Kolumne 72

18.4.2011

Martin Reichert über Landmänner

Das kultivierte Verbrennungsgeräusch

Der neue schwarz-grüne Sound in Baden- Württemberg macht nicht alle Männer glücklich

Es ist wahr, dass Schwaben alle einen Kombi fahren – sie brauchen große Autos, damit sie am Samstag ihren vorsortierten Müll zum „Wertstoffhof“ fahren können. Dort bringen sie ihn unter Anleitung von strengen Mitarbeitern in die dafür vorgesehenen Behältnisse – es ist eine Art betreutes Wegwerfen.

In Baden-Württemberg, so heißt es, ist die schwarz-grüne Seele beheimatet. Auf dem Wertstoffhof kann sie sich am besten entfalten, treffen doch hier jene nachhaltige Müllobsession und mehrzylindrige Hubraumstärke aufeinander, die für das Schwabenland charakteristisch sind. Die Müllsäcke werden bevorzugt mit Produkten aus regionalem Anbau, also solchen von Daimler-Benz, transportiert.

Das ist ein bisschen verrückt, weil nämlich der Umwelt zuliebe Woche für Woche unendlich viele schwäbische Verbrennungsmotoren in Gang gesetzt werden, um Individualmüll zu transportieren. Die Schwaben sind entgegen ihrem Ruf keineswegs reine Wesen der Vernunft. Auch sie nennen Obsessionen ihr eigen, doch die größte – neben dem Müll – heißt: Porsche.

Weil nun mein Bruder bei Porsche arbeitet, durfte ich mit zur Porsche Sound-Night, einer Art vorgezogenen Oster-Messe in Stuttgart-Zuffenhausen. Während wir mit dem Kombi dorthin fuhren, dräute aus den Lautsprechern Apokalyptisches, nämlich dass die rheinland-pfälzischen Grünen den „Standort Nürburgring als Rennstrecke in Frage stellen“. Mein Bruder zuckte zusammen und wurde erst ruhiger, als wir in Zuffenhausen ankamen und inmitten von auf Hochglanz polierten Sportwagen standen. Ein Porsche-Rennwagen aus der Frühzeit des Unternehmens wurde auf die Bühne geschoben und unter einigen Mühen angelassen. Er hörte sich verdächtig nach VW-Käfer an, doch schon diese eher kläglichen Geräusche zauberten ein Lächeln in die Gesichter des fast ausschließlich männlichen Publikums. Das Lächeln wurde zum breiten Grinsen, als ein Rennwagen aus den Sechzigern im Leerlauf auf Drehzahl gebracht wurde. Und als dann noch ein 1973er 911 Feuer aus seinen Auspuffrohren spie und durch die Halle brüllte wie ein Ungeheuer aus dem Erdölzeitalter, gab es kein Halten mehr.

Doch wo die Freude schönster Götterfunken nah, ist auch das irdische Jammertal nicht fern. So ließ ich als lutherischer Ketzer beim anschließenden Bier mit Kollegen die Worte „Klima“, „Hybrid“ und „Elektroauto“ fallen und blickte sofort in erloschene Augen. Am traurigsten war ein Akustiker – schließlich ist er für den legendären Porsche-Sound – eine Mischung aus blubbrigem V8 und hochdrehender italienischer Motorenkunst – zuständig. Ich versuchte zu trösten: „Ihr arbeitet doch schon am Elektroantrieb – kann man denn diese Geräusche nicht digital erzeugen?“ Auf dem Rückweg erinnerte ich mich an das rußende Nageln meines ersten Autos, einem alten VW Golf Diesel. Ich erinnerte mich an die Auto-Quartett-Spiele mit meinem Bruder, Hubraum sticht Zylinder. Und daran, wie wir um die Wette Autos an ihrem Motorengeräusch erraten hatten – einen BMW erkenne ich noch heute am besten. Und mir wurde klar, dass der Abschied vom Erdölzeitalter auch Schmerz bedeutet – der speiende 911er hatte das gleiche Baujahr wie ich selbst. Man muss loslassen und darf auch trauern. Und so ergab auch der Veranstaltungsort der Sound-Night einen Sinn: das Porsche-Museum in Stuttgart-Zuffenhausen.

Kolumne 71

21.2.2011

Martin Reichert über Landmänner

Wenn Heteros Homosexuelle spielen

Jetzt im Kino: schwule Brandenburger, die auch noch was mit Landwirtschaft machen

Nach Brandenburg zu fahren ist das letzte Abenteuer für die in westdeutschen Käffern aufgewachsenen Weltstädter aus Berlin. Bücher werden zu diesem Thema verfasst, Kolumnen geschrieben – und jetzt gibt es sogar einen Kinofilm, der vom richtigen Landleben in Brandenburg handelt. Der Clou: Es kommen zwei Schwule darin vor. Das ist so verrückt – ich musste einfach zur Berlinale-Premiere.

Die Hütte war voll – über 1.000 Plätze –, alle wollten sehen, wie sich zwei Landwirtschaftslehrlinge aus der Agrargenossenschaft EG „Der Märker“ im Baruther Urstromtal küssen – bis zu diesem Kuss allerdings hat der Film „Stadt Land Fluss“ des Regisseurs Benjamin Cantu Längen, wie sie auch das auch das richtige Leben in Brandenburg zu bieten hat. In sommerschwerer Hitze wird wacker industrielle Landwirtschaft betrieben, die Kühe auf der Weide werden von entschlossenen Melkerinnen mit Toyoto-Funcruisern gejagt.

