Kolumne 2

8.9.2005

Martin Reichert über LANDMÄNNER

Perlentauchen in der Uckermark

Zum Fetisch-Fest nach Berlin oder doch lieber eine Wallfahrt zu Angela Merkel nach Templin? Deutschland im Wandel

Seitdem die Großmutter tot ist, können wir im Prinzip tun und lassen, was wir wollen. Wir hätten sogar zu Wowis Fetisch-Party in Berlin gehen können, niemand hätte mit uns geschimpft. Stattdessen haben wir unserem Besuch aus Paris in aller Ernsthaftigkeit die Perle der Uckermark gezeigt. Templin. So weit ist das nicht, und wo sonst könnte Beatrice das zukünftige Deutschland begreifen, Deutschland nach dem Wechsel, wenn nicht am Wohnort der zukünftigen Kanzlerin. Wir machten uns auf den Weg, mein Freund übrigens in Lederhosen.

Am Anfang war gar nichts zu spüren, sogar das Autoradio hatte keinen Empfang. Die durch linke Verwahrlosung gezeichneten Straßen rüttelten unsere Gesichtszüge durch. Hinter jedem zweiten Alleenbaum ein Warnschild: Vorsicht kreuzende Otter, Vorsicht Krötenwanderung, Achtung Mopsfledermaus. Gefühlt mehr Babsie Höhn als Angie Merkel.

Je näher wir jedoch an Templin herankamen, desto apricotfarbener wurden die Laternenpfähle der brandenburgischen Straßendörfer. Die Kandidatin lächelte auf adrette Rentner, die auf den Bänken vor dem Haus ihre Renten verzehren. Auf wackere Kleinfamilien, die sich mit roten Wangen gegen die Demoskopie stemmen. Auf ein platt gefahrenes Eichhörnchen am Wegesrand. Die Mitte der Gesellschaft und sie mitten darin, alles im Vorbeifahren. Geschwindigkeit. Wandel. Wechsel.

Dann plötzlich das nächste Dorf: Hammelspring! Jetzt konnte es doch nicht mehr weit sein. Abstimmung im Wasserwerk, Bonner Republik, Kohls Mädchen. Da war doch was, und dann erst das nächste Dorf: Hindenburg! Der Mantel der Geschichte streifte uns nun recht heftig, Umzug nach Berlin, Deutschland einig Vaterland. Kanzlerin, womöglich eisern.

Und richtig, schon bald waren wir in Templin, Marktplatz. Vielleicht würde sie ja gleich ganz volksnah vorbeischlendern und sich zu uns gesellen. Mal einen Kaffee trinken mit zwei netten Homos und einer ebenso netten wie attraktiven Französin. Frau/Osten trifft Randgruppe/Ausländer: „Nein, ich werde jetzt keinen Kaffee mit Ihnen trinken“, hatte sie neulich einen Herrn mit gleichem Anliegen beschieden, und das vor laufenden ZDF-Kameras. Würde sie das mit uns auch machen? Uns im Regen stehen lassen? Als die Bedienung den Kaffee verschüttete, machte Beatrice ein Gesicht, als sei ihr gerade die Achse Berlin-Paris-Moskau auf die Füße gefallen. Der Kuchen jedoch war für ostelbische Verhältnisse geradezu zauberhaft: Stachelbeer-Baiser-Torte, die es wahrlich verdient hätte, nach dem Wechsel den Namen Kanzlerin-Schnitte zu tragen. Dennoch schwante uns allmählich, dass wir womöglich vergeblich hierher gekommen waren, denn wir waren nicht allein. Fahrzeuge mit Kennzeichen aus ganz Deutschland blockierten den Markplatz, überall sah man Menschen, die auf der Suche waren. Bewaffnet mit Digitalkameras schienen sie bereit, sich jederzeit vor einen nahenden Limousinen-Konvoi zu werfen, um ein Autogramm zu bekommen. Die Nachhut der Journalisten, die in den letzten Monaten Templin unsicher gemacht hatten. Was hatten wir eigentlich erwartet? Das wir die Einzigen waren, die wissen wollten, wie das so wird mit dem Wechsel? Sie kam nicht.

Beatrice’ Mundwinkel wirkten plötzlich seltsam steil heruntergezogen. Ja, was hätten wir denn machen sollen? Zum Schiffshebewerk Niederfinow fahren oder was? Das steht vielleicht für den Slogan „Es gibt keine Probleme, nur Lösungen“, aber nicht für „Deutschland braucht den Wechsel“. Erst als wir wieder zu Hause in unserer kleinen Ackerbürgerstadt vor den Toren Berlins waren und die Glotze anschalteten, wurde klar: Wir hätten sie gar nicht treffen können, weil sie gar nicht in Templin war an diesem Tag. Sie musste doch zum Fernsehduell nach Berlin, da hat sie doch keine Zeit, auf der Terrasse zu sitzen und alte Fotos einzusortieren oder Kaffee trinken zu gehen.

Hätten wir ja auch gleich zur Fetisch-Party gehen können. Deutschland vor dem Wechsel halt.

