Kolumne 62

14.6.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Auf den Hund gekommen

DA RINGT MAN JAHRELANG UM DIE HOMOEHE – UND AM ENDE WOLLEN ALLE DOCH BLOSS EINE HUNDESTEUERMARKE HABEN …

Es gibt Menschen, die sagen, der Grand Prix sei in Deutschland seit Lena eine heterosexuelle Veranstaltung. Ich kann aber zunächst nur erklären, warum mein Mann und ich einer eigentlich rein homosexuellen Eurovisions-Public-Viewing-Party in Berlin fernblieben: Der Gastgeber hatte die Veranstaltung kurzfristig abgesagt, weil sein gerade angeschaffter Hund mit so vielen Gästen überfordert gewesen wäre. Den Hund wiederum hat er sich bloß angeschafft, weil es mit der künstlichen Insemination bei einem befreundeten lesbischen Paar nun schon zum fünften Mal nicht geklappt hat.

Die Party, an der wir nicht teilnahmen, wurde nun wegen des jungen Hundes in einen heterosexuellen Kontext verlegt, was zu ungeahnten Konflikten führte: Die Hetero-Typen auf der Grand-Prix-Party führten sich laut Auskunft unserer Freunde schlimmer auf, als es beim WM-Public-Viewing erlaubt ist, und pöbelten vereinzelt ausgelassen tanzende Homos an, die daraufhin die Party frühzeitig verließen – und das in Berlin-Mitte.

Die vergraulten Homos gingen danach in eine kleine schwule Kellerbar in dem eben genannten Stadtteil, um unter sich zu sein. Was aber nicht möglich war, weil überall überdimensionierte Hunde herumstanden oder lagen. Es ist alles ein Durcheinander und niemand weiß mehr so richtig, wo sein Platz ist.

In meiner Zeitung zum Beispiel schreiben nun die Heteros raumgreifend über den Eurovision-Song-Contest, während die WM-taz von einem Homo verantwortet wird. Eine Zunahme von Hunden in der Redaktion konnte ich jedoch bislang nicht feststellen.

Das mit der Eurovision hat ja nun bei meinem Mann und mir nicht geklappt, doch Gott sei Dank hat die schwule Saison gerade erst begonnen. Als es aber um einen gemeinsamen Termin für den Besuch des schwul-lesbischen Stadtfestes in Berlin-Schöneberg ging, erhielt ich aus dem Freundeskreis die Ansage, dass man an diesem Wochenende zu Peter fahre, der mit seinem neuen Hund (!) auf dem Lande eine Party gäbe. Mit WM-Public-Viewing. Was kommt denn bitte als Nächstes? Fällt der CSD aus, weil Deutschland gegen Litauen spielt?

Das wäre übertrieben. Eher kommt niemand zum CSD, weil die laut wummernde Musik nichts für empfindliche Hundeohren ist und man auch nicht möchte, dass sich einer der vierbeinigen Gefährten während der Parade einen Glassplitter in die Pfoten läuft. Wenn das so weiter geht, verpassen mein Mann und ich in diesem Jahr sämtliche Großveranstaltungen und verlieren zudem den Anschluss in Fragen zeitgemäßen Tierbesitzes. Das würde bedeuten, das wir einsam auf dem Land hocken und unleidlich unsere Katzen streicheln. Den Heteros gehört der Grand Prix, die Homos gucken stattdessen WM und sind dermaßen auf den Hund gekommen, dass man auf Facebook glaubt, einen Online-Versandhandel für Welpen betreten zu haben.

Man ringt jahrelang um die Homoehe, und am Ende wollen sie bloß eine Hundesteuermarke. Und machen einen größeren Bohei um ihren Hundenachwuchs als drei Spätgebärende aus dem Frühförderungskurs.

Rettend war da nur die Party-Einladung eines Freundes, der als Modeschöpfer arbeitet, einen Papagei hat und sich zum Geburtstag keine Fußballschuhe wünscht, sondern solche aus Krokolederimitat. Das hat etwas Verlässliches.

Kolumne 61

17.5.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Kevin der Frühblüher

AUCH WENN JETZT JA FRÜHLING IST: DAS KLIMA FÜR JUNGE SCHWULE IST GERADE UNGÜNSTIG. NICHT NUR, WEIL ES STÄNDIG REGNET

Neulich sahen mein Mann und ich einen überständigen Frühblüher im brandenburgischen Supermarkt, der noch nicht umgetopft war. Ein junger Mann, der seine Freundin umso heftiger um die Taille fasste, je mehr er mit uns flirtete. Mal sehen, wie lange diese junge Pflanze noch braucht, bis sie dann doch mal aus ihrem Topf herauskommt, dachten wir grinsend.