Die wenigen halbwegs schwülen Szenen mit nackter Bauernhaut führen während der Vorstellung fast zum Kollaps in den Reihen hinter mir. Dort sitzen quiekende Teenager, die von ihren Lehrern in die Vorstellung verschleppt worden waren.

Was ist eigentlich exotischer – dass es Menschen gibt, die wirklich in der Landwirtschaft arbeiten, anstatt vor einem Rechner zu sitzen? Oder dass es Menschen gibt, die in der Landwirtschaft arbeiten und schwul sind? Das wirklich Verrückte an „Stadt Land Fluss“ ist, das in diesem Film – genau wie bei „Brokeback Mountain“ – ausschließlich Heterosexuelle mitspielen. Die beiden Hauptdarsteller beteuerten im Anschluss an die Filmvorführung, das sie hetero seien und die Kussszene wirklich nur mit Unterstützung von Jack Daniels bewerkstelligen konnten. Bei allen anderen Darstellern des Films handelt es sich um Menschen aus dem richtigen Leben, also um Lehrlinge und Mitarbeiter der Agrargenossenschaft „Der Märker“. Sie alle sind auf der Bühne versammelt, Hände in den Hosentaschen und sprechen auf Nachfrage Brandenburgisches: „War interessant jewesen“, oder „ja“ bzw. „nee“. Doch einer von ihnen ermannt sich: „Ick muss sagen, ditt ick Schwule ja nisch leidn kann. Aber jetzt muss ick sagen: Ditt iss ja numal so, ditt ditt Emotionale sich dann eben ooch körperlich ausdrückt.“

So ist es wohl. Der Regisseur übrigens ist dann doch schwul, nach eigener Aussage, doch er wollte „das schwule Thema nicht so konfrontativ“ angehen, weshalb dann am Ende auch irgendwie nicht klar ist, ob die beiden schwulen Landwirtschaftslehrlinge in ihrer Heimat bleiben können oder, wie die meisten ihrer Schicksalsgenossen, in die nahegelegene Großstadt Berlin flüchten werden, um ein offenes, unbehelligtes Leben führen zu können. Quiekende Teenager können zu Bestien werden, wenn sie ausgewachsen sind.

Erst, wer sich in der Stadt befreit hat, kann danach selbstbewusst in die Enge der Provinz zurückkehren – so ist es immer noch. Doch als ich nach Hause kam an diesem Abend, lag mein Mann schon im Bett – in der Berliner Stadtwohnung. „Was machst DU denn hier mitten in der Woche?“, fragte ich. „Mir war so langweilig im Brandenburgischen, und einsam fühlte ich mich auch“, antwortete er. Als ich ihm dann von „Stadt Land Fluss“ erzählte, murmelte er bloß noch im Halbschlaf: „Die spinnen, die Heteros.Ja, man müsste wirklich mal einen Film über sie machen.

Kolumne 70

24.1.2011

 

Martin Reichert über Landmänner

Alles kein Thema

Keine Selbstbespiegelung mehr. Es sei denn, sie findet im Ausland statt. Dann lieber den babybauch von Kristina Schröder

Neulich kam ein Leserbrief, der mich in freundlich-strengem Ton darauf hinwies, dass nun mal endlich Schluss sein solle mit dem Gewese, das die Homosexuellen in eigener Sache betreiben: „Gleich ist gleich“. Wohl aber dürfe ich mich auch in Zukunft um unterdrückte Selbige im Ausland kümmern und entsprechenden Lärm machen, wenn es dort beklagenswerte Missstände gäbe.

Im Sinne der Leser-Blatt-Bindung schließe ich jetzt immer Fenster und Türen, wenn ich mich mit meinem Mann über Gleichgeschlechtliches unterhalte. Es ist schon exhibitionistisch genug, dass wir keine Vorhänge in unserer Erdgeschoss-Küche haben.

Sollen sich doch andere aufregen und Krach schlagen, weil evangelische Bischöfe Front gegen gleichgeschlechtlich Liebende in deutschen Pfarrhäusern machen. Wir flüstern, murmeln, tuscheln und nuscheln nur noch so leise vor uns hin, dass sogar die Katzenohren erschlafft darniederliegen wie bei einer Sonntagspredigt. „Das alle den Westerwelle zum Teufel jagen wollen, hat nur mit seiner schlechten Haut zu tun“, schreibe ich auf einen Zettel und schiebe ihn über den Tisch. Mein Mann schreibt mir daraufhin eine SMS: „Ja, und wenn der Blatter von der Fifa sagt, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen bei der WM in Katar besser auf jegliche Sexualität verzichten solle und alle rumkichern, dann meint er bestimmt bloß Schweinsteiger und Poldi.“ Ich nicke zustimmend mit dem Kopf. Hätte man das jetzt auch bei geöffnetem Fenster sagen können? Katar ist doch Ausland? Aber bei der Fifa ist der DFB Mitglied, und der sitzt ja nun mal in Deutschland.

