Kolumne 82

4.4.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Auf du und du mit Seeräuber-Jenny

Wäre es nicht Grossartig, wenn keine Kränkung ungesühnt bliebe?

Man mag es kaum glauben, wenn man gerade in einer Gay Bar mit schlechter Musik sitzt, aber der Homo ist immer auch ein Homo politicus; man sieht es derzeit im US-Wahlkampf: Während Barack Obama am Ende seiner Amtszeit plötzlich die gleichgeschlechtliche Ehe preist, sieht sich sein republikanischer Gegner zeitgleich mit dem Vorwurf konfrontiert, in den sechziger Jahren (!) einen homosexuellen Mitschüler gemobbt zu haben. Er und seine Kumpane sollen seinerzeit in der Schule einem Jungen, der sich die Haare blond gefärbt hatte, die selbige gewaltsam abgeschnitten haben. Unter anderem.

Wieder mal nur eine Instrumentalisierung von Minderheiten im Rahmen politischer Machtkämpfe? Wie dem auch sei: Toll daran ist die Idee, dass man seinen Mitschülern Jahrzehnte später endlich die Hammelbeine dafür langziehen könnte für das, was sie einem seinerzeit angetan haben. Volker P., einst Sportheld und Großmaul aus der zehnten Klasse, will Oberstaatsanwalt in Oldenburg werden? Ha! Zur Aktenlage: Da war noch dieser Vorfall im Jahr 1987, jungen Mann einfach zu Boden getreten und als „Milchgesicht“ beschimpft? Sie erinnern sich nicht? Tja, das nützt Ihnen gar nichts, das war’s dann mit der Oberstaatsanwaltschaft, zurück in die Müllstelle oder sonst irgendetwas Beschämendes verwalten.

Rache! Seien wir ehrlich: Es ist doch immer wieder schön zu sehen, wenn gewisse ungeliebte Menschen über ihre eigenen Trampelfüße stolpern und in der Pfütze landen. Zum Beispiel politisch aktiv gewordene Juristen, die ihren Doktortitel zurückgeben müssen – und bei denen es sich genau um die Leute handelt, die seinerzeit an der Universität in grüne Barbour-Jacken gewandet Bücher aus dem „Handapparat“ hinter der Manitoba Review of Literature versteckten, Kommentare schwärzten oder gleich ganze Seiten herausrissen, um sich einen „Informationsvorsprung zu sichern“.

Wen könnte man noch aufs Schafott schicken? Vielleicht Dieter mit den Gelhaaren, der mir Anfang der Neunziger beharrlich „Schwuchtel“ hinterherzischte und hoffentlich auch so noch immer unter den niemals verschwundenen Narben seiner seinerzeitigen Akne leidet. Holger B., dafür, dass er mir mit voller Absicht einen Ball ins Gesicht geworfen hat, weil er mich nicht in seiner Fußballmannschaft haben wollte. Ganze Klassenverbände der Mittelstufe für Hänseleien auf dem Schulhof. Eine komplette Kleinstadt für Unduldsamkeit gegenüber allem und jedem, der oder die anders ist. Es würde ein Blutbad: „Und ein Schiff mit acht Segeln / Und mit fünfzig Kanonen / Wird liegen am Kai!“

Das alles geht mir durch den Kopf, als ich allein auf einem Barhocker sitze, ein Bier vor mir auf dem Tresen. Schön, mit sich allein auszugehen – ab durch die Berliner Nacht, die Bedrängnisse aus Jugendzeiten, sie liegen weit zurück. Die Welt, sie gehört mir, und ich bin inmitten von ganz, ganz vielen anderen Homos, seien sie nun politisch oder nicht.

Einer von ihnen guckt freundlich herüber, sodass ich mich irgendwann traue, ihn anzusprechen. Ich gehe zu ihm an den Tisch, „Lust auf ein Bier“, frage ich? Sagt er mit hochmütiger Herablassung und so, dass es alle hören können: „Heute nicht.“ Also, wenn dieser Typ mal Bundespräsident werden will, dann werde ich das zu verhindern wissen.

Kolumne 81

16.4.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Kuscheln hinterm Eisernen Vorhang

Liebe Russen, liebe Serben, liebe Kroaten! Wenn ihr Spass haben wollt, dann lest das! Das ist Propaganda

Nach einem langen Irrlauf durch dunkle Gassen und Hinterhöfe stößt man auf eine verschlossene Stahltür … So beginnen die meisten Geschichten, die von Schwulen und Lesben im ehemaligen Ostblock handeln. In Russland gibt es vielleicht bald gar keine Geschichten mehr über dieses Thema, weil jegliche Thematisierung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen bestraft werden soll. Man will eine solche Propaganda verhindern, zum Schutz des russischen Volkes.

