Kolumne 92

25.2.2013

Martin Reichert Back on the Scene

Wir haben den Papst gefickt

DIE HOMOSEXUELLEN REGIEREN DIE WELT. WANN DARF ICH ENDLICH MITMACHEN?

Die schwule Weltverschwörung soll ja an sehr vielem schuld sein – aktuell hat sie Benedikt XVI. auf dem Gewissen. Die italienische Zeitung La Repubblicaberichtete dieser Tage, das der Papst nicht mehr gegen das Vatikan-interne Gestrüpp aus mann-männlichen Sexorgien und macchiavellistischen Umtrieben angekommen sei. Nichts Näheres weiß man jedoch, der Vatikan dementiert solche Zusammenhänge selbstverständlich. Aber dass so etwas auf Dauer erschöpfend sein kann – Zustände wie im alten Rom –, ist vorstellbar. Der Papst sah zuletzt wirklich ziemlich mitgenommen aus.

Dementieren kann ich jedoch guten Gewissens, dass die Schwulen schuld daran sind, dass Ringen im Jahr 2020 keine olympische Disziplin mehr sein soll. Der russische Trainer Wladimir Uruimagow hatte dem IOC nach seiner kürzlich getroffenen Entscheidung unterstellt, Opfer einer Verschwörung von „sexual minorities“ geworden zu sein – und verkündete apokalyptisch, dass dies der Anfang einer schwulen Weltherrschaft sei.

Ob es dann um die Welt besser bestellt wäre, sei dahingestellt. Ich fürchte jedoch, das Uruimagows Theorie auf einer falschen Prämisse beruht: Gibt es irgendeinen vernünftigen Grund, warum schwule Männer sich dafür einsetzen sollten, in Zukunft auf den Anblick muskulöser Herren in knappen Trikots zu verzichten, die sich auf dem Boden wälzen? Nein, meine Herren, diese Verschwörung können Sie bitte einer anderen Minderheit in die Schuhe schieben. Wir fahren lieber einmal im Jahr zum Oil Wrestling im türkischen Edirne. Da kämpfen mit Olivenöl eingeriebene Herren in kurzen Lederhosen – wenn sie einander zu fassen bekommen wollen, müssen sie beherzt in den Schritt der Hose des Gegners fassen.

Natürlich kann man nie vorsichtig genug sein, was Verschwörungen angeht. Heute zum Beispiel flatterte bei mir eine Mieterhöhung ins Haus. Und wem gehört das Haus? Richtig, zwei Homosexuellen. Im Briefkasten lag auch ein Schreiben des Polizeipräsidenten von Berlin, Knöllchen wegen Falschparkens. Und wer regiert die Stadt? Ha!

Dann der deutsche Fußball, insbesondere auf Bundesliga-Level. Schwule, überall Schwule, die sich tückisch verbergen. Hört man. Sie sind überall. Auf Ölplattformen, hört man. Die deutsche Friseurinnung ist komplett unterwandert, womöglich sogar der ADAC. Die Parteien und Gewerkschaften, der Bund der Vertriebenen. Die Bundeswehr und die Polizei, alles fest im Würgegriff. Die Karnevals- und Schützenvereine sowieso. Und jetzt wollten sie auch noch Kinder adoptieren und Steuern sparen.

Verwirrt gehe ich in die Schwulenbar um die Ecke, um noch ein Bier zu trinken. An der Theke treffe ich einen flüchtigen Bekannten und mustere ihn misstrauisch. „Was hast du heute gemacht?“, frage ich vorsichtig. „Gearbeitet“, sagt er, „und danach die Wohnung aufgeräumt und noch Serien geguckt.“ Er tut harmlos. Aber als ich mir all die anderen Männer hier in der Bar anschaue mit ihren müden Gesichtern, den dunklen Schatten unter den Augen und den stieren Blicken, dann wird mir einiges klar: Sie sind es, die den ganzen Tag an den ganz großen Rädern der Weltgeschichte drehen. Das schlaucht natürlich.

Ärgerlich ist nur, dass mich nie mal jemand gefragt hat, ob ich nicht mitmachen möchte. Schwule sind einfach nicht solidarisch.

 

Kolumne 91

28.1.2013

Martin Reichert Back on the Scene

Sugar Free Fudschi

DER HOMOSEXUALISMUS FEIERT FRÖHLICHE URSTÄNDE. NTS-NTS-NTS. STAMPF-STAMPF-STAMPF

Aus russischer Sicht war mein Freitagabend homosexualistischen Umtrieben gewidmet – ein neuer Ismus, den man sich wirklich für den aktiven Wortschatz vormerken muss: Homosexualismus, die „Propaganda“ für einen solchen ist in Russland jetzt strafbar. Hierzulande will man öffentliches Reden über Homosexualität schon gar nicht mehr hören, und während in Polen gerade die Eingetragene Lebenspartnerschaft vom Parlament abgelehnt wurde, lasse ich mich schon wieder scheiden.