Mit Gebärdensprache formuliere ich den Satz: „In Litauen sollen jetzt Menschen, die ‚Werbung für Homosexualität‘ machen, 3.000 Euro Strafe zahlen. Das ist aber auch nicht schlimm, weil Werbung an sich ist ja auch doof.“ Mein Mann antwortet, indem er mit Kreide auf den Fußboden malt: „Aber Litauen ist doch EU? Darf man das dann nicht laut sagen?“ Als Nächstes mache ich das Fenster auf und schreie auf die Straße: „Im Irak werden Homosexuelle umgebracht.“ Das ist auf jeden Fall vertretbar.

Es wurde uns irgendwann zu anstrengend, weil man einfach nie weiß, wann etwas angebracht ist und wann nicht. Ich sprach von nun in an in normaler Lautstärke: „Hast du gesehen, Kristina Schröder ist schwanger – war bei Bildauf Seite eins.“ Mein Mann fragte bloß: „Ach, und warum ist das ein Thema? Eine Ministerin hatte ungeschützten Geschlechtsverkehr und jetzt hat sie einen dicken Bauch, na und?“ Entrüstet sprach ich: „Also bitte, natürlich ist das ein Riesenthema. Da geht es um die Selbstbestimmung der Frau, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, solche Sachen. Geschlechtsverkehr!“

Mein Mann verstand jetzt langsam die Welt nicht mehr. „Okay, aber das mit dieser Ministerin hat doch nichts mit dem Ausland zu tun. Das ist doch eine deutsche Ministerin, und im Grundgesetz steht, dass Frauen die gleichen Rechte haben. Die Bundeskanzlerin ist auch eine Frau. Gleich ist gleich. Also mach bitte das Fenster wieder zu.“

Er hat ja recht. Wer will schon ständig mit diesem nervigen Untenrum-Schmuddelkram zu tun haben. Es sei denn, er findet im Ausland statt. Schicken Sie mir bitte eine Mail, falls Ihnen dortige Missstände zu Ohren

Kolumne 69

27.12.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Wer hat die Parkkralle an meinem Konto befestigt?

WER EIN GUTES FINANZAMT HAT, MUSS SICH VOR DEN TAGEN NICHT MIT GESCHENKEKAUFEN PLAGEN

Dieses Jahr kam vom Finanzamt keine Weihnachtskarte. Stattdessen war plötzlich die EC-Karte gesperrt – einen Tag vor Heiligabend. Noch nicht ein Geschenk gekauft. Keine Kartoffeln im Keller, keine Würstchen im Eisschrank, kein Wein im Regal.

Herauszufinden, wer die Sperrung veranlasst hatte, bedurfte schon einigen Geschicks. Bei der Bankfiliale weiß niemand von nichts, das Pfändungswesen wurde outgesourct. Wer sich bei den Outgesourcten erkundigen möchte, braucht eine Telefon-PIN. Hat man eine erlangt und einen Outgesourcten an der Strippe, darf dieser keine Auskunft erteilen, wer die Parkkralle am Konto befestigt hat: „Ach wie, Sie dürfen mir nicht sagen, wer mein Konto gepfändet hat … hm … fängt der oder diejenige mit dem Buchstaben F an?“. Es folgte ein bedeutungsvolles Schweigen, und dann ahnt man, wo die Reise hingeht.

Mein Finanzamt liegt abseits herkömmlicher Verkehrswege. Durch Eis und Schnee muss man stapfen bis zu einem Gebäudekomplex, groß wie das Pentagon oder Ceaucescus Palast. Durch endlose Flure muss man wandeln, Treppen erklimmen, Gebäudeteile erlangen. An unzähligen Türen muss man klopfen, mal sind sie verschlossen, mal wird man ver-, mal abgewiesen. Doch endlich hatte ich Frau Klabauter gefunden, meine Sachbearbeiterin, die zu bearbeiten ich gekommen war. „Das sieht nicht gut aus“ sagte sie nur, „das sieht nicht gut aus“, während sie meine Akte studierte, „Sie haben zwei Quartale lang keine Vorsteuer gezahlt“. Vorsteuer, das ist eine Steuer, die man für Geld bezahlt, das man noch gar nicht verdient hat. Und die Summe, die man für Geld bezahlt, das man vor zwei Jahren noch nicht verdient hat, kann nachträglich erhöht werden oder so ähnlich.

Frau Klabauter und ich diskutierten nun anhand meiner Kontoauszüge der letzten drei Monate meine Lebenshaltungskosten im Detail, dabei wuchs in mir die Ahnung, dass mein Mann keine Weihnachtsgeschenke bekommen würde. Doch so schnell darf man nicht aufgeben.

Nach einer Stunde hatte ich eine Bescheinigung in der Hand, die mir eine vorläufige Aufhebung der Pfändung meines Kontos attestierte. Marschierte weiter durch Eis und Schnee, um eine Bank zu suchen. In der Bank wusste niemand von nichts, man faxte die mehrfach bestempelte Bescheinigung stattdessen an die Outgesourcten, „dauert zwei bis drei Tage“. Ob man denn etwas Bargeld abheben könne? Es ist ja Weihnachten? Geschenke? Kartoffeln? Wein? „Da muss ich erst mal schauen, ob schon Sozialleistungen bei Ihnen angekommen sind.“ Am Schalter rechts brach eine alte Dame in Tränen aus, ein mittelalter Herr mit Migrationshintergrund zur Linken bekam mündlichen Bescheid: „Nix Geld“.