Was soll man tun? Am besten Propaganda machen: Liebe Russen, wenn ihr mal wirklich Spaß haben wollt, dann geht in die schwul-lesbischen Clubs von Moskau. Dort sind die Getränke viel billiger als in irgendwelchen Oligarchen-Dissen, die Männer sehen besser aus und tanzen manchmal mit wunderschönen entblößten Oberkörpern. Die Mädchen sind trinkfest, lebenslustig und üben interessante Berufe aus. An einem der schönsten schwul-lesbischen Veranstaltungsorte gibt es zudem den besten Ceasar’s Salad in ganz Moskau, zu erschwinglichen Preisen. Die Lokalität heißt Propaganda, nicht weit vom Moskauer Rathaus entfernt. Hier kann man sich wie in einer richtigen Weltstadt fühlen, ganz ohne Popen mit Bärten und Nationalisten mit Glatzen.

Liebe Serben, wenn ihr mal ausnahmsweise keine Lust haben solltet auf Bier, Rockgeschrammel, stiernackige Typen und Stöckelschuhfrauen, dann geht in den Club Apartman, er ist gleich bei der Brankobrücke. Altes Abrisshaus, dritter Stock rechts. Elektronische Musik, queeres Künstler- und Kreativvolk, geile Atmosphäre, irgendwo zwischen Berlin, London, New York. Willkommen in Europa! Zur Vorbereitung einfach den Film „Parada“ von Srdjan Dragojevic anschauen, er ist extra für Schwulenhasser gemacht und wirkt ausgesprochen therapeutisch, weil ihr über euch selbst und euren nationalen Männlichkeitswahn lachen könnt.

Liebe Kroaten, wenn ihr gerade keine Zeit haben solltet, Schwule und Lesben zusammenzuschlagen – zum Beispiel in eurer angeblich so weltoffenen Küstenstadt Split –, dann fahrt mal in eure Hauptstadt Zagreb. Ihr könnt zum Beispiel das Queer Arts Festival besuchen, es beginnt am 23. April. Ikonen, Knüppel und alte Kriegswaffen bitte zu Hause lassen und stattdessen einfach mal ein paar entspannte Tage mit internationalen Gästen genießen, die nicht nur darauf aus sind, am Steinstrand herumzuliegen und Rotwein mit Cola und Eis zu saufen. Es gibt Filme zu sehen und Performances, Ausstellungen – und hinterher wird schön zusammen gefeiert. Heilige Maria!

Liebe Polen, in eurer wunderschönen Hafenstadt Danzig gibt es leider nur einen Gayclub, also kommt rechtzeitig, damit ihr noch einen Platz bekommt. Der Laden heißt Kogiel-Mogiel und befindet sich in der Nähe des Hafens. Hinter dem Tresen stehen supernette Lesben („In Poland you have to drink vodka“),während auf ihm halbnackte Jünglinge tanzen. Ist mal was anderes, als immer nur Papstbilder anzugucken und Bigosch zu essen. Irgendwie schmeckt an diesem Ort sogar das notorische Schädelbräu Danziger Goldwasser gut.

Viel Spaß euch Völkern, verlauft euch bitte nicht bei den Gängen durch dunkle Gassen und Hinterhöfe, und habt keine Angst. Ihr seid willkommen hinter all den geschlossenen Eisentüren. Dort trinken, lachen und feiern bloß Landsleute.

Kolumne 80

19.3.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Mit drei Bieren um die Welt

Ungleichzeitigkeit schützt vor Ohnmacht nicht – Gespräche mit Glaubensbrüdern

Mein Eltern haben mich nur nicht umgebracht, weil ich der einzige Sohn bin.“ Wer rechnet mit so einem Satz morgens um halb drei, beim dritten großen Bier in einer Homo-Bar? Im Jahr 2012? Schwule Läden ohne Fenster und mit verschlossenen, schwarzen Türen, an denen man erst klingeln muss – sie gelten einigen längst als Auslaufmodell. Wer braucht noch Bunker, wenn der Krieg vorbei ist? Für nicht wenige sind aber genau diese Läden noch immer ein Schutzraum. Ein Ort, an dem man endlich mal offen reden kann. Mit Fremden. Cem ist vielleicht Mitte 30, seine Eltern stammen aus der Türkei, doch er ist hier geboren. Dass er schwul ist, darf niemand wissen – als er versucht hatte, mit seinen Eltern darüber zu sprechen, wurde er zunächst mit Todesdrohungen und dann mit dem Gebot einer baldigen Heirat bedacht.

Cem hat sich gefügt, wusste keine Alternative: „Meine Frau weiß von nichts. Jetzt habe ich zwei Kinder. Das Einzige, was mir bleibt, ist, ab und an in solche Läden zu gehen, nachts. Aber das nützt auch nichts, ich kann mich einfach nicht entspannen. Ich kann mich gar nicht richtig auf Männer einlassen, es ist alles ein Krampf.“

Auf einer Podiumsveranstaltung zum Thema „Islam und Homosexualität“ hatte ich vor kurzem erst von einer Teilnehmerin den guten Rat vernommen, dass man doch seiner Familie nicht alles sagen müsse – ein Rat, der, eingebettet in die Geschichte der Bundesrepublik, ungefähr auf das Jahr 1972 verweist. Ich gebe ihn nicht weiter.