In der Tat ging es bei mir am Freitagabend fast schon kriminell orthodox zu. Nach einem Gin Tonic in einer Sichtbeton-LGBTI-Bar in Berlin-Kreuzberg besuchte ich mit einem Freund eine Homosexuellen-Orgie, bei der man weite Teile seiner Kleidung in Müllsäcke verpackt an der Garderobe abgibt und mit Filzschreiber eine Konsumentennummer auf den rechten Oberarm geschrieben bekommt. Dort sprachen wir am Tresen, Wodka-Energy-Drinks zu uns nehmend und halbnackt, ausschließlich über Unwesentliches. Allzu viel Zeit hatten wir ja auch nicht, denn für die Orgie in einer Sonderabteilung des derzeitigen Petersdoms der internationalen Jugendkultur waren maximal eineinhalb Stunden eingeplant, weil man sonst bei der darauf folgenden Elektro-Tanzveranstaltung für Homosexuelle stundenlang in einer Warteschlange in der Kälte hätte stehen müssen.

Nachdem wir die Orgie sozusagen en passant mitgenommen hatten – immer wieder schön, wenn man plötzlich Bekannte, Kollegen und Personen des öffentlichen Lebens in Camouflage-Unterhose antrifft, „Hey, hallo, du auch hier. Orgie und so?“ – „Ja, wollte nur mal gucken“. Informelles Zwangsouting kann auch ganz lustig sein – so zwischen rasselnden Slings und stampfenden Beats. Aber richtig pervers ist hier nur das eine: Es gibt tatsächlich einen Außenbereich, und das bei minus 5 Grad. Die spinnen doch total, die Homosexualisten.

An der Garderobe merkt man dann erst mal, was man im Winter so alles auf dem Leib mit sich herumschleppt. Mantel, Mütze, kiloweise Wolle, alles in einer Tüte, die fast platzt vor Beschwernis. Natürlich sind wir dann bei der Elektro-Tanzveranstaltung die Ersten, weil halb eins nun wirklich viel, viel, viel zu früh ist.

Mein bester Freund weiß nun nicht, was er trinken soll. Er wohnt in Berlin-Mitte und hat daher nicht nur eine Gluten-, sondern auch eine Fructose-Intoleranz. Doch weil ich in Berlin-Neukölln wohne, habe ich die rettende Idee: Sugar Free Fudschi, die Hipster-Variante des Neuköllner Nationalgetränks Whiskey-Cola. Der Barkeeper bricht fast zusammen vor Lachen.

Nach etwa einer Stunde kommen die Leute von der Orgie zur Elektro-Tanzveranstaltung, angezogen und alle auf einmal. Nun muss man tanzen, abweisend gucken und sich über Unwesentliches unterhalten. Alle müssen mitmachen.

Chrchch. Gähn. Der Homosexualismus feiert fröhliche Urstände. Nts-nts-nts. Stampf, stampf, stampf.

Das finden Sie jetzt alles langweilig? Total irrelevant und belanglos? Papier- und Platzverschwendung? Da können Sie mal sehen, wie verschieden die Uhren auf der Welt ticken. Wären wir jetzt in Russland, dann wären Sie jetzt gerade Zeuge einer Straftat geworden. Schriftliche Propaganda für Homosexualismus. Schlimm.

 

Kolumne 90

31.12.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Ökologisches Gleichgewicht zwischen Homos und Heteros

Wenn Kardinal Ratzinger einem Tief in die Augen schaut

Mann kann als Homosexueller vieles falsch machen. Geht man zum Beispiel auf einen schwulen Weihnachtsmarkt, um dort mit Gleichgesinnten Glühwein zu trinken und herumzualbern, stört man die ansonsten auf Weihnachtsmärkten übliche christliche Andacht. Jede Bratwurst eine Oblate, jeder gehäkelte Eierwärmer aus dem Erzgebirge eine Reliquie der Heiligen. Und die bunten Karussells, nichts weiter als ein Maschine gewordenes Mantra, ein elektrisch betriebenes Amen.

„Was soll mein sechsjähriger Sohn denken, wenn er plötzlich einen Weihnachtsmann mit Waschbrettbauch und Stringtanga sieht?! Er weiß doch dann gar nicht mehr, wo er dran ist!“ Diese Frage stellte mir neulich ernsthaft und wahrhaftig eine katholisch gesonnene besorgte Mutter. Ich weiß es auch nicht genau, vermute aber, das ein Sechsjähriger nichts damit anfangen könnte, wenn man ihm erklärte, das der Weihnachtsmann in dieser Form eine Erfindung von Coca-Cola ist und das Ganze womöglich ein Agitprop-Gesamtkunstwerk, das darauf hinweisen möchte, das der Kapitalismus nackt ist.

Ist man als Homosexueller, einfach, wer man ist, und verhält sich still und friedlich – ganz ohne auf dem Weihnachtsmarkt herumzugrölen –, dann ist es auch wieder nicht richtig. So verkündete der Papst anlässlich des Festes der Liebe, dass die Menschheit gefälligst auf „die Stimme der Schöpfung“ hören solle, um die vorgegebenen Rollen von Mann und Frau zu verstehen. Alles andere käme „einer Selbstzerstörung des Menschen und der Zerstörung von Gottes Werk selbst“ gleich.

