinregieren und dabei Zigarre rauchen. Immobilienfonds schließen und das Ersparte von westdeutschen Rentnern blockieren und damit auch deren indirekte Aufbau-Ost-Subventionen für den Nachwuchs. Keine Kredite für ökosoziale, generationsübergreifende Wohnprojekte in Ostdeutschland rausrücken und stattdessen das Geld anderer Leute verbrennen.

Mein Freund und ich machen das jetzt mal genau umgekehrt. Wir werden in das Leben der Großkopferten hineinregieren und Ackermann sein persönliches „Waterloo“ beibringen. Und wenn wir schließlich gewonnen haben werden und das silberne kleine Auto mit OHV-Kennzeichen und der ABBA-CD vor der Tür steht, werden wir singen: „Thank you for the Music, Ackermann.“

Kolumne 6

6.12.2005

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

17er Flansch mit rechtsdrehender Nuss

Achtung, eine Durchsage: Der kleine Martin wartet in der Trefferia im Erdgeschoss auf seinen Freund

Es passiert in unregelmäßigen Abständen, mehrmals im Jahr, ein bizarres Samstags-Ritual: „Du, können wir heute mal in den Baumarkt fahren?“ Es ist grauenhaft und doch vertraut zugleich, es sind immer verschiedene Autos, weil sie immer von Freunden geliehen sind, und gleich bleibt, dass mein Freund zwar Häuser bauen kann, aber keinen Führerschein hat – bei mir ist es umgekehrt.

Die Rolle des Autos übernahm dieses mal der Fiat Cinquecento einer lieben Kollegin mit umklappbarer Rückbank, der Baumarkt hieß Globus und befand sich im brandenburgischen Oranienburg bei Berlin. Verloren auf der grünen Wiese, zwischen Bundes-, Schnell- und Umgehungsstraßen, hochsubventionierte High-Tech-Ossi-Infrastruktur. Oranienburg, ein Ort, der schon zu „DDR-Zeiten“ und erst recht davor ein seltsames Odium versprühte, doch im Baumarkt spielt das alles keine Rolle, denn hier gibt es die Einzelteile zu kaufen, mit deren Hilfe der bundesdeutsche Bürger seine Träume zusammensetzt, ganz egal wo sein Eigenheim nun steht. Edelstahl-Armaturen, Turbo-Silikon-Masse für fugenfreie Kachelwände, Badewannen mit Whirlpool-Einsatz für einen Abend voll luxuriöser Entspannung nach getaner Arbeit – oder doch lieber den 5.000-Liter-Jacuzzi aus Amiland für den Gartenbetrieb? Der Baumarkt ist eine Männerwelt, Frauen gibt es nur hinter der Kasse oder am Beratungstresen für Tapeten. Und in der Modeabteilung gibt man sich ganz casual: Caterpillar-Boots und Blaumann, Handwerkerhosen mit Doppelreißverschluss.

Während mein Freund irgendwo in den hinteren Gefilden des Marktes verschwunden ist – Abteilung Holz und Furnierplatten –, wandele ich mit auf dem Rücken gefalteten Händen durch den Baumarkt, als gälte es ein Museum zu durchschreiten. Ein Hartz-IV-Kinderbett wird besichtigt, zwei Etagen und aus billigem Metall. Im Weihnachtszelt Hochspannungs-Lichterketten für den Fassadenbetrieb, blinkende Nikoläuse, Sprühschnee und ein Bing-Crosby-Klangteppich. Die Kalenderauswahl für das Jahr 2006: Hunde, Katzen und Pferde für die Damen, Extremsport für den Herrn. Im Baumarkt sein ist, als sei man bei Hinz und Kunz zu Besuch, hier werden die Grundlagen geschaffen für die individuellen Wohnwelten von Ikea bis Möbel Martin, hier werden Laminat und Estrich beschafft, Bohraufsätze und 17er Flansch-Dichtungen mit rechtsdrehender Nuss.