Ohnmacht erfasst mich, während rundherum gefeiert wird. Laute, fröhliche Musik erklingt. Die kleinen Junghomos nebenan, sie sind vielleicht 21, total niedlich und total betrunken, versuchen sich im Scherz als Go-go-Boys und tauschen altersgerechte Sätze aus: „Gehen wir jetzt ins Silberzukunft oder ins Sexwerk?“ Die Antwort: „Ach, nee, im Silberzukunft quatschen dann alle wieder nur über Heteronormativität – aber im Sexwerk? Ich bin mir nicht sicher, ob ich meine Zukunft mit Sex-Partys zubringen will – und die Musik ist doch geil hier.“

Genau. Sie können sich aussuchen, wie sie leben und wer sie sein wollen: schwul, queer, bi, Staatsbürger, Student, Ehemann. Es ist das Jahr 2012 und wir sind in Berlin.

Zeitgleich werden genau solche jungen Männer in engen Hosen, die ihr Haar länger tragen und gerne Alternative hören, im Irak abgeschlachtet. „Emos“ gelten dort als erstens schwul und zweitens satanistisch, weshalb sie von Islamisten gesteinigt werden – über hundert Opfer soll es in den letzten Wochen gegeben haben, genaue Zahlen gibt es nicht. Sie werden grausam zu Tode gequält und auf Müllkippen entsorgt, weil sie nicht dem traditionellen Männerbild entsprechen.

Ein aus Pakistan stammender Freund, Kasim, schneit nun herein, bestellt ein Ginger Ale. Er ist Muslim und will sich seinen Glauben nicht wegnehmen lassen: „Ich versuche erst mal, das für mich persönlich ein Einklang zu bringen – auch über das Studium der Schriften. Ich bin mir sicher, dass es eines Tages einen Weg geben wird, aber diese Entwicklung darf nicht vom Westen ausgehen. Es muss in den Ländern selbst geschehen.“

Es ist das Jahr 2012, es ist schon spät. Und für so viele leider schon zu spät.

Kolumne 79

20.2.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Mit Saddam im Orgienkeller

Warum es manchem Mulmig wird, wenn die Klischees nicht ordnungsgemäss bedient werden

Wer sich in das nächtliche Leben stürzt, muss oft genug mit künstlichen Substanzen selbst dafür Sorge tragen, dass die Welt endlich mal ein bisschen kopfsteht. Angestelltenfreizeitkultur ist ja nicht per se aufregend, nur weil die Beleuchtung schummerig ist und Musik zu hören ist. So ist das auch im schwulen Nachtleben, da weiß man in der Regel auch schon vorher, was auf einen zukommt. Dachte ich.

Nts-Nts-Nts, Kirmes-House und gekühlte Getränke, Nts-Nts-Nts. Eine Bar in Berlin-Schöneberg, man kommt ins Gespräch. Ein junger Mann setzt sich mit an den Tisch, ein Bekannter eines Bekannten. Alles gezupft, bisschen überpflegt, zu enge Klamotten, und wieder ein freundlicher kleiner Friseur, der sich in seiner Freizeit für Orchideen interessiert und Musicals und so weiter. Dachte ich. Dann nämlich erzählt mein Bekannter, dass er neulich Zeuge wurde, wie dieser kleine flamboyante Hüpfer zwei Jugendlichen, die ihn als Tunte gehänselt und bedroht hatten, ruck-zuck die Nasenbeine gebrochen hatte. Zack, Kleingeld gespart, das für den Anruf beim schwulen Überfalltelefon fällig gewesen wäre. Es stellte sich heraus, dass der junge Mann kein Friseur ist und mit Orchideen nichts am Hut hat. Und ich fasse mir rasch mal an meine eigene Nase, sogar das Nts-Nts-Nts entpuppt sich bei näherem Hinhören als Latest Hottest Shit aus New York oder so.

Im nächsten Laden sollte die Welt wieder in Ordnung sein. Whitney-Houston-Gedenk-Playlist, vereinzelte Herren an vereinzelten Tischen, rauchend, Bier trinkend. Eine sich mühende, bisschen dabei quietschende Discokugel. Großartiges, latent tragisches Großstadt-Homomilieu-Kino mit Achtziger-Retro-Touch. An der Bar sitzt ein Daddy, der aussieht wie Saddam Hussein auf der Suche nach ein bisschen Druckabbau im Dunkeln. Nun betreten die Transen das Feld. Groß gewachsen, High Heels, Big Hair. Der Kinofilm geht weiter, schön. Fehlen nur noch der zitternde Jungmann im Coming-out, ein Gay-Skinhead, zwei Leder-Trinen und und drei vier bis vier Hobos mit Bärten, um den Stereotype-Zoo zu komplettieren, „Ja, da sind wir wieder in Berlin“, pfeife ich mir innerlich ein Liedchen von Christiane Rösinger. Die Welt war wieder in Ordnung.