Als Homo ist man nach dieser Lesart eine Art humanoides Treibhausgas, das der Menschheit die Lampe ausknipst. Eine „Ökologie für den Menschen“ sei gefragt, so hatte es der Papst vor der versammelten Kurie verkündet. Schwule und Lesben in die Biotonne, Deckel zu – und Ruhe ist.

Weihnachten haben wir trotzdem gefeiert, zu zwölft. Mit halb schwuler, halb heterosexueller Besetzung, damit das ökologische Gleichgewicht nicht umkippt. Der Weihnachtsbaum war allerdings, zugegeben, aus Plastik und aufblasbar. Die schönste Anekdote an diesem Abend stammte von einem ehemaligen Schüler des berühmt-berüchtigten Klosters Ettal, der sich nachts mit seinem Jugendschwarm in der Wäschekammer traf und tagsüber stets auf der Hut vor den Nachstellungen seiner priesterlichen Lehrer sein musste. Gefirmt wurde er, der damals noch sehr religiös war und davon träumte, Priester zu werden, von Joseph Kardinal Ratzinger persönlich. Der Kardinal strich jedem Schüler einzeln über den Kopf und sparte nicht mit Aufmunterungen und Lob – nur bei unserem Weihnachtsgast hielt er kurz inne und schaute ihm tief in die Augen: „Das wird nichts, das wird nichts“, sagte er.

Haben wir gelacht an diesem Abend. An Weihnachten will man lieber nicht daran denken, wie mörderisch dieser Hass sein kann, der von den meisten Weltreligionen gegen Schwule und Lesben gepredigt wird. Da ist es besser, man feiert einfach den Red Nose Day und lässt dabei die Fenster geschlossen.

 

Kolumne 89

26.11.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Auf der Gästeliste nachts um halb eins

Am besten sind die Feiern, auf die man gar nicht eingeladen ist

Wie soll man eigentlich reagieren, wenn man auf seiner eigenen Geburtstagsfeier auf Menschen trifft, die man gar nicht kennt? Also solche Leute, die etwas verdruckst herumstehen, klammheimlich und mit schlechtem Gewissen das Buffet abessen und an der Bar ausschließlich subventionierte Drinks bestellen (Wein, Bier, Softdrinks). Am besten umarmt man sie einfach und sagt: „Schön, dass du da bist!“

So fühlte ich mich dann doch noch wohl bei dieser Feier eines jungen, freundlichen Mannes, der gerade seinen 30. Geburtstag beging und den ich im Weiteren nur indirekt kennenlernen durfte, nämlich bei Hintergrundgesprächen in der Raucher-Lounge. Mit seiner Mutter.

Anders verhält es sich, wenn man über einen „Plus Eins“-Vermerk zu einem Chi-Chi-Event geschmuggelt wird, so wie neulich zu einer Edel-Boutique-Eröffnung in Berlin-Mitte. Bei solchen Veranstaltungen muss man sich nicht am Buffet herumdrücken, weil alle zwei Minuten junge Servicekräfte, die eigentlich BWL oder Europäische Ethnologie studieren, mit bizarren Häppchen vorbeikommen. Kartoffelsalätchen mit Trüffel, Lachsschaum-Pralinés, Apfelschwein-Bäckchen auf Sellerie-Mousse. Zu trinken gibt es Drinks von Dr. Seltsam, zum Beispiel Holunder-Wodka-Cocktails, dafür aber reichlich. Weil die Häppchen winzig sind und es sich nicht geziemt, drei auf einmal vom Tablett zu nehmen, hat man recht schnell die Lampen an – und nie würde die Event organisierende Gräfin Hardenberg von „Hardenberg Concept“ jetzt einfach auf einen zukommen, einen in den Arm nehmen und sagen: „Ich begrüße Sie ganz herzlich, auch wenn Sie nun ganz bestimmt nicht auf der Gästeliste stehen. Sie würden doch auch sicher nicht davon ausgehen, dass Ihre Zeitung zu den bevorzugten Medienpartnern des Gastgebers gehört? Und ist Ihnen schon aufgefallen, dass in Ihrem Hemd ein Loch ist?“

Die Gräfin wäre sicherlich zu gut erzogen, so etwas auch nur zu denken – vielmehr entstehen solche Dialoge ja nur im eigenen Kopf. Das schlechte Gewissen meldet sich, und ich bilde mir ein, das die Security mich auf Schritt und Tritt überwacht, damit ich ja nicht einen goldenen Manschettenknopf oder ein T-Shirt im Gegenwert eines Monatsgehaltes unter mein Hemd stopfe, das wirklich nur ein ganz winziges Loch hat. Tröstlich ist nur, dass hier auch noch ganz viele andere Leute rumstehen, als wären sie bestellt und nicht abgeholt. Verloren zwischen Models, Soap-Stars, hoffnungsvollen Nachwuchstalenten und der großen, anonymen Masse der tatsächlichen Zielgruppe: Menschen in mittleren Jahren mit dickem Bankkonto.