Nix Geld. Nix Weihnachten.

Oder doch? Gut nur, dass mein Mann einen Rettungsschirm über mich spannte. Er hatte schon Kartoffeln gekauft und Würstchen und Wein. Den Weihnachtsbaum klaubten wir kostenlos aus dem Wald – abgebrochene Kiefernzweige, die mit Kugeln und Lametta behangen echt was hermachen. Und Geschenke gab es auch – für mich.

Mich kann in diesem Jahr wirklich niemand des Konsumterrorismus bezichtigen. Stattdessen habe ich mitgeholfen, Griechenland zu retten, das Bankensystem und sogar Portugal, wo mein Mann so gern mal wieder hinfahren würde. „Danke dafür“, sagte er und nahm mich in den Arm. Jeder, wie er kann.

Kolumne 68

29.11.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Für mehr Sicherheit und Sauberkeit

WENN ES IN ACKERBÜRGERSTADT EINEN WEIHNACHTSMARKT GÄBE – WIR GINGEN NICHT HIN. VIEL ZU GEFÄHRLICH

An dieser Stelle weiterzulesen ist völlig ungefährlich, denn diese Zeilen sind in einem Panic-Room verfasst. Es handelt sich um die Dachkammer unseres Häuschens. Von hier aus kann man über die Dächer Ackerbürgerstadts blicken und den Scharfschützen der GSG 9 zuwinken, die sich auf dem Kirchturm verschanzt haben. Zuvor hat mein Mann sämtliche Türen des Hauses zwei- bis dreimal verriegelt. Zusätzlich habe ich die Bodenklappe geschlossen und eine schwere Truhe aus abendländischem Eichenholz, das sich gut zur Herstellung von Särgen und Kruzifixen eignet, über sie geschoben. Hier kommt niemand hinauf, schon gar nicht mit Gepäck unbekannten Inhalts.

Es kann wirklich nichts mehr passieren. Wir haben eine neue Firewall um unser drahtloses Netzwerk gezogen. Unsere Datenvorratspeicher sind bis an die Oberkante der Festplatte gefüllt. In tönernen Krügen lagert Mehl und Zucker, sauer Kraut ruht in Gläsern und süßes Obst in Konserven. Das Auto wurde mit regelkonformen Allwetterreifen ausgerüstet und ist vollgetankt mit leider explosiver Flüssigkeit. Ich habe mir neue Schnürsenkel gekauft, weil mir die alten nicht nachhaltig erschienen und es ein schlechter Treppenwitz wäre, würde einem ausgerechnet ein offener Schuh das Genick brechen in solchen Zeiten der Bedrohung.

Wir haben Lebensversicherungen abgeschlossen, irische Butter gekauft und griechischen Wein, weil Kapitalismus ja auch viel mit Psychologie zu tun hat. Die Barschaft lagert im Kopfkissen, mit Naphtalin versetzt, der Motten wegen. Die Katzen haben wir prophylaktisch mit Antibiotika vollgepumpt, auf unserer Haut tragen wir einen Schutzschild mit Lichtschutzfaktor 30. Geraucht wird nur noch mit Aktivkohlefilter-Spitze, Anrufe werden auschließlich mit unterdrückter Rufnummer getätigt.

Ausflüge, Bahn-, Bus- und Aeroplanreisen sind abgesagt. Dank gezielten Einkaufs in einem Fachgeschäft für gleichgeschlechtliche Lebensweisen konnte die Wandstärke der Präservative verdoppelt werden. Sekt kommt nicht mehr ins Haus, der knallenden Korken wegen. Ich habe einen Termin zur Zahnreinigung gemacht und das Badezimmer mit Fungiziden eingesprüht.

Der Luftraum über unserem Haus ist gesperrt, der Gashahn zugedreht. Die Profile in sämtlichen Internetcommunitys sind gelöscht sowieso alle Spuren verwischt. Sogar unsere eigenen Gepäckbehältnisse haben wir im Garten in die Luft gejagt. Doch nun klopft es an der Tür.

Nicht leise und auch nicht zaghaft. Im Gegenteil höre ich das Wummern bis in den dritten Stock. Mein Mann schläft – Ruhe ist erste Bürgerpflicht – zugedröhnt mit Beruhigungsmitteln in der eichenen Kiste, die ich über die bloß kieferne Bodenklappe geschoben habe. Mit klopfendem Herzen schiebe ich die Kiste zur Seite und öffne vorsichtig die Klappe. Langsam schreite ich die Treppe hinab. Wer mag das sein dort unten? Die Bundeswehr im Inneren? Der Sensemann? Die Gleichstellungsbeauftragte des Landes Brandenburg? McKinsey?

Nachdem ich die Sandsäcke zur Seite gewuchtet und den Schlüssel dreimal umgedreht hatte, erblickte ich das Gesicht der geliebten Schwiegermutter: „Kinder, heute ist der 1. Advent! Wollnwa nich zum Weihnachtsmarkt?“ Gegen eine asymmetrische Bedrohungslage ist man eben letztendlich machtlos.