Der Boden, auf dem er gedeihen könnte, ist ja eigentlich ganz gut bestellt. Sagen wir mal, er ist genau 18 Jahre alt. Dann wurde im Jahr seiner Geburt, 1992, Homosexualität erstmals nicht mehr im ICD-Katalog der WHO als Krankheit aufgeführt. Zwei Jahre später wurde der Paragraf 175 endgültig aus dem Gesetzbuch der BRD gestrichen. Zu diesem Zeitpunkt war ich 19 Jahre alt und keineswegs so weit, aus meinem Topf zu kommen. Im Gegenteil: Ich umfasste lieber die Taille meiner Freundin, deren bloße Existenz mir bewies, dass ich am sicheren, nämlich richtigen Ufer stand, und nicht etwa am anderen.

Wir machten uns bei der Heimfahrt Gedanken, warum sich noch immer junge Männer an den Hüften von jungen Frauen festhalten, obwohl wir das Jahr 2010 schreiben. Klar, die Bewusstwerdung der eigenen Sexualität ist ein Prozess, und manchmal dauert es eben, bis man herausgefunden hat, wen man wirklich begehrt. Aber jetzt, wo sich doch sogar Ricky Martin „bekannt“ hat? Der allerdings vom Alter her der Vater des brandenburgischen Frühblühers sein könnte. Auch ganz schön lange im Topf geblieben.

Ob es wirklich Mut macht, wenn man als junger Mensch sieht, wie ein solches Outing einen weltweiten Medienhype auslöst? Es ist zwar nicht wahrscheinlich, dass er der Regionalzeitung einen Aufmacher wert wäre, wenn – nennen wir ihn ruhig Kevin, da es ja auch um Klischees geht – sich mit seinen 18 Jahren zur gleichgeschlechtlichen Liebe bekennen würde. Regionalzeitungen sind familienfreundlich, daher stehen Homosexualität, Pornografie und andere jugendgefährdende Themen dort meist nicht auf der Agenda. So wie es zum Beispiel im Hotspot-Bereich von McDonald’s aus Gründen ebenjener Familienfreundlichkeit nicht möglich ist, die Website der Siegessäule, einer schwul-lesbischen Stadtzeitung, zu öffnen.

Aber gehen wir davon aus, dass Kevins Eltern keinen Schmutz-&-Schund-Filter in ihrem Heimnetzwerk haben und er freien Zugang. Falls nicht, würde sich Kevins derzeitiges Bild von Homosexualität aus den frei ausgestrahlten Medien formen. Außer Ricky Martin, der sich anlässlich seines Coming-outs sogleich bemüßigt fühlte, sich erstmals splitternackt in einem Promo-Video zu zeigen, wären da im Moment bloß: Kleriker, die im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sagen dürfen, Homosexualität sei eine Sünde. Ich bin aus diesem Grunde nun „bekennender“ Hans-Ulrich-Jörges-Fan, weil der in einer Talkshow zum Thema Missbrauch einen predigenden CDUler als „klebrig“ bezeichnet hat. „Sie klebriger Mensch!“, das muss man sich merken. Das wäre doch mal ein Wort, das man Leuten entgegnen könnte, die einem ihre Ablehnung so offen ins Gesicht sagen. Eigentlich bräuchte man selbst einen Filter, der den ganzen Schmutz & Schund von einem fernhält. Und Kevin erst recht.

Wir hoffen nun, dass er es trotzdem bald schafft mit der Umtopfung. Die nächste Großstadt ist bloß achtzig Kilometer entfernt. Kevin, du machst das!

Kolumne 60

19.3.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Schwule haben Bälle

HOMOSEXUALITÄT IST KEIN ABENDFÜLLENDES THEMA MEHR, SONDERN ZURZEIT EINES FÜR DEN LIEBEN LANGEN TAG

Ist das eigentlich Homo-feindlich, wenn man als Homo mit Ballsportarten nichts anfangen kann – so wie ich? Tut mir echt leid, ich weiß ja, dass die Nation dringend auf einen schwulen Fußballprofi wartet, weil es ihr gerade langweilig ist und das mit dem Außenminister nun so viel Spaß auch nicht macht. Auf den hatte man aber auch nicht unbedingt gewartet.