Die Geburtstagsparty mit dem Buffet nahm dann allerdings noch eine wunderbare Wendung. Nach zehn Jahren treuer Kundschaft lernte ich dort meinen polnischen Autoschrauber kennen. „Lange nicht mehr gesehen“, sagte er, und ich sagte: „Ich habe kein Auto mehr.“ Aber was um Gottes willen hatte er auf der Geburtstagsfeier eines jungen, schwulen Künstlers zu suchen? Bei einer Menthol-Slimline Zigarette kamen wir ins Plaudern: Seine Frau ist Chansonsängerin und tritt regelmäßig zusammen mit dem Gastgeber auf. Der Abend endete mit einer Einladung nach Polen. Und mit einer Gegenumarmung in Richtung Gastgeber: „Danke, dass ich hier sein durfte.“ Vielleicht lerne ich ihn demnächst ja mal bei einer Party kennen.

Kolumne 88

29.10.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Besser als Bubble Tea

Das Leben kann so schön sein. Man muss sich nur mit lustigen Blasen umgeben

Wenn man fast vierzig ist, kauft man keinen Bubble-Tea mehr, will aber trotzdem manchmal Spaß haben. Wenn überhaupt, eröffnet man als prekärer Mensch völlig verzweifelt gleich eine ganz Bubble-Tea-Filiale. Falls man gerade noch in der Lage ist, seine Gegenwart anders zu finanzieren – von Vorsorge kann natürlich sowieso keine Rede sein –, sucht man sich Blasen und Geblubber anderswo.

Mein bester Freund zum Beispiel verfügt dank einer veritablen Lactose-, Fructose- und Glutenintoleranz – was man heute halt so hat – über einen partiell aufgeblähten Bauch. Auf diesem mit meinem Kopf zu ruhen hatte ich neulich im wahrsten Sinne des Wortes die Freude. Wir lagerten aufgrund guter Beziehungen an einem Swimming-Pool hoch über den Dächern von Berlin.

Es begab sich an diesem letzten, legendären Spätsommer-/Herbstwochenende. Er okkupierte eine der wenigen freien Liegen, und weil ich auch den Sonnuntergang sehen wollte, legte ich mich dazu und nutzte seinen Bauch als Kissen. Was einen ungeahnten Effekt hatte: Jedes Mal, wenn er lachen musste, musste ich, bedingt durch die Erschütterungen, mitlachen. Und umgekehrt. Mein Freund war also ein Lachsack, und wir beide bildeten ein Perpetuum mobile der Heiterkeit.

Wir schauten lustige Videos auf dem iPhone an – Ades Zabel als Vicki Leandros zum Beispiel. Machten Fotos von unseren Aperol-Spritz-Gläsern, die in der Abendsonne unwirklich leuchteten, besonders weil sie am Poolrand standen. Am Rand eines Pools, in dem zwei niedliche Südfranzosen plantschten.

Wir dachten im Traum nicht mehr daran, an unsere gescheiterten Beziehungen zu denken. Nie wieder würden wir über Steuerklärungen, das Älterwerden, die Rente und all diese Sachen nachdenken. Nie wieder, wenigstens für diese einen halbe Stunde, in der die Sonne Berlin ausleuchtete, als wäre es Tel Aviv, und gleich rechts um die Ecke, da wäre dann der Strand.

Unter mir gluckste der Bauch meines Freundes, in den Aperol-Spritz-Gläsern perlte es und außen bildeten sich Wasserperlen, so wie man sie auch auf der schön gebräunten Haut des Südfranzosen sehen konnte, der nun am leicht brodelnden Pool-Rand ruhte.

Das Leben war schön, in dieser einen halben Stunde. Nur schön? Immer strebt man nach dem Glück, und nur manchmal, ganz selten, bekommt man es zu fassen.

Links neben uns konnte man schon den Mond sehen. Schon bald wurde es dunkel. Und kühl. Wir verließen die Dachterrasse, beide hatten wir noch Verabredungen für den Abend. Wir trennten uns mit einer Umarmung.

Heute, eine Woche später, sitze ich alleine in meiner Wohnung, und draußen ist es kalt. Der Winter kommt, und der macht mir gerade ein bisschen Angst. Wenn da nicht dieses Blubbern wäre. Dieses vertraute Blubbern in den Heizkörpern. Ein Fachmann würde sagen: Die müssen entlüftet werden. Aber ich sage: Schon die Heizkörper meiner Kindheit waren schlecht entlüftet, und so soll es bleiben.

Ich finde diesen Blubber-Sound heimelig, es ist mein Knistern im Kamin, es ist mein Meeresrauschen vor dem Schlafzimmerfenster. So lange es dort ordentlich blubbert, kann mir der Winter mit seinen langen, dunklen Stunden nichts anhaben. Ich muss mir nur noch Kerzen besorgen. Und einen niedlichen Südfranzosen im Wollpulli.