Kolumne 67

1.11.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Nicht über unserem Garten

ZWECKLOS? SINNLOS? KEINESWEGS: AUCH EINE ZWEIMANNBÜRGERBEWEGUNG KANN ERFOLGREICH GEGEN HIMMELSVERSCHMUTZUNG VORGEHEN

Unsereins kennt aus Berufung überproportional viele Flugbegleiter – in homosexuellen Kreisen werden sie liebevoll „Saftschubsen“ genannt. Es sind meist freundliche, ein wenig überpflegte Gesellen mit allerlei überraschenden Kenntnissen. Sie wissen zum Beispiel, wo genau in Bangkok EU-Führerscheine erhältlich sind und in welcher New Yorker Filiale von Abercrombie & Fitch eine bestimmte Socke am billigsten ist. Besucht man sie in ihren nur selten genutzten, aber dafür umso aufwendiger gestalteten Wohnungen, bekommt man an der Haustür meist tuffige One-Way-Pantoffeln aus Frottee gereicht, in die mit güldener Wolle die Inschrift „Kempinski Dubai“ gewirkt wurde.

Das alles tut niemandem weh. Aber so wenig man täglich Tomatensaft trinken möchte, so wenig möchte man, dass diese Leute jeden Tag mit irrem Krach über einen hinwegfliegen. So empfinden es zumindest die Bürger im Süden der Hauptstadt Berlin, deren Volkszorn nun aufwallt ob der neuen Landeanflugsrouten des noch im Bau befindlichen Berlin-Brandenburg-Airports.

Während es nun im Süden wallt, knallen in anderen Teilen der Stadt schon mal die Sektkorken – in Vorfreude auf Stille und Besinnlichkeit. Ein befreundetes lesbisches Paar zum Beispiel lebt seit Jahren in Angst vor Ostwind. Dann nämlich düsen die Jets im Anflug auf Berlin-Tegel in gefühlten drei Metern Abstand über die Rattenschwanz-Radieschenbeete ihres Schrebergartens.

Ein befreundetes schwules Paar aus der die Landebahn vorwegnehmenden Florastraße in Pankow hatte sich schon längst damit abgefunden, dass die Butter immer nach Kerosin schmeckt. Und ein Freund aus dem Wedding wäre nie auf die Idee gekommen, sich bei Facebook anzumelden, weil die Welt sowieso täglich in seine Küche glotzt – im Landeanflug.

Auf dem Tempelhofer Feld, ehemals Revier der Turbopropmaschinen, wiegt sich derweil die Langgraswiese im Winde während das Volk lustwandelt statt wallt. Des einen Leid, des anderen Freud.

Nur bei uns in Ackerbürgerstadt bleibt alles beim Alten: Zu uns kommt der Jetset nämlich stets zuerst. In 1.000 Metern Höhe nähern sie sich, und möchte man in den stahlblauen Himmel schauen, um sich zu erquicken, blickt er stets zerfurcht zurück. Weiße Kondensstreifen mäandern und verknoten sich, dass es ein Graus ist. Die weit tiefer als die Metallvögel fliegenden – ach was: majestätisch gleitenden – Kraniche werden so ihres hübsch anzuschauenden Himmelszelt-Passepartouts beraubt.

Die Wahrheit ist, dass das unseren shoppenden, Sicherheitsballett aufführenden Flugbegleiterfreunden völlig egal ist. Ungefähr so wumpe wie bislang den Südberlinern, denen vielmehr die kurzen Wege zu den innerstädtischen Berliner Flughäfen wohlige Schauer über den Rücken jagten.

Meinem Mann und mir bleibt nun wohl nichts anderes übrig, als eine Zweimannbürgerbewegung gegen Himmelsverschmutzung in Ackerbürgerstadt zu gründen. Zwecklos? Sinnlos? Keineswegs: Damit wären wir ja Teil der größten Bewegung der Welt. Einer Bewegung, die weit größer ist als jene der Schwulen, die Anti-AKW-Bewegung und die kassenärztliche Vereinigung zusammen: Der „Not in my Backyard“-Bewegung nämlich. Damit wären wir dann wirklich in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Kolumne 66

4.10.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Ackerbürgerstadt 21

UNSER UNTERMIETER WILL DEN STÄDTISCHEN BAHNHOF KAUFEN. NUN KOMMEN AUCH WASSERWERFER UND PFEFFER ZUM EINSATZ

Auch in unserer kleinen Ackerbürgerstadt im Brandenburgischen gibt es einen Bahnhof. Einmal in der Stunde fährt der dieselbetriebene Bauern-TGV in Richtung Berlin, bloß das eigentliche Bahnhofsgebäude ist schon lange nicht mehr in Betrieb. Als Reisender muss man bei Herbststürmen mit einem kleinen Wartehäuschen vorliebnehmen, dessen Scheiben jedoch regelmäßig von der hier ansässigen Generation Porno entfernt werden.

Das Bahnhofsgebäude selbst gehörte bis vor kurzem dem Chinesen. Die Investoren selbst hatten jedoch nie auch nur einen Fuß in das eigentlich recht charmante Gebäude gesetzt, sondern stattdessen irgendwann beschlossen, ihr Kapital lieber nach Afrika zu transferieren, als es in nicht mehr genutzten Liegenschaften der Deutschen Bahn AG verotten zu lassen.