Das Museumscafé im Globus Baumarkt heißt Trefferia und man nimmt dort eine Bockwurst zum Kaffee. Der Chef ruft den Monteur auf dem Handy an und treibt zum nächsten Termin, stechender Wurstdunst, und mein Freund ist nicht mehr zu sehen, wahrscheinlich ist er in eine sehr sachliche Diskussion verstrickt, sein Handy ist mal wieder ausgeschaltet, und fast möchte man ihn ausrufen lassen: „ … sitzt in der Trefferia und wartet.“ Wo bin ich hier bloß? Mit dem Freund in den Baumarkt, das ist wohl das Äquivalent zu „mit der Freundin zum Schuhekaufen“.

Erstaunlich, dass dieser ganze Krempel in den Cinquecento passt. Zurück in die kleine Ackerbürgerstadt, vorbei an Alleen und Straßendörfern mit Häusern, die von Kopf (Ziegel, die wie geschmolzene Schokolade aussehen) bis Fuß (Styropor-Isolierplatten mit Rauputz) auf Baumarkt eingestellt sind. In unserer Straße haben sich die örtlichen Jungmänner um ihre tiefer gelegten Opel Vectras gruppiert und glotzen unverhohlen, als wir mit dem Fiat auftauchen. Ich finde den Wagen toll, aber von der Performance her ist er echt „VOLL SCHWUL“ irgendwie. Allerdings konnten wir einiges an Terrain wiedergutmachen, als wir mit eckigen Bewegungen unsere schweren Kalk- und Zementsäcke ausgeladen haben. So etwas verleiht einfach Glaubwürdigkeit in der lokalen Flansch-Szene.

Es war wieder nur einer dieser Ausflüge in den Baumarkt, eine Episode in der kleinen Geschichte vom großen Traum des eigenen Häuschens, das es auszugestalten gilt. Und irgendwann einmal wäre doch so ein Außen-Jacuzzi gar nicht schlecht, man könnte ihn ja vielleicht mit Solarenergie betreiben. Gibt es ja alles. Im Baumarkt.

Kolumne 5

17.11.2005

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Das Gelbe vom Weichei

Der Horror macht Urlaub auf dem Bauernhof: Vogelgrippe! Stallzwang! Und vor allem: Schlachttag!

Als Gastgeber spielt man eine Rolle, und wenn man als Paar schon jahrelang zusammen ist, mutiert die Gastgeberrolle zum Rollenspiel. Es ist wie in dem Film „Rosenkrieg“: „Liebling, möchtest du unseren Gästen nicht die Geschichte mit den Baccarat-Gläsern erzählen?“ Es gibt einfach ein Reservoir an Anekdoten und Pointen, die man erzählt, wenn sich Besuch aus Berlin ankündigt, um mal Landleben zu gucken.

So wie neulich, als eine ganze Wagenladung urban herausgeputzter, hübscher Mitte-Boys im „Salon“ saß, und lieber selbst gebackenen Zitronenkuchen essen wollte, statt im Luch spazieren zu gehen: zu kalt, trotz der Fake-Fur-verbrämten Anoraks.

„Warum hat denn der Kuchen so eine schöne Farbe?“ Tjaaa … also, das liegt natürlich daran, dass die Eier von glücklichen Hühnern sind! Das passte so schön zu der Landliebe-Idylle und der mit frischem Herbstlaub geschmückten Kaffeetafel, man möchte seinen Gästen doch auch etwas bieten, was ihren Erwartungen entspricht. Wenn sie schon den weiten Weg auf sich nehmen.

Die wirkliche Hühnergeschichte ist derzeit eher ein Gruselschocker. Am Tag zuvor hatten wir das Geflügel besucht, das derzeit bei der Schwiegermutter untergebracht ist: Stallzwang! Vogelgrippe! Und vor allem: Schlachttag! Wo sind sie denn die glücklichen Hühner? Der Weg zum Stall war von frisch ausgerupften Federn gesäumt, die mit einem Holzriegel versehene Tür öffnete sich knarrend, woraufhin sich sämtliches Federvieh panisch in eine Ecke flüchtete: Die vom Martinstag verschonten Restgänse drückten sich in die rechte Ecke, der Hahn versuchte, zumindest den Anschein zu erwecken, dass er notfalls bereit wäre, seine Hühner zu verteidigen, auch und erst recht in diesen schwierigen Tagen. Sie waren allesamt komplett traumatisiert. Dabei wusste man in diesem Moment nun wirklich nicht, wer hier vor wem mehr Angst hat: Niest da wer?