Kolumne 1

25.8.2005

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Wir hatten ein altes Kind

Martin Reicherts neue Kolumne über das Landleben nimmt einen traurigen Anfang

Wenn die Großmutter meines Freundes nicht gestorben wäre, hätte ich sie berühmt gemacht. Ich wollte sie zu einem gesellschaftspolitischen Star machen: Frau, Osten, alt, pflegebedürftig. Eine 93-jährige Greisin, die zudem in einem schwulen Haushalt lebt, da sie von ihrem Enkel gepflegt wird. Ich wollte über unsere generationenübergreifende „Patchwork“-Transgender-Ost-West-Großfamilie schreiben. Über die Geschichten, die sie aus ihrem langen Leben in sämtlichen deutschen Systemen erzählt hat („Das Essen im Krankenhaus war so schlecht. Liegt das an der Regierung?“), und über die Höhen und Tiefen des Zusammenlebens mit einem solchen „Golden Girl“.

Ich bin meist nur an den Wochenenden bei der Familie, die Woche über in Berlin. An einem dieser letzten Wochenenden hat die Großmutter plötzlich Scheiße gekotzt. Das passiert, wenn die Verdauung nicht mehr richtig arbeitet. Und wenn es passiert, ist es schrecklich für alle Beteiligten. Im Krankenhaus der nächsten größeren Stadt ist sie dann gestorben, Nierenversagen. Es ging dann recht schnell, das Bewusstsein hatte sie verloren. „Ich will endlich sterben und kann einfach nicht“, hatte sie immer wieder gesagt. Sie hatte so oft Schmerzen.

Ein bisschen war es so, als hätten wir ein Kind gehabt. Wir konnten nicht mehr einfach so über das Wochenende an die Ostsee fahren, selbst spazieren gehen am Nachmittag konnte zum Problem werden. Wir waren nicht mehr frei, weil mein Freund die Verantwortung für sie übernommen hatte. Ich habe ihn immer dafür bewundert und die Beschneidung unserer Unabhängigkeit akzeptiert. Auch den stets lauten Fernseher, die leeren Urinbeutel im Badezimmer, den miefigen Harzer Roller im Kühlschrank.

Für die Ausstellung des Totenscheins brauchte das Krankenhaus Großmutters Personalausweis, wir fuhren also nach Hause, um ihn zu holen. Er wäre nur noch zwei Tage gültig gewesen. Gegen Unterschrift händigte man uns ihre privaten Sachen aus. Als wir das Krankenhaus in Richtung Parkplatz verließen, ging mein Freund vor, in der linken Hand ihr kleines Bastkörbchen mit Spitzendeckchen obenauf und darin ihre Habe. Eine Tasse, eine Haarbürste, die Schatulle mit ihrem Schmuck: alles aus Plastik.

Ihre kleine silberne Glocke hatte sie offensichtlich nicht mitgenommen. Mit der hatte sie immer geklingelt, wenn sie etwas brauchte, aber in einem Krankenhaus funktioniert so etwas elektrisch, genauso wie die bescheuerte Blutdruckmessapparatur, die man ihr während des Sterbens an den Arm gebunden hatte. Die Glocke hatte den gleichen Klang wie jene, mit der ich als Kind an Heiligabend zur Bescherung gerufen wurde. Dennoch war nicht jeder Tag wie Weihnachten, mit ihr zusammen unter einem Dach zu wohnen. Sie war eine schwierige Dame.

Ein Kind entwickelt sich weiter und verlässt einen irgendwann in Richtung eigenes Leben. Die Großmutter hat einen anderen Ausgang genommen und lässt uns beide als Rumpffamilie zurück. Der Pflegebetrieb ist eingestellt. Mein Freund hat den Anblick ihres verlassenen Zimmers nicht ertragen können und hat es komplett geleert und renoviert. Demnächst wird dort mein Schreibtisch aufgestellt. Vielleicht sollte ich ihre Lebensgeschichte aufschreiben? Sie verschwindet doch sonst einfach.Vielleicht wird es auch ein Esszimmer. Wer etwas braucht, kann klingeln.

Nachdem die Großmutter gestorben und der Totenschein ausgestellt war, mussten wir trotz allem etwas essen. Wir gingen in die kleine „Speisegaststätte“, die ich mich in letzter Zeit zu betreten geweigert hatte, weil wir dort angepöbelt worden waren. Ich habe sowieso immer Angst, dass irgendwann der brandschatzende Mob vor der Tür steht. Eine Patchwork-Transgender-Familie mag in Berlin zum guten Ton gehören, aber in der brandenburgischen Provinz?

Die „Speisegaststätte“ wird von zwei liebenswürdigen Schwestern betrieben, und an diesem Abend weinten sie uns in unsere Königsberger Klopse. Sie hatten die Großmutter gern gehabt. „Ich bin mir sicher, dass sie für das, was Sie für die Großmutter getan haben, irgendwann etwas zurückbekommen“, hatte die Wirtin gesagt, und ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil doch nicht ich derjenige gewesen war. Hatte ich ihr genug Zeit gewidmet? Hatte ich ihr genug zugehört, selbst wenn ich ihre Geschichten bereits kannte?

Als wir nach Hause kamen in das leere Haus, meldete sich Großmutters Katze mit einem dringenden Anliegen – es ging um Leben und Tod. In einer Kiste im Wohnzimmer brachte sie an diesem Abend vier gesunde Junge zur Welt. Irgendwie muss es weitergehen.