Kolumne 87

1.10.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Die Froschfalle

Sitzen drei Männer in einem Kellerloch an der Ostsee und reden

Wenn man in Berlin wohnt und mit den Nerven runter ist, dann fährt man an die Ostsee.

Der Meerblick in unserer Ferienwohnung auf der Insel Poel ist zwar vorhanden, entpuppt sich aber bei genauem Hinsehen als Blick aus einer Kellerwohnung. Um das Meer zu sehen, muss man in das Wohnzimmer gehen, das in feinstem Gelsenkirchener Barock eingerichtet ist. Die Wohnung ist mit braunem Teppich ausgekleidet, es riecht nach Heizöl und Raumerfrischer – immerhin der Duftrichtung „Meeresbrise“. Wir sind zu dritt und hier erst recht der Verzweiflung nahe – wie soll man den Nerven in einer solchen Atmosphäre Gutes tun?

Der eine von uns hat starken Liebeskummer, er ist ganz dünn geworden und blickt mit traurigen schwarzen Augen in die Welt. Der andere von uns muss seine Dissertation fertigstellen und hat darüber schon jetzt ganz viele Falten zwischen den Augenbrauen bekommen. Ich selbst bin seit Wochen damit beschäftigt, einen veritablen Burn-out vorzubereiten.

Wie soll man hier seinen Nerven Gutes tun? Mit etwas, das zur Einrichtung passt. Wir beschließen, Gulasch zu kochen nach Großmutters Rezept. Nach dem Einkauf quetschen wir uns alle drei in die ungefähr vier Quadratmeter große Küche. Es gibt kaum Luft zum Atmen, weil alle rauchen und es im Schmortopf ordentlich zischt, schmurgelt und dünstet. Wir trinken Rotwein und reden.

Der eine von uns, der mit dem Liebeskummer, hat einen „Migrationshintergrund“, und weil er schwarze Locken hat und dunkle Haut und einen fremd klingenden Namen, ist dieser Hintergrund ständig im Vordergrund. Der andere von uns ist groß und blond und stottert. Wenn er mit dem „s“ ringt, dann kann das jeder hören und es macht die Sache nicht leichter für ihn. Ich selbst denke darüber nach, dass ich früher, als Jugendlicher, nie auf die Idee gekommen wäre, mit zwei Heterofreunden einen Kurzurlaub zu machen – ich hatte keine Heterofreunde, weil ich dachte, dass mich solche Menschen ablehnen würden.

Gulasch kochen, Gulasch essen, das ist ein Zuhausesein. Der Rotwein löst die Zungen und auch das mit dem „s“ klappt nun besser.

Wir reden darüber, wie schwer es für den einen mit dem Liebeskummer war, als er nach Deutschland kam. Mit nur 800 Dollar in der Tasche. Der andere erzählt, welche Katastrophe es war, als ihm seine Eltern als junger Mensch die Stottertherapie nicht zahlen konnten. Sie hatten die 1.500 Euro nicht. Und ich traue mich zu erzählen, wie es wirklich ist mit dem Schwulsein – und wie schwer das für mich war, früher mal.

Wir sitzen in einem winzigen Kellerloch auf einer Insel, fernab der Welt. Das Loch ist wie ein Bunker, in dem wir, die Abgesonderten, uns sicher fühlen können. Das Loch ist eine kleine Zelle, in der unser „Anderssein“ nicht mehr schlimm ist, wir können uns sogar ein wenig darin baden.

Am nächsten Morgen blicken wir beim Rauchen auf die Kiesdrainage vor dem kleinen Küchenfenster. Dort liegen unzählige kleine Froschleichen. Die Frösche waren in das Loch gehüpft und sind darin umgekommen. Sie kamen nicht mehr raus und vertrockneten.

Wir packten unsere Sachen und fuhren nach Hause, zurück nach Berlin. Erleichtert, denn dort würden wir wieder mitten im Leben sein.

Kolumne 86

3.9.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Torte, mitten ins Gesicht

Katherina Reiche (CDU) sieht in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften eine Bedrohung für den Deutschen Wohlstand

Eines der Beliebtesten YouTube-Videos von Hape Kerkeling heißt „Schwule im Café“ – darin schlüpft er in die Rolle einer bösartigen, frauenfeindlichen Tunte („Das war ein Sche-herz!“), die im Café Korten Torte einkaufen möchte. Gibt es solche Schwule?

Es gibt sie, so wie es auch Frauen gibt, die Homosexuelle ablehnen. In den späten Siebzigern zum Beispiel stand die amerikanische Sängerin Anita Bryant – ehemalige „Miss Oklahoma“, Werbeträgerin für Orangensaft aus Florida und gläubige Baptistin – an vorderster Front.