Mein Mann kann auch nicht Fußball spielen, dafür baut er zum Beispiel Häuser. Leider interessiert sich jedoch derzeit niemand für Deutschlands „ersten bekennenden schwulen Bauarbeiter“, sonst würde ich ihn ganz groß rausbringen. Exklusive Lebensbeichte im Sternfür 100.000 Euro, mit denen sich danach ein weiteres prima Häuschen hochziehen ließe. Dann Maybritt, Maischberger, Will und vielleicht noch Plasberg, Autobiografie bei Random House, Verhandlungen mit Eichinger wegen der Verfilmung, wenn’s schiefläuft, bloß irgendwas Degetomäßiges. Die Wahrscheinlichkeit, dass er aufgrund seines Bekenntnisses von 30.000 Menschen auf einmal als „schwule Sau“ beschimpft würde, während er einen schweren Balken in den ersten Stock wuchtet, wäre ja eher gering. Vom nächsten Fußballstadion ist der Weg in unser brandenburgisches Dorf auch für hartgesottene Fußballfans zu weit.

Dabei ist das doch echt ein Knaller, wie mein Mann sich so völlig locker und mit allseits geschätzter und geforderter Selbstverständlichkeit – denn die erfordert ja kein anstrengendes Verstehen – in der knallharten Männerwelt des Bauwesens behauptet. Okay, wenn wir beide zusammen, also „Herr R. und Herr M.“, zum Baumarkt fahren, um Zement zu kaufen, ist das nicht ganz so spannend wie eine Lateinamerika-Reise von „Herrn W. Und Herrn M.“, aber da gäbe es ja vielleicht auch was Interessantes zu gucken.

Typisch zum Beispiel, wie Herr. M. in seiner körperbetonten Kleidung den Sack Zement in den Einkaufswagen schwingt. Mit so einem eleganten Dreh und niemals bloß grob wuchtend, genau! Und ja, Herr R., der Lebensgefährte, treibt sich natürlich bei den Orchideen herum, wahrscheinlich AUCH weil dort ein junger Azubi mit ebenfalls eng anliegendem Overall …– ob der wohl schon 18 ist? Es ist eben super, sich selbst in der eigenen Selbstverständlichkeit zu wiegen, aber auf Dauer ist das einfach zu langweilig und man will mal was anderes.

Der Mensch braucht Erregungen und Anregungen, so wie die Bilder, die im Fernsehen oder in Printmedien immer gezeigt werden, wenn es um schwule Fußballer geht – oder um Schiedsrichter. Man sieht dann Herren, die sich – NUR ZUM SPASS – mal gegenseitig auf den Hintern hauen oder rudelweise in den Arm nehmen. Man sieht sie beim Aufwärmtraining in Positionen, in denen sie den Hintern herausstrecken. Den geouteten Rugby-Profi Gareth Thomas zeigt man gerne in der Pose des Model-Athleten – oder wie er, HEIKEL HEIKEL, mit einem kleinen Jungen an der Hand ins Stadion einläuft.

Vielleicht ist Langeweile überhaupt die Antwort auf die Frage, warum Homosexualität gerade so stark in den Schlagzeilen vertreten ist. Oder doch eher eine tiefe Verunsicherung des doch nicht so selbstverständlichen Eigenen, die das Auge aufgeregt zum Anderen schweifen lässt? Das Fremde, Andere ist stets Zumutung und Anregung zugleich. „Kommt, es tut auch gar nicht weh“, raunt man den vermuteten schwulen Fußballern zu. Aber vielleicht hat ja eher Rudi Assauer recht, der Schwulen rät, sich lieber eine andere Sportart auszusuchen. Außer Guido Westerwelle würde das vielleicht wirklich niemand überleben. Wie wäre es mit Eishockey? Da sind wenigstens keine Bälle im Spiel.