Dann allerdings packte eine der beiden Transen ihre Brüste aus, die geradezu frappierend echt wirkten. Entblößte sich auch untenrum, und das, was das von schwarzen Korsagen gehaltene Mieder umrahmte brachte nun Saddam Hussein völlig aus dem Häuschen. „Watt denn, watt denn, ich dachte, das ist hier ein Schwulenladen?“ sagte die Dame. Dachte ich auch.

„Na, wen ditt so ist, dann können wir ja auch schön f…“, sprachs und schritt die Treppe hinunter in den finsteren Orgienkeller, Saddam nichts wie hinterher. Und dort unten kam es nun zum Äußersten. Zwischen Mann und Frau!

llig überfordert von der ganzen Situation waren allerdings die anwesenden Homosexuellen. „Das ist aber jetzt nicht orthodox“, sprach der eine, ein anderer konnte nur „ich brauche jetzt dringend noch ein Bier“ sagen. Niemand traute sich mehr in den Keller hinunter, aber wenigstens hat an diesem Abend die Welt mal so richtig schön kopfgestanden. Bekommt man gleich klarere Gedanken.

Kolumne 78

23.1.2012

Martin Reichert über Back on the Scene

Willkommen im Club – Stößchen!

Diese Unterzeile ist Suchmaschinenoptimiert: Homosexualität, Fashion, Champagner, Berlin

Wenn man nach langen Jahren einer Beziehung – oder einer Ehe – wieder an den Strand gespült wird, ist es tröstend, wenn dort gerade eine Beach-Party veranstaltet wird und einem jemand sogleich einen Cocktail in die Hand drückt: Stößchen! Homosexualität ist ja auch völlig SINNLOS, wenn man sich nicht in die Gesellschaft anderer Homosexueller begibt. Alleine ist man bloß anders und einsam und das interessiert keinen Menschen. Man muss AUSGEHEN.

Back on the Scene“ in Berlin statt „Landmänner“ in Brandenburg – es ist ja nicht so, als ob man während der letzten zehn Jahre nicht mal hier gewesen wäre, aber nun, als Single, kann man sich nicht mehr auf den Besucherstatus zurückziehen. Es gilt topaktuell jener Spruch, der einst das Coming-out markierte: Willkommen im Club! Wenn nur nicht all die Jahre dazwischen lägen – aber hat sich wirklich etwas verändert? Man darf nicht mehr überall rauchen und alle tragen Bärte.

Sonst alles wie immer: Mein bester Freund holt mich ab, wir glühen ein bisschen vor – Stößchen – und dann geht es zu einem BEDEUTENDEN Berliner Mode-Event. Gut, früher wären wir hier nur hereingekommen, weil wir die Jungs hinter der Bar/am Empfang gekannt hätten, und heute sind wir AKKREDITIERT. Das klingt erst mal professionell, aber dann finden wir die Raucher-Lounge nicht und sind am Rande einer Panik: „Werden wir doch alt, verlassen uns am Ende die Instinkte?“, fragt mein bester Freund bang. Er sah aber super aus und total jung, wie hier überhaupt alle total super aussehen und jung.

„Hey, hallo, du siehst ja super aus“, komme ich ins Gespräch mit einer Frau, die oben Carla-Frisur und unten Prada trägt und auch schon fast vierzig ist wie wir. So, und nur so kommt man hier nämlich ins Gespräch und das ist auch nicht schlimm, solange die Leute einem dann ebenfalls auch sagen, dass man ja total super aussieht. HERRGOTT, es nun ist mal ein Mode-Event, bedeutend, aber die Sache wird nicht besser, als mir mein bester Freund „Alles bloß Jeanshalle Nürtingen“ ins Ohr raunt. Wenn nur ein Satz nötig ist, um ein hochsubventioniertes Event aussehen zu lassen wie ein brandenburgisches Feld, dann braucht man mehr Alkohol.

Eine Performance ist nun an der Reihe, mit viel Rumms und Bumms und Licht und GLITZER. Menschen laufen vertikal auf eine Außenmauer hin und her und es ist alles ganz angenehm sinnfrei und immer noch besser, als zu Hause zu sitzen und Digital-Fotos zu verwalten. „Früher hätten wir alles daran gesetzt, hier zu sein, erinnere dich mal“, sagt mein bester Freund und zeigt auf ein Rudel junger Homos in Röhrenhosen: „Guck mal, die sind ganz erstarrt vor Bedeutung!“

Sie sehen nicht nur jung aus, sie SIND es. Aber erstarrt sind sie nicht, ergriffen eher: In ihren Augen ist ein Leuchten, sie atmen den Moment. Die Musik, die wundersam aufgebrezelten Leute – vielleicht sind sie wirklich aus Nürtingen – MANN, BERLIN! – können einfach nicht fassen, was sie hier gerade erleben. Und dann macht es Plopp: Direkt hinter uns wird die kostenlose Champagner-Bar eröffnet. Unsere Instinkte, sie hatten uns also doch nicht verlassen. Stößchen – auf den Zauber des Hier und Jetzt!