Sie erreichte, dass eine 1977 in Florida erlassene Menschenrechtsverordnung, die eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität verbot, zurückgenommen wurde: „Wenn Schwulen Rechte gegeben werden, werden wir als Nächstes Rechte an Prostituierte und an Menschen, die mit Bernhardinern schlafen, geben müssen“, sagte sie seinerzeit. Zudem gründete sie die dem Kindeswohl gewidmete Organisation „Save our Children“, weil sie zu wissen glaubte, „dass Homosexuelle biologisch nicht in der Lage sind, Kinder zu erzeugen; deshalb müssen sie unsere Kinder rekrutieren.“

Daraufhin wurde sie zu einem der ersten Opfer politischer „Tortung“: Während einer Pressekonferenz in Des Moines am 14. Oktober 1977 landete durch die Hand eines Schwulen-Aktivisten eine Bananencremetorte in ihrem Gesicht. „At least it’s a cream iie“, sagte sie noch, bevor sie unter Tränen um Vergebung für den Täter mit dem „teuflischen Lebensstil“ betete. Ebenfalls ein YouTube-Klassiker.

35 Jahre später setzt sich Katherina Reiche, CDU, evangelische Brandenburgerin, bekennende Atomkraftfreundin und Parlamentarische Staatssekretärin in Peter Altmaiers Umweltministerium, in die ZDF-Talkshow „Maybrit Illner“, um ihre zuvor bereits der Bildanvertrauten Argumente auszubreiten: „Unsere Zukunft liegt in der Hand der Familien, nicht in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Neben der Eurokrise ist die demografische Entwicklung die größte Bedrohung unseres Wohlstands.“ Kein „cream pie“ flog in ihr Gesicht, dafür aber ein Facebook-Shitstorm um die Ohren – obwohl sie eigentlich nur Dinge sagte, die auf der Linie ihrer Partei liegen, die sich erst vor Kurzem mehrheitlich gegen die Gleichstellung von Homosexuellen ausgesprochen hat.

35 Jahre später werden in den USA Homosexuelle für den Wahlkampf instrumentalisiert – so wie sie von der CDU/CSU zu Marketingzwecken in Geiselhaft genommen wurden. Doch diese Zeiten scheinen nun vorbei zu sein: Die Schwulen und Lesben in der Union begehren endlich auf. Fraktionskollege Jens Spahn, Mitglied jener „Wilden 13“, die sich für die steuerliche Gleichstellung homosexueller Partnerschaften einsetzen, twitterte, dass er sich von Frau Reiche als „Bedrohung unseres Wohlstands diffamiert“ fühle. Und die Junge Union von Frau Reiches eigenem Wahlkreises in Potsdam attestiert ihr ein mittelalterliches Weltbild.

Frau Reiche braucht keine Torte ins Gesicht, sondern mehr Gespräche über die Relevanz des Grundgesetzes bei Kaffee und Kuchen. Und zwar zusammen mit jenen (konservativen?) Homosexuellen, die sie laut Bild-Interview in ihrem Freundeskreis hat. Breisgauer Boskop-Batzen, Warschauer Granatbrocken-Mürbeteig, tasmanische Tollkirschen-Törtchen …

 

Kolumne 85

6.8.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Zwischen Penetration und Tischgebet

Haben Heterosexuelle auch Sex? Oder machen sie nur Liebe?

Wer weiß schon wirklich, wie er auf andere Menschen wirkt? Man kann in den Spiegel schauen, man kann sich selbst fotografieren oder fotografieren lassen – aber die Bilder, die man in den Köpfen der anderen erzeugt, man wird sie nie zu fassen bekommen. Mann kann sie nur bedingt gestalten, gar manipulieren.

So geht es auch den Homosexuellen: Sie können sich auf den Kopf stellen, eingetragene Lebenspartnerschaften eingehen, kilometerlang im Rahmen von Paraden durch Innenstädte laufen und mit Schlagbohrmaschinen hantieren: Am Ende bleiben meist die Bilder in den Köpfen der Menschen hängen, die den Stereotypen entsprechen.

Wenn Heterosexuelle mit dem Begriff Homosexualität konfrontiert werden, leuchtet in irgendeinem Hirnareal scheinbar automatisch der Begriff Analverkehr auf, gleich im Anschluss werden große Dosen von Stress- und sonstigen Hormonen und körpereigenen Drogen durch die Blutbahn gejagt und lassen den Heterosexuellen in Ambivalenz erschauern: Penetrationen an dunklen, verbotenen Orten. Verschwitzte Leiber winden sich in Orgienkellern. Stöhnen, Schreie. Unsägliches, Verbotenes, Finsteres und Schmutziges findet hinter verschlossenen Türen statt – faszinierend und beängstigend zugleich, doch wer auf Nummer sicher gehen will – weiterhin sicher sein will, das Richtige und Gebotene zu tun, wird nun höchstens kurz erröten und sich dann schamvoll abwenden. In Abwehrhaltung gehen: Diese Türen sollen bitte verschlossen bleiben, denn gleich hinter ihnen könnte sich ein Abgrund auftun, der einen auf direktem Weg in die Hölle führt.

Aber wie ist das eigentlich, wenn Homosexuelle mit Heterosexualität konfrontiert werden? Ich versuche einen kleinen Bilderdurchlauf: Kinder, Kombi und Reihenhaus. Männer, die über Ytong-Steine debattieren, sich mit Sportverletzungen rühmen und im Haushalt helfen, indem sie staubsaugen. Frauen, die liebevoll und nachhaltig im Risotto rühren und stets darauf achten, dass die Blumen im Garten genug Wasser bekommen. Urlaube im vollgedrängten Family-Resort. Bausparverträge und Kita-Rallye. Funktionskleidung und Tischgebete. Vorort-Gartenfeste, bei denen jeder einen Salat mitbringt.