Kolumne 59

3.3.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Gays against Guido

Der Aussenminister hat gerade eine starke Wirkung nach innen. Aber Schicksalsgemeinschaft ist, wenn man trotzdem lacht

Mit Familien verhält es sich so: Der liebe Gott schaut im Telefonbuch nach und würfelt wahllos einige Leute zusammen, die dann für den Rest ihres Lebens zusammenhalten müssen. Dieses schöne, leider geklaute Bild beschreibt das Prinzip Schicksalsgemeinschaft: Man kann es sich nicht aussuchen, wer zur Familie gehört. Das gilt auch für Guido Westerwelle, der nun – ob es einem passt oder nicht – zur gesellschaftlichen Minderheit der Homosexuellen gehört. Und ja, es gibt Momente, da treibt es einem die Schamesröte ins Gesicht: „Das fällt wieder auf uns alle zurück“, stöhnte ich, als wir zugedeckt mit unseren beiden Katzen vor dem Fernseher lagerten und der Außenminister, anstatt sich um das doch recht große Ausland zu kümmern, brandschatzend ins Innere des Landes vordrang mit seinem Hartz-IV-Dekadenzverdikt.

Ich hörte geradezu, wie in den Köpfen die Zuordnungsmechanik einrastete: Dekadenz – da ruckt ja gerade die richtige Kommode. Bashing von sozial Schwachen – Rechtspopulismus à la Haider. Und überhaupt typisch: diese Geländewagen fahrenden Yuppie-Schwulen. Das Problem ist einfach, dass Westerwelles Homosexualität am Ende stets alles überstrahlt, was er sagt und tut. Auch wenn dies nicht explizit ausgesprochen oder geschrieben wird.

So wie neulich an einer Berliner Bushaltestelle im Falle eines anderen Politikers: Ein Hartz-IV-Empfänger sprach mich an, um mir sein Leid zu klagen. So was kommt vor an grauen Wintertagen in Berlin-Neukölln. Ich war auch emphatischst bei ihm und seinen Nöten. Bis zu dem Punkt, als er den Schuldigen ausgemacht hatte: Den Wowereit, die „schwule Sau“. Als ich nun entgegnete, dass es sich bei meiner Person ebenfalls um eine solche handele, wurde das Gespräch irgendwie traurig: „Ich habe doch nichts gegen Schwule, das ist mir doch egal, was jemand im Bett macht!“, erwiderte er erzürnt, wohl auch ein wenig beschämt. Ich hatte ihn beschämt. Er wusste ja nicht, dass ich auch ein solcher war, und hatte angenommen, frei von der Leber reden zu können. Wie ja sonst auch.

Es sind diese kleinen Verwechslungsmomente der sogenannten heterosexuellen Vorannahme, die jene Wahrheiten zu Tage befördern, die einem dank der politischen Korrektheit meist erspart bleiben. Aber zugegeben: Ich war mit dieser Wahrheit überfordert. Ich war sauer, verletzt. Das Gespräch war beendet. Was dieser Mann wohl gedacht hat anlässlich Westerwelles eher wenig emphatischen Auslassungen zu Hartz IV?

Wahr ist jedoch, dass für diese Unbill all jene Wählerinnen und Wähler verantwortlich sind, die FDP gewählt haben – und ja, darunter waren auch Schwule und Lesben, denn die sind weder automatisch links, noch fahren sie alle Geländewagen, noch sind sie bessere Menschen. Wegen des göttlichen Telefonbuchs handelt es sich bei dieser Minderheit um ein queer zusammengewürfeltes Häufchen, das sich strukturell quer durch die Gesellschaft zieht, von oben nach unten von links bis rechts.

In unserem brandenburgischen Straßendorf wohnen wir auf der linken Seite ganz oben, und wenn die Dorfbewohner Besuch von auswärts haben, ist unser Haus eine kleine Attraktion: „Und hier wohnen die Schwulen“ – so vernahmen wir es schon des Öfteren durch die Hecke. Und damit es nicht heißt, „und hier wohnen die Westerwelle-Typen“, bin ich gerade der Facebook-Gruppe „Gays against Guido“ beigetreten. Man kann auch gelbe Buttons kaufen und sich ans Revers heften, aber das erscheint mir nun aufgrund des schriftlichen identitären Bekenntnisses zu riskant. Lieber „heterosexuelle Vorannahme“ als Sippenhaft.

Kolumne 58

4.2.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Sterben geht besser ohne Glauben

WARUM DIE GÜTIGE MARIA AUS UNSERER SCHEUNE VERBANNT WURDE UND GLAXO-SMITH-KLINE BESSER IST ALS WEIHWASSER

So lange ist das noch nicht her, der Rausschmiss aus dem „Katholischen Krankenhaus“. Ein guter Freund war an Aids erkrankt, Vollbild, und hatte solche Todesangst, dass ich über Nacht einfach bei ihm geblieben bin. Und zwar in seinem Bett, an ihn gekuschelt, denn nur körperliche Nähe konnte ihn beruhigen.