Seit irgendeinem verregneten Mittwoch gehörte der Bahnhof wieder der Sadt. Und nun hat unser Untermieter Siegfried dort einen offiziellen Antrag gestellt – mit dem Anliegen, den Bahnhof von Ackerbürgerstadt zu erwerben. Daraufhin hatte sich sogar die mit Feuerwehrfesten überlastete Lokalpresse eingeschaltet: „Stadtbekannter Ackerbürger will Ackerbürgerstadts Bahnhof erwerben“ stand dort zu lesen. „Stadtbekannt“ war nicht weiter ausgeführt. Aber Eingeweihte konnten daraus lesen, dass es sich nur um Siegfried handeln konnte.

Also jenen Siegfried, der gerade aus seiner ebenfalls in Stadtbesitz befindlichen Wohnung geflogen ist und nun in einer uns gehörenden Ruine haust, weil er in seinem freundlich-derangierten Zustand nie wieder eine Wohnung bekommen wird. Ohne übrigens dass sich jemand in Ackerbürgerstadt für ihn zuständig fühlen würde.

Um den Bahnhof macht man sich schon eher Sorgen. Seit Tagen nun schon versammeln sich Mitarbeiter der Verwaltung, der Bürgermeister, die Feuerwehr und zwei Polizeibeamte in Freizeitdress vor der Ruine und skandieren: „Der Bahnhof bleibt.“ Etwas konsterniert standen mein Mann und ich in Siegfriedes Zimmer. Überall lagen Bahnhofs-Baupläne, Antragsformulare und Drohbriefe der unteren Baubehörde sowie des Denkmalschutzamts. Unser Untermieter hatte alle formalen Antragswege korrekt beschritten, die Behörden mussten also auch mit entsprechenden Papierbergen reagieren. „Sag mal, Siegfried, willst du denn wirklich den Bahnhof kaufen und dann darin wohnen?“, fragte ich. „Ich lebe von Hartz IV, das wären doch viel zu viele Quadratmeter. Aber ich denke, dass man den Bahnhof unter die Erde legen könnte, dann hätte man oben mehr Platz“, antwortete er.

Unten auf der Straße skandierten nun zwei oder drei Verwaltungsmitarbeiter die Nationalhymne. Siegfried sagte daraufhin nur: „Das mit dem Geld ist kein Problem. Ich besorge mir das auf dem Hypothekenmarkt, und falls es dann durch negative Ratingänderungen Probleme geben sollte – also im Sinne von Risikoaversionen von Investoren gegenüber kreditrisikobehafteten Anlageinstrumenten –, dann gibt es eben einen Liquidiätsengpass und das zahlen dann die da unten. Oder irgendjemand.“

So richtig verstanden hatte ich das nicht, aber wir unterstützen sein Projekt Ackerbürgerstadt 21, weshalb mein Mann nach unten lief, um den Gartenschlauch zu holen und ich den Pfefferstreuer. Unser Siegfried, der ist nämlich der Hauptmann von Ackerbürgerstadt.

Kolumne 65

6.9.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Rostige Raben nach Polen tragen

EIN NACHBARSCHAFTLICHER BESUCH ANLÄSSLICH DES 30-JÄHRIGEN SOLIDARNOSC-JUBILÄUMS

Nach Polen fährt man am besten mit leerem Tank und vollem Kofferraum. Unsere Freunde jenseits der Grenze sind sehr gastfreundlich; unfreundlich ist es daher, kein Gastgeschenk bei sich zu haben.

Im Vorfeld der Reise fuhren mein Mann und ich also zum Baumarkt. Sogleich fand ich für Agatha ein Paar Arbeitshandschuhe in Laura-Ashley-Optik. Und dann wussten wir erst mal nicht weiter. Es sollte ja etwas Nützliches sein, das zugleich einen verheißungsvollen Touch von Überflüssigkeit beinhaltet. Also ein Geschenk, das den Bedürfnissen des derzeitigen Wohlstand-Standards von Mirek und Agatha entspricht – sie zum Beispiel arbeitet in einer Fabrik und verdient im Monat 300 Euro.

Solarbetriebene Gartenleuchten hatten sie ja schon. Wir entschieden uns schließlich für ein riesiges Metallgestänge, das zwei rostige Raben auf einer Wippe trägt und zur Dekoration dient – nicht ohne vorher fachlichen Rat zu erbeten, ob meiner Bedenken: „Ist es denn angebracht, seinen polnischen Freunden verrostete Metallgegenstände zu schenken?“ Der Baumarkt-Fachmann für Dekorationselemente antwortete: „Klar, ditt is jetzt doch allet EU. Ditt is Standard.“ Aus dem gleichen Grund bekommt man übrigens auch kein Unkrautvernichtungsgift mehr für den Privatgebrauch, wie wir nebenbei erfuhren: „Ick kann Ihnen ditt nur verkaufen, wenn Sie danach nachweislich Thymian zwischen Ihren Bürgersteig-Ritzen anpflanzen wollen.“

Der Sinn all dessen erschloss sich mir erst auf der anschließenden Überlandfahrt in Richtung polnischer Grenze. Traktoren groß wie die Queen Mary sprühten tonnenweise Unkrautgift auf die Felder – die dürfen das, weil sie danach ja wieder Raps anbauen wollen. Ganz legal wird hier gesprüht, bis der Maulwurf kotzt.