 

Kolumne 77

28.11.2011

Martin Reichert über Landmänner

Show must go on

Wer ordentlche Grölsongs fabriziert, darf auch auf dem Land Schwul sein

Freddie Mercury war auf dem flachen Land der wohl größte Botschafter für die schwule Sache: Selbst der hartgesottenste Fußballfan, der gröbste Proll und der rüpeligste Bauer konnten einem Mann, der der Welt solch wunderbare Grölsongs wie „We are the Champions“ oder „I want to break free“ nicht ernsthaft böse sein, egal was der so im Bett trieb. Der Freddie, der war schon irgendwie in Ordnung, und dass ausgerechnet er an dieser schrecklichen Krankheit sterben musste, das tat ihnen dann schon auch leid. Noch heute bekommt man von solchen Jungs knochenkrachende, freundliche Schläge auf den Rücken: „Der Freddie war doch auch einer von euch.“

Genau zwanzig Jahre ist das jetzt her: Mercury starb an einer Lungenentzündung – einen Tag nachdem er öffentlich gemacht hatte, dass er positiv auf HIV getestet worden war. „Show must go on“, das war sein Schwanengesang. Just zwanzig Jahre später liegt ein anderer Poptitan aus jenen Tagen, in denen „Sound“ noch eine wichtige Kategorie war und der Begriff MP3 noch nicht in aller Munde, mit Lungenentzündung in einem Wiener Krankenhaus: Es handelt sich um den „bekennenden Homosexuellen“ George Michael. Und was schwurbelt, murmelt und raunt die Bild?Etwas von wilden Tagen der Vergangenheit mit Klappen- und Parksex und einer eventuellen Grunderkrankung mit drei oder vier großen Buchstaben, deren mit Sünde-Pest-Schuld kontaminierten Namen man aber lieber nicht ausspricht.

Wahrscheinlich ist George Michael einfach nur erschöpft nach den ersten 45 Konzerten seiner aktuellen Tournee und hat sich was gefangen – so wie derzeit die halbe Republik. Das Verrückte aber ist, das die öffentliche Wahrnehmung von HIV und Aids ungefähr Anfang der Neunziger stehen geblieben zu sein scheint, also bei den Fotos von Freddie Mercury mit roten, entzündeten Augen. Oder gar bei Rock Hudson, der sich 1985 einen kompletten Air-France-Jumbo chartern musste, um von Paris zurück in die USA fliegen zu können – sämtliche Fluggesellschaften hatten sich geweigert, ihn zu transportieren.

Die Betroffenen selbst – zumindest in den westlichen Ländern – leben längst in einer anderen Realität. Seit Einführung der Dreifach-Kombinationstherapie im Jahr 1996 müssen HIV-Positive wieder an ihre Rentenversicherung denken, können in der Regel ihrem Beruf nachgehen, sind, so sie unter Behandlung stehen, auch nicht mehr infektiös. Von einem „neuen Aids“ spricht längst der Sexualforscher Martin Dannecker. „Neues Aids“, schon mal gehört?

Wahrscheinlich nicht, und das liegt auch an dem Schweigen der Betroffenen, die ihre Erkrankung meist verbergen: Zu groß ist das Stigma, die leider total berechtigte Angst vor Ausgrenzung – auch innerhalb der schwulen Szene – und Nachteilen im Beruf.

Überhaupt ist bei vielen Schwulen ein großes Schweigen zu beobachten, denn geschätzt wird in der Mitte der Gesellschaft der nette, irgendwie total normale Homosexuelle, der in einer festen, möglichst monogamen Partnerschaft lebt, eigentlich auch ganz gern Kinder hätte und wie alle anderen auch zwischen Bioladen, Ikea und Caffè-Latte-Geschäft vor sich hin dämmert. Anders sein nervt nämlich, weshalb nächtliche Parks, Pornos, Tunten, HIV, Depressionen, homophobe Übergriffe und Dildos lieber beschwiegen werden. Show must go on.

Kolumne 76

31.10.2011

Martin Reichert über Landmänner

Die Menschheit stinkt nicht

Der Kiez riecht, wenn das Dumpfe dröhnen im Kopf wieder freien Atemwegen gewichen ist

Zwei Wochen lang konnte ich die Menschheit nicht riechen. Nein, nicht weil sie den Planeten an die Wand fährt oder lieblos, egoistisch und sowieso verkommen ist. Es war einfach nur eine hartnäckige Erkältung.

In den Nebenhöhlen ging es so farbenprächtig zu wie in jenen weltberühmten Grotten des Vézère-Tals im Perigord, Unesco-Weltkulturerbe dank steinzeitlichem Gestaltungswillen.

Und dort, wo früher der ein oder andere Gedanke wohnte, Hoffnungen schimmerten und Erinnerungen an die Oberfläche gelangten, war nur noch Sekretstau. Ein dumpfes Dröhnen im Kopf also.

Das Essen wurde zu Dämmstoff in verschiedenen Aggregatzuständen, das Leben der Anderen zum Hintergrundgeräusch und das Bett zum Lebensmittelpunkt. Was war eigentlich los in den letzten beiden Wochen? Wie geht es dem Euro? Und riecht die Menschheit noch?