Natürlich hatte ich mich vor der Schlachtassistenz gedrückt, obwohl die Schwiegermutter ausdrücklich nachgefragt hatte. „Das kann der nicht“, hatte mein Freund ihr mitgeteilt. Da bin ich auch wirklich ein Weichei. Als das Geflügel noch unter unserer Regie lebte, war das alles viel schöner. Das Gänsepaar hatten wir kurz vor Weihnachten vom benachbarten Gutshof gekauft, es waren die letzten Überlebenden einer riesigen Herde (sagt man das so bei Geflügel?) gewesen. Gerettet. Und die Hühner hatten auch dann noch ein Anrecht auf Leben, wenn sie vor lauter Altersschwäche ständig von der Leiter fielen. Das Fleisch hatten wir dann lieber im Geschäft gekauft. Dekontextualisiertes Fleisch.

Meine Einstellung zum authentischen Landleben ist ungefähr genauso wie die von Bill Clinton zum Kiffen: lieber nicht inhalieren. Aber das muss man den Gästen ja nicht gleich auf die Nase binden, der Glaubwürdigkeit halber. Nach zwei Stunden waren die Jungs schon ganz unruhig geworden, wollten zurück in die Stadt, es galt, Jugendtanzveranstaltungen und Ähnliches zu besuchen. Fast wäre man versucht gewesen, sie zu begleiten.

„Berlin zieht, wa?“, hatte die verstorbene Großmutter immer gesagt, wenn ich am Sonntag doch schon früher zurückgefahren war. Sie hätte sich über den schmucken Herrenbesuch bestimmt gefreut, zumal doch sogar ein leibhaftiger Arzt dabei war. Allein unter Männern, da wäre sie in ihrem Element gewesen, jetzt erinnerte nur noch der röhrende Porzellanhirsch auf dem Tisch an sie – eine der Anekdoten, die man erzählt, wenn Besuch kommt.

Am nächsten Tag wollten mein Freund und ich noch den Kranichen Auf Wiedersehen sagen. In der Regel versammeln sie sich auf den Wiesen rund um den Ort, bevor es in den Süden geht. Ein tolles Schauspiel, normalerweise. Diesmal aber hatten wir sie auch nach einer Stunde noch nicht entdecken können. Erst auf der Autobahn in Richtung Berlin sahen wir welche, auf der linken Seite, und haben ihnen über drei Fahrspuren hinweg zugewinkt. Völlig bescheuert, aber manchmal klappt es eben nicht mit der Idylle auf dem Land.

Kolumne 4

17.11.2005

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Das Gelbe vom Weichei

Der Horror macht Urlaub auf dem Bauernhof: Vogelgrippe! Stallzwang! Und vor allem: Schlachttag!

Als Gastgeber spielt man eine Rolle, und wenn man als Paar schon jahrelang zusammen ist, mutiert die Gastgeberrolle zum Rollenspiel. Es ist wie in dem Film „Rosenkrieg“: „Liebling, möchtest du unseren Gästen nicht die Geschichte mit den Baccarat-Gläsern erzählen?“ Es gibt einfach ein Reservoir an Anekdoten und Pointen, die man erzählt, wenn sich Besuch aus Berlin ankündigt, um mal Landleben zu gucken.

So wie neulich, als eine ganze Wagenladung urban herausgeputzter, hübscher Mitte-Boys im „Salon“ saß, und lieber selbst gebackenen Zitronenkuchen essen wollte, statt im Luch spazieren zu gehen: zu kalt, trotz der Fake-Fur-verbrämten Anoraks.

„Warum hat denn der Kuchen so eine schöne Farbe?“ Tjaaa … also, das liegt natürlich daran, dass die Eier von glücklichen Hühnern sind! Das passte so schön zu der Landliebe-Idylle und der mit frischem Herbstlaub geschmückten Kaffeetafel, man möchte seinen Gästen doch auch etwas bieten, was ihren Erwartungen entspricht. Wenn sie schon den weiten Weg auf sich nehmen.