Hustend röchelnd und erleichtert überschritten wir die polnische Grenze bei Küstrin, dort auf Werbetafeln als „Preisgrenze“ bezeichnet, und tankten erst mal voll. Fuhren anschließend über endlose Alleen und an der fast überlaufenden Oder entlang. Mein Mann bekam ganz feuchte Augen, weil es hinter der Oder noch immer genauso aussieht wie im Brandenburgischen zu Zeiten der DDR. Verwinkelte, nicht modernisierte und pittoresk klapprige Häuschen. Verwitterte Babuschkas mit Kopftüchern und – Achtung, Achtung – jungeMenschen.

Zur Begrüßung gab es erst mal Krautwickel mit Tomatensoße. Ein bisschen nervös präsentierten wir unsere rostigen Raben. Und waren erleichtert, als wir in die leuchtenden Augen von Mirek und Agatha sahen, die sogleich einen Platz für die Raben in ihrem Garten suchten. Erleichtert auch, weil Mirek nicht gleich in die Garage ging, um Entrostungsmittel zu holen.

Als es schon dunkel war, gingen wir noch ein wenig spazieren, um dann hinter dem Haus plötzlich völlig aus dem Häuschen zu geraten. Ein gleißendes Licht blendete uns. Es war, als ob ein UFO gelandet sei oder der Flughafen Berlin-Brandenburg aus Versehen in einem kleinen Dörfchen jenseits der Oder eröffnet hätte. Auf dem Feld hinter Mirek und Agathas Anwesen wurde ein riesiger Gasförderturm in die Erde gerammt.

Als wir dann am Ende des Tages in der Eheleute rosa gestrichenem Schlafzimmer lagen, ohne dass irgendwo in Polen ein Papst-Bild von der Wand gefallen wäre, sagte mein Mann halb im Schlaf: „Polen ist ja so was von EU.“

Kolumne 64

9.8.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Nazis kann man einfach abknibbeln

UNSER BRANDENBURGISCHES ACKERBÜRGERSTÄDTCHEN IST KLEIN. DAHER WIRD HIER UM JEDEN QUADRATZENTIMETER GEKÄMPFT

Die Nazis sind schon wieder da. Die letzten hatte das LKA Brandenburg weggeräumt, nachdem sie ein Haus zwei Straßen weiter in Beschlag genommen hatten. Bei unseren neuen Nazis handelt es sich jedoch vom Alter her um Debütanten, weder sind sie trocken hinter den Ohren noch haben sie die Mittel, sich ein eigenes Haus anzueignen. So versuchen sie es nun mit dem öffentlichen Raum. Als Erstes verschwand das Plexiglasschild, das an der Außenmauer des ehemaligen Kleinstadtkinos angebracht war: „Hier sprach einst der Arbeiterführer Karl Liebknecht zu den Bürgern von Ackerbürgerstadt“. Schade um dieses Kleinod, das den Niedergang des öffentlichen Lebens in dieser Stadt ohne Kino, Arbeitsplätze und Zukunft beschilderte.

Die Jungnazis huben nun an, ihrerseits Botschaften anzubringen, nämlich in Form von allerlei NPD-Aufklebern an Regenrinnen, Rollläden, Laternenpfählen, Tisch und Wänden. „Können die ihre Message nicht einfach ins Internet kotzen wie alle anderen auch?“, fragte ich meinen Mann genervt, während ich die Leiter festhielt, auf die er geklettert war, um den Fenstersturz zu reparieren, „und wer ist bitte auf die Idee gekommen, sich Plastestörche auf den Dachsims zu stellen, drehen die jetzt hier total durch?“ Unsere kleine Stadt ist mir manchmal unheimlich, aber ich ihr womöglich auch – dachte ich in dem Moment, als einer der beiden Störche auf dem Sims einfach wegflog. Unsere Nachbarin kam dazu, um die Leiter zusätzlich zu beschweren. Sie erläuterte mir die lokale Lichterkettenstrategie: Abknibbeln. Die Bürgerschaft ist rund um die Uhr damit beschäftigt, die Aufkleber der Jungmänner wieder zu entfernen, was manchmal fummelig ist.

Um die Ecke schwankte nun ein alkoholisierter älterer Ackerbürger; Hartz IV. Er hielt sich an der Leiter fest, auf der noch immer mein Mann stand, um zu hämmern. „Die Scheißschwulen da von der Regierung in Berlin“, lallte er, „die machen uns alle fertig.“ Ich sagte erst mal nichts, weil ich nach dem Erlebnis mit den Störchen dachte, dass ich mir diesen Satz bestimmt bloß einbilde. Der betrunkene Bürger flog dann auch einfach weiter. „Hat der das wirklich gesagt?“, fragte mein Mann vom oberen Ende der Leiter. „Hat er“, sagte die Nachbarin.

Später gingen wir noch ums Karree, um unseren Beitrag zur politischen Hygiene zu leisten. Der Mond schien helle und die Straße war erfüllt von Mozart. Ich knibbelte einen Aufkleber von einem Stromkasten und erblickte am Fenster jenes Hauses, aus dem die Musik erklang, ein von innen angeklebtes Poster mit einem halbnackten Modelmann darauf, der auf diese Weise direkt in unseren Garten blickte. Der Störche wegen sagte ich erst mal gar nichts dazu.