Am nächsten Morgen erschien dann der katholische Chefarzt und hielt dem zu diesem Zeitpunkt Sterbenden eine moralische Standpauke ob dieses skandalösen nächtlichen Vorgangs. Ich hatte danach sofort Himmel & Hölle zugleich in Bewegung gesetzt, und schon am übernächsten Tag konnte er den Ort christlicher Barmherzigkeit verlassen. Wir nahmen Abschied von der gütigen Maria aus Stein, die im Innenhof des Krankenhauses auf einem Brunnen thronte. Anschließend wurde er in die glücklicherweise gottlose Charité in Berlin-Mitte überführt. Er lebt dank GlaxoSmithKline bis heute, ganz ohne Gebete, Weihwasser & Rosenkranz.

Die gütige Maria aus Gips flog dann am folgenden Wochenende aus der Scheune. Mein Mann ist mit dem Künstler befreundet, der die Skulptur für das Krankenhaus angefertigt hatte. Wir wollten die bei uns zwischengelagerte Gipskopie irgendwie nicht mehr haben.

Wenn es im Leben bloß immer so einfach wäre, sich die Dinge vom Halse zu halten. Wenn man zum Beispiel einfach nur eine Kopie von Ratzingers roten Pantöffelchen in den Ofen werfen könnte, um fürderhin nicht mehr hören zu müssen, dass der „Heilige Vater“ mit dem „Naturrecht“ gegen die europäische Gleichbehandlungs-Gesetzgebung argumentiert. Und mit der Nummer sogar ernst genommen wird, anstatt unter der Rubrik „Buntes aus aller Welt“ zu landen, wie es noch in den Neunzigern üblich war.

Noch bescheuerter ist nur, dass der Slogan „Wir sind Papst!“ eigentlich das Motto des nächsten CSD sein könnte, womit ich jetzt elegant eine direkte, zitierfähige Aussage vermeide. Religiöse Gefühle zu beleidigen ist ja mittlerweile lebensgefährlich.

Gefährlich ist es laut dem renommierten Sportsoziologen Gunter A. Pilz auch, sich als schwuler Fußball-Profi zu outen: „Die Konsequenzen wären glasklar. Der Fußballer sähe sich einem Spießrutenlauf ausgesetzt.“ Und ja, alle sind ganz furchtbar neugierig, wer es denn bitte sein könnte? Das ist die nationale Variante des beliebten Party-Spiels „Wer von den Gästen ist denn wohl schwul“. Das macht ja so viel Spaß. Und wenn sich dann Gareth Thomas nach (!) dem Ende seiner Karriere als Rugby-Spieler outet, zeigt man ihn im Fernsehen immer bloß im hautengen Shirt – und noch besser: wie er einen kleinen Jungen an der Hand hält und mit ihm ins Stadion läuft.

Unser ebenfalls schwuler Nachbar auf dem Dorfe lebt aus genau diesen Gründen in ständiger Angst davor, dass irgendwo in der Umgebung ein kleiner Junge verschwinden könnte. Dann nämlich, so fürchtet er, stünde der brandschatzende Mob in null Komma nix vor der Tür. Ob er recht hat? Ich will es lieber nicht ausprobieren.

Mein Mann und ich waren neulich mal wieder in der Charité in Berlin-Mitte. Ein anderer Freund liegt dort, weil seine HIV-Medikamente gerade ihren Dienst versagen. Er ist seit Anfang der Achtziger positiv. Er erzählte, wie es als ehemaliger Schauspieler seine Art ist, mit gestützter, raumgreifender Stimme von Aids und seiner MUTTTER – mit diesen drei T, die nur Schwule draufhaben. Währenddessen beobachtete ich nervös den heterosexuellen, bildungsfern anmutenden Zimmernachbarn. Aber es war – Gott sei Dank – ein richtiger Berliner. Ich liebe diese Stadt.