Die wirkliche Hühnergeschichte ist derzeit eher ein Gruselschocker. Am Tag zuvor hatten wir das Geflügel besucht, das derzeit bei der Schwiegermutter untergebracht ist: Stallzwang! Vogelgrippe! Und vor allem: Schlachttag! Wo sind sie denn die glücklichen Hühner? Der Weg zum Stall war von frisch ausgerupften Federn gesäumt, die mit einem Holzriegel versehene Tür öffnete sich knarrend, woraufhin sich sämtliches Federvieh panisch in eine Ecke flüchtete: Die vom Martinstag verschonten Restgänse drückten sich in die rechte Ecke, der Hahn versuchte, zumindest den Anschein zu erwecken, dass er notfalls bereit wäre, seine Hühner zu verteidigen, auch und erst recht in diesen schwierigen Tagen. Sie waren allesamt komplett traumatisiert. Dabei wusste man in diesem Moment nun wirklich nicht, wer hier vor wem mehr Angst hat: Niest da wer?

Natürlich hatte ich mich vor der Schlachtassistenz gedrückt, obwohl die Schwiegermutter ausdrücklich nachgefragt hatte. „Das kann der nicht“, hatte mein Freund ihr mitgeteilt. Da bin ich auch wirklich ein Weichei. Als das Geflügel noch unter unserer Regie lebte, war das alles viel schöner. Das Gänsepaar hatten wir kurz vor Weihnachten vom benachbarten Gutshof gekauft, es waren die letzten Überlebenden einer riesigen Herde (sagt man das so bei Geflügel?) gewesen. Gerettet. Und die Hühner hatten auch dann noch ein Anrecht auf Leben, wenn sie vor lauter Altersschwäche ständig von der Leiter fielen. Das Fleisch hatten wir dann lieber im Geschäft gekauft. Dekontextualisiertes Fleisch.

Meine Einstellung zum authentischen Landleben ist ungefähr genauso wie die von Bill Clinton zum Kiffen: lieber nicht inhalieren. Aber das muss man den Gästen ja nicht gleich auf die Nase binden, der Glaubwürdigkeit halber. Nach zwei Stunden waren die Jungs schon ganz unruhig geworden, wollten zurück in die Stadt, es galt, Jugendtanzveranstaltungen und Ähnliches zu besuchen. Fast wäre man versucht gewesen, sie zu begleiten.

„Berlin zieht, wa?“, hatte die verstorbene Großmutter immer gesagt, wenn ich am Sonntag doch schon früher zurückgefahren war. Sie hätte sich über den schmucken Herrenbesuch bestimmt gefreut, zumal doch sogar ein leibhaftiger Arzt dabei war. Allein unter Männern, da wäre sie in ihrem Element gewesen, jetzt erinnerte nur noch der röhrende Porzellanhirsch auf dem Tisch an sie – eine der Anekdoten, die man erzählt, wenn Besuch kommt.

Am nächsten Tag wollten mein Freund und ich noch den Kranichen Auf Wiedersehen sagen. In der Regel versammeln sie sich auf den Wiesen rund um den Ort, bevor es in den Süden geht. Ein tolles Schauspiel, normalerweise. Diesmal aber hatten wir sie auch nach einer Stunde noch nicht entdecken können. Erst auf der Autobahn in Richtung Berlin sahen wir welche, auf der linken Seite, und haben ihnen über drei Fahrspuren hinweg zugewinkt. Völlig bescheuert, aber manchmal klappt es eben nicht mit der Idylle auf dem Land.

Kolumne 3

6.10.2005

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Die lustigen Holzhacker-Buam

Am Tag der Deutschen Einheit haben wir es krachen lassen: Es war Oktoberfest und wir hatten Holz vor der Hütt’n

Am Tag der Deutschen Einheit haben wir tonnenweise Holz gehackt. Mein Freund hat eine von polnischer Hand liebevoll installierte tschechische Holzvergaser-Heizung, deren sonores AKW-Brummen uns seitdem die brandenburgischen Winter erträglicher macht. Doch nun galt: So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben: zerkleinern, auf Schubkarren packen, im Schuppen stapeln.