Bei diesen Bildern schlafen einem ja die Füße ein. Null Hormonkick, keine Schweißausbrüche. Fehlt was? Da fehlt was, aber was? Ach ja, klar: Sex! Warum kommen da jetzt überhaupt keine Sex-Bilder? Hallo! Wo kommen denn die Kinder eigentlich her? Ich frage einen heterosexuellen Kollegen. Er sagt: „Wenn man Kinder erzeugt, hat man keinen Geschlechtsverkehr, man macht Liebe.“

Ach so, klar.

Aber in dem Wort Heterosexualität versteckt sich doch auch das Wort Sexualität? Ich versuche es noch einmal mit Gefühl, irgendwas muss da sein: Zwangsprostitution, Vergewaltigung, Blow-Jobs, Swinger-Clubs, Bordelle, Genitalbeschneidung, Gang-Bang. Reeperbahn, Wohnwagen an Ausfallstraßen.

Geht doch.

Aber trotzdem: Irgendwas ist hier verrutscht mit den Bildern. Ich habe nichts gegen Analverkehr, aber ich habe auch eine Regenjacke von Jack Wolfskin im Schrank, gieße regelmäßig meine Blumen auf dem Balkon und kann gut Risotto kochen. Ob die Zeugung von Kindern nicht doch auch mit ungeschütztem Vaginalverkehr zu tun hat?

Kolumne 84

9.7.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Menschen, relativ statisch

Freitagabend einfach nur auf ein Bier treffen? Von wegen einfach – gibt es da doch noch all diese prinzipiellen Fragen

Mit zunehmender Reife wird der Mensch selbstbewusster. Leider, denn aus genau diesem Grunde ist es fast unmöglich, einfach mal nur zusammen ein Bier trinken zu gehen in einer deutschen Großstadt. Freitagabend in Berlin: „Wollen wir wirklich in diesen Laden gehen? Das willst du doch nur hin, weil er genau bei dir um die Ecke ist“, sagt ein reifer, selbstbewusster Herr aus meinem sozialen Umfeld, der sich dann aber doch einen Ruck gibt und mit seiner Freundin in besagtem Laden antanzt – nicht ohne dass wir den von mir ausgewählten Sitzplatz mit einem anderen seiner Wahl tauschen. Es ist wie in der Politik, man muss Kompromisse machen.

„Trinkt ihr Bier? Ich will aber lieber Weißwein“, sagt er. Sagt sie: „Dann bestell dir doch einfach einen Weißwein.“ Sage ich: „Wir können auch in einen anderen Laden gehen, in der Weichselstraße ist auch nicht so ein Durchgangsverkehr“. Sagt sie: „Nein, da gibt es nur Flaschenbier und das tue ich mir nicht an.“ Sagt er: „Ich will lieber kiffen – können wir uns nicht in den Park setzten?“

Es wurde dann kein Park, sondern das Ufer des Landwehrkanals. „Ich finde, wir sollten an der Brücke rechts gehen, da ist der Blick am schönsten“. Sage ich: „Aber auf der linken Seite sitze ich immer, und dort findet man auch noch Sitzplätze.“ Nachdem wir also einmal in die eine und dann in die andere Richtung paradierten, mit schweren Sechserträgern Bier unter dem Arm, stellte sich heraus, das es um weitaus prinzipiellere Fragen als rechts oder links ging. Es ging nämlich um die Entscheidung zwischen steinerner Uferböschung und Parkbank. Wie man sich bettet, so ruht man.

Sagt sie: „Ich bin relativ statisch“, worauf hin wir uns auf eine Bankgruppe in der Nähe des Bouleplatzes einigen, auf Augenhöhe mit lokalem Prekariat, ebenfalls Bier trinkend. Alle reden, wenn auch nicht miteinander, über das Gleiche, steigende Mieten.

Der Sommerabend ist nicht lau, sondern drückend schwül. Gewitter dräuen – und es stellt sich heraus, dass die Bankgruppe nicht adäquat ausgerichtet ist. Sagt er: „So können wir nicht sitzen, die Krümmung der Bank-Gruppe verhindert ein Gespräch.“ Sagt sie: „Auf der Mauer dort kann ich nicht sitzen. Und wenn, dann nicht mit den Beinen in Richtung Kanal baumelnd, sondern so, dass ich Boden unter den Füßen habe.“

Auf der Mauer sitzend, mit Boden unter den Füßen, betrachten wir die paradierenden Menschen aus der Eurozone. Alle sind verdächtig, an den steigenden Mieten in Berlin irgendwie mitschuldig zu sein. Eine junge Studentin geht mit ihren die große Stadt bestaunenden Eltern vorbei – schon morgen werden sie ihrer Tochter eine Eigentumswohnung kaufen.