Um das herauszufinden, bedurfte es eines Spaziergangs im herbstlichen Kiez. Und siehe ja: die Menschheit riecht, dünstet, verströmt Odeur und duftet. Die Dame zum Beispiel, die bräsig flanierend ein Vorbeikommen unmöglich macht, scheint eine Patchouli-Spülung zu benutzen – es ist, als würde plötzlich eine Studienfreundin aus vergangenen Tagen dort gehen, deren Haar stets genau diesen Geruch in sich trug. Sogar ihr vertrautes Lachen scheint zu erklingen. Der schwerstangetrunkene Handwerker in weißen Latzhosen, der am helllichten Samstagmittag wirklich Feierabend hat, trägt eine frische Bierfahne spazieren, die sich mit Lack- und Farbverdunstungen mischt. So riecht es, wenn man mit Freunden zusammen die Wohnung renoviert und alle nach getaner Arbeit einen Sechserpack aufreißen.

Drei picklige Teenager-Jungs mit riesigen Sporttaschen kommen entgegen, sie riechen nach Chlor und Duschgel „For Men“ – zu Hause warten ihre Mütter und Väter mit dem Mittagessen. Nach dem Sport schmeckt alles dreimal so gut. Die alte Dame im Supermarkt riecht nach Alter, das man nicht riechen soll. Nach Handcreme und Kölnisch Wasser. Und ihr Mann nach Nikotin, Haarwasser und Alter. Sie kaufen Kartoffeln, Gemüse und Speck, es wird wohl heute Suppe geben.

Der Obdachlose im EC-Automaten-Raum nimmt einem den Atem und es dräut der Gedanke „Es stimmt doch irgendwas nicht mit dieser Gesellschaft“, während der Fünfziger aus dem Automaten sirrt und entsprechend kein Kleingeld vorhanden ist für den Bettelnden, „Tut mir leid!“.

Der türkische Mann in der Schlange beim Gemüsehändler riecht süßlich nach Haarwachs – er arbeitet im Zigarettengeschäft um die Ecke, „Merhaba!“, alle in seiner Familie haben das gleiche freundliche Lächeln.

Die junge fränkische Studentin vor ihm in der Schlange müffelt nach ungelüfteter Kleidung, talgigen Rasta-Locken und altem Hund – und strahlt die ganze Welt an, als sei sie eine Königin und die Sonne ihr Gemahl. Die Welt gehört ihr.

Der Humpelnde an der Bushaltestelle verströmt den Geruch von Armut, sie riecht nach Alkohol, Schimmel und Zwiebeln. Die Proll-Prinzessinnen daneben stinken dagegen an – mit Puder, Haarspray, Deodorant, Discounter-Parfum, Fruchtkaugummi und Limonade.

Was ist nun mit dem Euro? Wer weiß. Aber nach zwei Wochen Abwesenheit durch Krankheit kann ich verbindlich mitteilen: Die Menschheit stinkt nicht. Sie duftet nach Leben.

 

Kolumne 75

8.8.2011

Martin Reichert über Landmänner

Ein jeder kehre unter seinem eigenen Sling

Formulare, Formulierungen und formelles: zehn Jahre eingetragene Lebenspartnerschaft

Dosenpfand und Homoehe, mehr war nicht. So heißt es im schmallippigen Volksmund, wenn matt beschienen von Energiesparlampen Rot-Grün bilanziert wird. „Gedöns“, um es mit den Worten des seinerzeit amtierenden SPD-Kanzlers Gerhard Schröder zu sagen.

Seit zehn Jahren schon gibt es nun die sogenannte Homoehe, die eigentlich „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ heißt und ein eigenes Rechtsstatut darstellt, damit Konservative wie Norbert Geis von der CSU nachts besser schlafen können. Geis hat zwar noch immer Angst vor der „planmäßigen Zerstörung der Ehekultur“, meint es aber im Gegensatz zu vielen seiner konservativen Mitstreiter, die sich allein aus Gründen des Partei-Marketings ein wenig in Diskriminierung üben, wenigstens ernst.

Ein paar Hürden bis zur endgültigen Gleichstellung sind noch zu nehmen – Einkommensteuer, Adoptionsrecht – der Rest ist Kampf im Alltag. Bei den Formularen fängt es an: Für das Finanzamt ist man entweder „ledig“ oder „verheiratet“, das Feld „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ gibt es nicht. Bei der LBS Nord haben mein Mann und ich diese Kategorie in Absprache mit dem Gebietsleiter einfach mit Kugelschreiber hinzugefügt. Es ging um einen BAUSPARVERTRAG.

Bei den Formulierungen geht es weiter. Wenn ich sage „mein Mann“, gucken alle komisch, aber „mein eingetragener Lebenspartner“ hört sich an, als würde ich meinen Betreuer vom sozialpsychiatrischen Dienst vorstellen.