Wir haben ordentlich gelärmt an diesem Feiertag, aber das ist nicht weiter aufgefallen, weil überall in der kleinen Ackerbürgerstadt Menschen auf den Straßen tanzten, sich in den Armen lagen und die deutsche Einheit feierten, was das Zeug hielt. Das war gelogen. In Wirklichkeit war es absolut totenstill, die Sonne dimmte durch einen dunstigen Schleier und hüllte die verfallenden, grauen Häuser in ein gnädiges und zugleich depressives Licht.

Wir sind eigentlich sehr froh über die Wiedervereinigung, denn sonst hätten wir uns ja nie kennen gelernt. Mein Freund ist Ossi, ich bin Wessi, und schon vor Jahren wuchs zusammen, was zusammengehört. Ich war dabei, als er seinen höchst persönlichen Abschied von der DDR genommen hat, damals, in den Arkaden des Alten Museums in Berlin, nachdem wir im Kino „Coming-out“ gesehen hatten, den ersten und zugleich letzten DDR-Film zum Thema Homosexualität. Er hatte als Statist mitg wirkt, man sah ihn insgesamt dreimal kurz Walzer tanzend in der Ostberliner Homo-Kneipe Burgfrieden – das alles noch einmal anzuschauen hatte ihn unglaublich traurig gemacht. In meiner Hilflosigkeit hatte ich auf den Fernsehturm und die Plattenbauten gezeigt und gesagt: „Aber sieh doch mal, es steht doch alles noch, und ihr seid doch auch noch alle da.“ Dann haben wir uns lange im Arm gehalten.

Während ich in Prenzlauer Berg allmählich verostete – nach einer Weile hatte ich begriffen, dass man seine Kohlen nicht in der Benetton-Tüte aus dem Keller heraufträgt, wenn man ernst genommen werden möchte –, umgab sich mein Freund fast nur noch mit Wessis, weil er sie solidarischer und hilfsbereiter fand. Ich schrieb meine Magisterarbeit über die FDJ an der Humboldt-Universität, und er arbeitete bei „Pomp, Duck & Circumstance“. Unsere persönlichen Ost-West-Konflikte haben wir längst beigelegt, sie waren ohnehin meist vorgeschoben, denn eigentlich ging es um unsere höchst persönlichen Rangeleien.

Nachdem nun also das Holz gestapelt war, beschlossen wir, doch noch feiern zu gehen. Auf dem nicht weit entfernten Gut Liebenberg, einst Schauplatz der „Liebenberger Tafelrunde“ um Philipp Fürst zu Eulenburg, war bayerisches Oktoberfest. Um die Jahrhundertwende wurde dem Fürsten und seiner „homosexuellen Clique“ vorgeworfen, das Deutsche Reich in die parfümierten Arme Frankreichs treiben zu wollen. Die so genannte Harden-Eulenburg-Affäre war das deutsche Äquivalent zum Schauprozess gegen Oscar Wilde und machte die Homosexuellen in Deutschland erstmals zu einem Thema des öffentlichen Diskurses – und zu Staatsfeinden. Im Museum des Gutes Liebenberg werden sie heute, gut 100 Jahre später, lediglich totgeschwiegen. Kein Wort zum Thema Homosexualität.

Also heterosexuelles Oktoberfest in Preußen. Weißwürstl und Schweinsbraten in Brandenburg. Ein riesiges, zugiges Festzelt mit einer überdrehten bayerischen Blaskapelle, die über eine übersteuerte Sound-Anlage „I will wieder hoam“ singt. Ein Herr von der Band verkleidet sich mit Kopftuch und Kittelschürze als Frau, eine Mordsgaudi. Die Besserwessi-Bedienung bringt mir die Weißwurst ohne Besteck und sagt streng: „Die isst man mit der Hand.“ Das muss der Diaspora-Effekt sein, denn in München habe ich sie bisher immer mit Messer und Gabel gegessen. Dem Ton nach hat sie mich für einen Ossi gehalten.

Wir haben nur gelacht und uns dann gemeinsam nicht getraut, vor allen Leuten Walzer zu tanzen. Die Emanzipation der Homosexuellen ist, wie die innere Einheit Deutschlands auch, ein Langzeitprojekt. Und nächstes Jahr trauen wir uns.