Sagt er: „Wir werden hier nicht bleiben können. Es ist vorbei.“ Sage ich: „Dann bleibt doch einfach in eurer Wohnung, krallt euch fest.“ Sagt sie: „Man muss eine Wohnung kaufen, außerhalb des S-Bahn-Rings.“ Sagt er: „Nein, man muss ein ganzes Haus kaufen, mit mehreren.“ Sage ich: „Man muss ein Haus auf dem Land kaufen und in der Stadt bescheiden wohnen.“ Sagt sie: „Man braucht was im Süden, am Meer.“ Sage ich: „Wir haben doch überhaupt kein Geld.“

Was sollen wir überhaupt machen in der zweiten Lebenshälfte? Noch ein Bier trinken?

Sagt er: „Ich will Tannenzäpfle.“ Sagt sie: „Ich will aber ein Jever.“

Kolumne 83

11.6.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Liebe aus tausendundeiner Kehle

Als Georgette Dee mit der Fanmeile im Chor sang und ich fast glaubte, dazuzugehören

Man kann auch mal einfach nicht Fußball gucken. Und zwar so, dass es einfach nichts bedeutet. Ein Nichtgucken, das weder als politischer Protest gemeint ist noch als Distanzierung von den „Massen“ oder gar als Ausdruck einer gesondert nobilierten Geisteshaltung. Ein Nichtgucken vielmehr, das einfach damit zu tun hat, dass man etwas Besseres vorhat. Wenn sich nämlich die Diseuse Georgette Dee aufrafft, doch mal wieder ein Konzert zu geben – nur ein einziges –, dann muss man auch hingehen. Ins Tipi, dem großen Zirkuszelt neben dem gigantischen Kanzleramt in Berlins Mitte, das vor genau zehn Jahren der „Kleinkunst“ wegen aufgespannt wurde.

„Ich bin nicht jeden Tag dein Sonnenschein, dann lieber gar nicht“, singt Georgette Dee einen ihrer heiter-melancholischen Klassiker, und es ist alles wie immer, allein es fehlen ihr volles Wodkaglas in der Hand und die brennende Zigarette. Sie ist älter geworden und es steht ihr gut. Das Zelt ist bis auf den letzten Platz ausverkauft an diesem EM-Abend, Deutschland gegen Portugal, und alle sind froh, dass Georgette Dee noch lebt und singt. Wann habe ich sie zum ersten Mal auf der Bühne gesehen? Es muss 15 Jahre her sein, ungefähr. Das Kanzleramt gab es noch nicht, der Potsdamer Platz war eine riesige Baustelle und das Wort „Public Viewing“ kannte kein Mensch.

Georgette singt von der Unmöglichkeit der Liebe und der wunderbar verschrobenen menschlichen Angewohnheit, doch an sie zu glauben. „Ich will nicht morgen schon dein Gestern sein, dann lieber gar nicht“, und je mehr ich ihr zuhöre, mich fallen lasse, desto mehr Wärme breitet sich in mir aus. Natürlich gibt es die Liebe. Natürlich lohnt es sich, immer wieder Mut zu fassen und sich anschließend voll auf die Schnauze zu legen. Von der Fanmeile am unweit gelegenen Brandenburger Tor ertönt der Backgroundchor der Begeisterung, Tausende jubilieren, es steht 1:0 für Deutschland. Die Wände des Zeltes vibrieren, drinnen wie draußen ist Energie, die nun ineinanderfließt, statt sich in einem Gewitter zu entladen.

Der Nachhauseweg wird zum Sommermärchen. Die Luft ist noch immer warm und erfüllt von fröhlichem Getröte und „Deutschland“-Rufen, die nicht wie Marschstiefel klingen, sondern eher wie Flipflops. Junges Volk, in Fahnen gehüllt und mit schwarz-rot-goldener Gesichtsbemalung ist auf dem Weg von der Fanmeile zum Hauptbahnhof. Ich gehe einfach mit, werde Teil der großen, weltweiten Fußballverschwörung. Niemand weiß ja, dass ich den Abend mit Liebesliedern verbracht habe, es ist auch egal, denn gute Laune haben wir alle. Deutschland hat gewonnen, die Liebe gibt es doch, und der Ball ist rund.

Sogar der Berliner Hauptbahnhof wirkt heute nicht überdimensioniert und klotzig. Er leuchtet vielmehr anmutig und ist gerade groß genug für die strömenden Massen. Dicht an dicht drängt sich das Volk und riecht nicht nach Schweiß und Aggression, sondern nach Weichspüler und Sommernacht. Berlin, Berlin, wir fahren durch Berlin! Was für eine Sause, und dann geht’s richtig los. „Du Schwuchtel.“ „Du bist ja ein 1-a-Homo“, quillt es plötzlich aus Männermündern. Wie immer zucke ich zusammen, obwohl ich gar nicht gemeint bin. Es geht ja nur darum, Kumpels freundschaftlich runterzumachen, indem man sie mit einem abwertenden Begriff belegt.

Nach Hause gehe ich alleine.