Dann noch die Fragen des Formellen: Ist, wer eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingeht, am Ende nur ein armseliger, hyperangepasster Kopist des heteronormativen, geschlechter-binäristischen und neomonotheistischen MAINSTREAMS?

Zugegeben, ein bisschen spießig war das neulich schon, als ich mitten in die Dunkelheit eines Berliner Orgienkellers laut und vernehmlich formulierte, dass ich jetzt gerne NACH HAUSE gehen würde, aber es war schon drei Uhr morgens und mein Mann hatte keinen Schlüssel mit. Aber andererseits denke ich, dass die Leute doch unter ihrem eigenen Sling kehren soll. Muss man als Schwuler automatisch die Amy Winehouse machen und in jungen Jahren dramatisch verglühen, während es bei den meisten am Ende bloß zu einem vierstrahligen Gasgrill Modell „Outdoorchef Ambri 480“ reicht?

Bei einer rechtlichen Gleichstellung geht es ja eben darum, dass man überhaupt eine Wahl hat, aussuchen kann, ob man sich in einem offiziellen Rahmen bindet oder nicht. Die meisten Heteros heiraten der Kinder wegen oder aus fiskalischen Gründen. Wir sind diesen Schritt gegangen, damit uns das, was wir uns zusammen aufgebaut haben, nicht nach einem eventuellen Ableben des ein oder anderen Partners von der Verwandtschaft unter dem Arsch weggerissen wird, ganz einfach. Staus auf der Autobahn und schlechte Fernsehprogramme sind auf jeden Fall bedrohlicher für die deutsche Ehekultur.

Im Jahr 2010 gab es in Deutschland 23.000 Eingetragene Lebenspartnerschaften – im Vergleich zu 18 Millionen verschiedengeschlechtlichen Ehepaaren. Was für ein Lärm wegen der paar Hanseln. Was für ein Theater um einen BEHÖRDLICHEN AKT.

Neulich schickte meine Mutter eine SMS: „Alles Gute für Euch zum zweiten Hochzeitstag.“ Wir hatten es vergessen.

Kolumne 74

11.7.2011

Martin Reichert über Landmänner

Brandenburg, digital bearbeitet

Unsere Heimat als Filmstandort: wenn die wiesen nicht Grün genug sind, muss man nachhelfen

Ich brauche dringend einen Bauernhof mit Scheune, eine Wiese, einen Berg, eine Gaststätte und einen Fußballplatz, meldet Euch“, so schepperte es aus der Mailbox.

Was sich zunächst anhörte wie das dringende Gesuch eines obdachlos gewordenen Gutsherrn, entpuppte sich als Bitte um Unterstützung von einem befreundeten Location-Scout. Das sind Menschen, die für Film, Fernsehen und Werbung Örtlichkeiten casten, an denen dann Actimel-Werbespots in Sichtbetonästhetik gedreht werden. Oder eben Filme, die auf dem Land spielen.

Unser Freund operiert normalerweise in Berlin und hat daher auch keine Probleme, geeignete Örtlichkeiten zu finden. Die ganze Hauptstadt ist eine einzige Kulisse, und ihre Bewohner sind Darsteller ihrer selbst oder was sie dafür halten.

Das flache Land aber überfordert ihn völlig. Als er schließlich, bewaffnet mit Drehbüchern, Blackberry und Digitalkamera bei uns ankam, berichtete er völlig außer Atem von seiner letzten Exkursion nach Teltow-Fläming: „Ich hatte kein Netz. Mein GPS funktionierte nicht, und ich stand plötzlich mitten in einem dunklen Wald.“

Aufgrund seiner Notsituation erklärten wir uns bereit, all diese Landschaften, die wir sonst am Wochenende hauptsächlich privat zu unserer Ergötzung nutzen, für Filmaufnahmen zur Verfügung zu stellen. Und schon waren wir „Local Scouts“, Buschführer also.

Gott sei Dank hatte er schon einen Berg im Kasten, denn solche sind in Brandenburg rar. Er hatte einfach den Berliner Teufelsberg, der eigentlich aus Trümmern des Zweiten Weltkrieges besteht, als Brandenburger Anhöhe verkauft. Aber auch einen idyllischen Bauernhof zu finden ist nicht ganz einfach in Zeiten der Agrochemie mit ihren monströsen Großbetrieben.

„Wenn es in der Scheune keine Tiere gibt – kein Problem, die können wir ja organisieren“, sagte unser Freund. Aber erst einmal mussten wir ja überhaupt eine „freistehende Scheune“ finden.

Nach fast hundert Kilometern Fahrt durch Buschwerk, Ödland und Steppen, an denen Cechov seine Freude gehabt hätte, fanden wir schließlich einen einsam gelegenen Aussiedlerhof, der so pittoresk war, dass es sogar für den deutschen Film schon wieder zu viel gewesen wäre. Und die Besitzerin erst! Eindeutig Bette Davis in „What Ever Happened to Baby Jane“, die aber dann leider den grandiosen Satz von sich gab: „Film? Aus dem Alter sind wir raus.“

Auf der Suche nach dem nächsten Bauernhof casteten wir wie nebenbei „weite Flächen“, „einen Bach umgeben von Bäumen“ und „endlose Wiesen“ („Wenn ich die digital nachbearbeite, bekommen wir die auch in Grün.“) Einen nicht mehr bewirtschafteten Bauernhof fanden wir schließlich – der Eigentümer: ein Filmfan. Gaststätte schafften wir mit links, unsere beiden Lieblingswirtinnen erklärten sich bereit mitzumachen, und die Stammgäste sind ja sowieso immer da.