„Hat Siegfried uns zuliebe hingehängt, er sagt, wir sollen auch mal was Schönes zum Anschauen haben“, erklärte mein Mann, der nun einfach in das Haus ging. Siegfrieds Türen stehen immer offen, bei ihm gibt es nichts zu stehlen, und den Verstand hat er auch verloren. Er deckte Siegfried zu, der völlig betrunken auf seiner Couch lag, und breitete per On-/Off-Taste einen Mantel der Stille auf die Stadt. „Siegfried hatte heute Geburtstag, und wir waren eingeladen. Verdammt“, sagte mein Mann. Vor lauter Abknibbeln hatten wir nicht ernst genommen, dass uns ein ganzes Fenster im öffentlichen Raum geschenkt war, hundertmal so groß wie ein Nazi-Aufkleber.

Kolumne 63

12.7.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Die ganze Welt bloß eine Bühne

GERADE AUF REISEN MUSS MAN IN SO VIELE ROLLEN SCHLÜPFEN, DASS MAN MIT DEM WECHSELN KAUM HINTERHERKOMMT

In meinem alten Jugendzimmer sieht es aus wie früher. Pressspan aus den Achtzigern, und an der Wand hängt noch die Maske aus der Grundschule, schwarz-weiß angemalt und „selbst gebastelt“ seinerzeit, mit feuchten Gipslappen. Sie ist ein Abdruck meines Gesichts im Alter von 6 Jahren – sie passt mit 37 nicht mehr.

Eine Reise durch den Südwesten hat mich hergeführt, zu meinen Eltern, die in der Nähe der Mosel leben. Die Maske passt nicht mehr, aber ich bin nun wieder Kind. Die Rolle: Sohn. Sie ist ungewohnt, aber macht auch vorübergehend frei von Verantwortung, Finanzamt, Konferenzwesen und was sonst noch so als „Ernst des Lebens“ beschrieben wird. Was kann schon passieren, wenn Mutters Kartoffelsalat wie immer schmeckt und das Feuer im Grill genauso prasselt, als hätte es die letzten 30 Jahre nicht gegeben, und Vaters Jacke einen wärmt, nachdem es kühl geworden ist am Abend.

Noch zwei Tage zuvor, in Freiburg, war die Rollenzuschreibung eine andere: Autor bei einer Lesung. Man kann diese Rolle gestalten, auch wenn man gewisse Anforderungen erfüllen muss, wenn Menschen Geld dafür bezahlen, um einem zuzuhören. Man muss keine kunstreligiöse „Krawehl Krawehl“-Performance daraus machen, aber die Grundsituation ist immer gleich: Ein Autor setzt sich an ein Tischchen und hat ein Mikrofon vor dem Gesicht. Das Publikum hört zu, und man ist vorübergehend frei von der Verunsicherung, nicht verstanden zu werden, fremd zu bleiben. Das Lachen, die Reaktionen, all das vermittelt Geborgenheit. Aber nur, wenn es klappt und man nicht ausgebuht wird. Ist aber gut gegangen, sogar ein Text über „Darkrooms“ wurde beklatscht.

Gestern dann wartete eine ganz andere Rolle auf mich, in Stuttgart: Onkel. War das toll, als mein vierjähriger Neffe außer sich vor Freude war, als er endlich seinen Onkel begrüßen konnte, nach so langer Zeit. Und dann sind wir schwimmen gegangen, und ich war sein Held, der ihm zeigt, wie man unter Wasser Handstand machen kann, und ihn auf dem Rücken quer durch das Becken chauffiert. Alles, was man sich so wünscht von einem Onkel, hat er bekommen. Sogar Pommes mit Ketchup und Eis mit Banane und Schoko. 2 Stunden lang nur der nette Onkel sein, das ist die beste aller Rollen: „Ich hab dich lieb, Onkel Martin!“ Dass Onkel Martin schwul ist, ist ihm total egal.

Aber war da nicht noch eine andere Rolle? Aber ja, die des liebenden und sorgenden Ehemanns. Mein Mann sitzt gerade allein im Lehnsessel auf seiner brandenburgischen Scholle, er konnte leider gar nicht mitfahren. Ich werde nun also alles tun, um auch dieser Rolle gerecht zu werden. Spießbraten aus der Heimat mitbringen, den er so gern isst. Wein kaufen an der Mosel und Mutters Marmeladenregale abräumen.

Und wenn ich wieder nach Hause fahre, zurück in mein richtiges Leben, dann werde ich alles mit ihm teilen. Vor allem die schönen Erlebnisse, die ich auf der Reise hatte – vielleicht ziehe ich dazu einfach eines seiner Hemden an, weil sich das immer so gut anfühlt und auch weil das eben geht, wenn zwei Männer verheiratet sind und die gleiche Größe haben.

Mag auch die Maske aus Kindertagen lange nicht mehr passen – ich brauche ja gar keine. Wer alle seine Rollen gut spielt, der braucht sich nicht zu verstecken. Auch völlig nackt ist man am Ende nur man selbst.