Die Überraschung des Tages war dann der Fußballplatz von Ackerbürgerstadt: „Kein Problem, hier wurde schon öfter gedreht“, so beschied man uns vonseiten der Vereinsleitung. Alles Medienprofis bei uns in Ackerbürgerstadt.

In diesem Sinne habe ich diese Scouting-Geschichte jetzt einfach mal als Landmänner-Kolumne verwertet. Mehrfachnutzung, bei den Medien wird ja überall gespart.

Kolumne 73

16.5.2011

Martin Reichert über Landmänner

Vier Heten auf einen Streich

Nachbarschaftliche Solidaritätät in Ackerbürgerstadt und Brandts Ostpolitik

Manchmal braucht man einfach einen Kerl. Und manchmal sind vier sogar besser. Die beiden Wirtinnen aus unserer Stammkneipe in Ackerbürgerstadt hatten sie uns zugeführt. Und nun betrat einer nach dem anderen nach lautem Klopfen unser Haus, gab artig und knochenkrachend die Hand. Ein Untersetzter mit braunen Knopfaugen. Ein Hüne so breit wie ein Wäscheschrank und hoch wie ein solcher. Ein Mittelalter mit Pranken wie Knut und ein Hübscher mit Augen so blau wie das Eismeer.

Nun standen Sie in der Küche und schauten uns an, wollten wissen, was nun zu tun sei? „Wir brauchen ein Seil und zwei Balken“ sagte mein Mann. Und die Männer nickten. Mein Mann ging voran, und die Männer folgten. Und ich fragte unsere Nachbarin, was ich denn nun machen solle? „Am besten nicht im Weg rumstehen, Bier kalt stellen“, sagte sie lebensklug. Und mir ward ein wenig bang.

Es ging um Rut Brandts Klavier, das in den ersten Stock sollte. Ein kleiner Schimmel aus den Fünfzigern, der lange auf einen Käufer in einem Klaviergeschäft gewartet hatte. Filigran und ein bisschen verloren stand er nun da – unsere Männer blickten ratlos drein ob seiner Geschichte. Rut Brandts Klavier? Mit Margot Honeckers Nähmaschine hätten sie mehr anfangen können.

Sie wäre auch leichter gewesen. Unsere Männer huben nun an, das Klavier zu wuchten. Mit Gurten um die Hüften, Geächze und Gestöhn. Und mit viel gutem Willen. Als sie mit der Gerätschaft durch die Tür kamen, blieben der Untersetzte und der Beprankte stecken – „Mensch, so haben wir ja noch nie gekuschelt“ – sagte der Beprankte zum Untersetzten. Und ich wusste nicht, wo ich hingucken sollte.

Der Hüne ging als Erster die Treppe hoch und trug die größte Last. Er zog und zerrte, der Beprankte, der Untersetzte und der Hübsche drückten und schoben. Der Hüne wurde ganz rot im Gesicht, und ich traute mich nicht zu schieben, des Hübschen wegen und des Kuschelns in der Enge des Treppenhauses. Stand im Weg rum und störte. Dachte an das Bier, das noch nicht kalt war.

Dachte an Rut Brandts Depressionen, dachte an den Westen und das Früher. Dachte daran, wie fremd ich mich oft unter solchen Männern wie diesen gefühlt hatte und wie außenstehend als Westler im Osten.

Und dann, endlich, stand Rut Brandts Klavier mit einem Rumms im ersten Stock. Ohne einen Kratzer. Die Männer keuchten erleichtert. Nun endlich war Wochenende. „Feuerwehr“, sagte der Hüne und trank einen Schluck lauwarmes Bier. „Landschaftsbau“, sagte der Hübsche und rauchte. Der Beprankte und der Untersetzte sagten „Hartz IV“. Am Abend würde es ein Live-Konzert im Scheunenviertel geben, freute sich der Beprankte, und ordentlich Biere. Der Hübsche zeigte sein Handgelenk her, „Arthrose, dabei bin ich erst 25.“

Wir verabschiedeten uns alle knochenkrachend per Handschlag, als das Bier alle war und die Sonne den Mittagsstand erreicht hatte.

Am Abend saß ich dann im Sessel und mein Mann spielte zum ersten Mal auf Rut Brandts Klavier. Dachte an das Früher und den Westen. Freute mich über das Neue und den Osten. Der Einzige, der sich verkrampfte Gedanken darüber gemacht hatte, dass vier Handwerker-Heten aus Brandenburg zwei Schwulen ein Klavier schleppen, war ich gewesen. Mehr Demokratie wagen.