Kolumne 57

15.1.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Drei Nüsse für unseren Schutzengel

Ein Wintermärchen mit Daisy, Frau Hippe und Frau Holle, gelben Engeln und dem Tischlein-Deck-Dich aus Brandenburg

Wir wollten nur nachsehen, ob im Ort Kuhflecke in Sachsen-Anhalt jene Märchenburg noch steht, die mein Mann als Vierzehnjähriger bei einem Ausflug ins DDR-Grenzgebiet entdeckt und die zu bewohnen er sich damals erträumt hatte. Doch als wir bei bereits eingebrochener Dunkelheit den Ort erreicht hatten, war die Burg nicht mehr zu finden und der Traum somit endgültig geplatzt.

Auf der Rückfahrt verwandelten allerdings kleine Kobolde die Straße von einer Sekunde zur anderen in eine Eisbahn, so dass wir uns drehten und drehten und drehten – und dann mit einem Rumms in eine Leitplanke knallten, die zuvor ein Schutzengelchen dort platziert hat. Wir blickten uns an. Der Motor röchelte ersterbend, nur Agnetha Fältskogg besang unbeirrt die elfenhafte „Dancing Queen“.

Wir stiegen aus, unversehrt, und draußen erwartete uns schon ein guter Geist. Ein alter Herr aus dem nahe gelegenen Dorf hatte sofort angehalten, kümmerte sich, stellte Warndreiecke auf, verständigte über Telefon Hilfe. Wir standen in der Kälte und blickten auf die großen Bäume und den dunklen Fluss hinter der Leitplanke, der unser Schicksal hätte werden können.

Ein Samariter mit Blaulicht kam, um uns zu retten. Wir schickten ihn freundlich wieder nach Hause. Trolle mit blauen Uniformen näherten sich und stibitzten unser letztes Bargeld gegen Ausgabe einer Quittung, auf der „Ordnungswidrigkeit“ stand. Zuletzt erschien ein gelber Engel, der uns und unser demoliertes Gefährt auf seinen schweren Wagen lud.

Eine Kutsche mit gelbem „Taxi“-Schild brachte uns später zum Geisterbahnhof Wittenberge, gelegen zwischen Nirgendwo und der Prignitz. Der Droschker erzählte von Techno und betrunkenen jungen Mädchen, die nicht mehr wissen, wo sie wohnen. Wir standen ganz alleine und verfroren in der verlassenen, längst nicht mehr benutzten Bahnhofshalle und lauschten den Türen, die von Frau Holle sanft angepustet in ihren Scharnieren quietschten.

Wie von Zauberhand gesandt hielt der letzte ICE Hamburg–Berlin auf dem Gleis 9 3/4 des Bahnhofs Wittenberge. Und als wir endlich im Warmen saßen, mundeten das „Fitness-Sandwich“ für 4,95 Euro und der Bordtreff-Kaffee wie durch ein Wunder, als ob Wolfram Siebeck aus Versehen sein Tischleindeckdich im Großraumabteil zweiter Klasse hätte liegen lassen. Alles schmeckte nach Leben, und als ich den Unterarm meines Mannes an dem meinen auf der Sitzlehne spürte, wurde mir klar, dass wir gerade Frau Hippe mit Hilfe der Deutschen Bahn AG abgehängt hatten.

Aber gestern hatte sie ein Ticket nachgelöst und es schon wieder versucht. In Berlin, das von „Daisy“ mit einem riesigen weißen Tuch überzogen wurde. Auf dem Nachhauseweg flog mir mit einem lauten Wumms ein Golf vor die Füße, der von der gegenüberliegenden Fahrbahn herübergesegelt kam. Auf seiner Flugbahn hatte er am Zaun des Mittelstreifens einen Reifen samt Aufhängung verloren, landete dann aber sauber auf den verbliebenen dreien. Eine junge Frau stieg aus und schrie die Gaffenden an, dass es hier nichts zu sehen gebe. Frau Hippe verkrümelte sich daraufhin rasch zu McDonald’s am Hermannplatz, das Schutzengelchen flatterte erschreckt davon. Und aus dem Auto kletterten noch drei junge Männer, alle waren unversehrt geblieben.

Ein Heinzelmännchen repariert nun unser Auto, und es ist am Ende gar nicht schlimm, dass es die Burg in Kuhflecke nicht mehr gibt. Wichtig ist, dass es im Leben wie im Märchen zugeht. Und am Ende alles gut wird.

Kolumne 56

30.11.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Der Feind in seinem Bett

MEIN MANN IST NEBEN DER STAATSSICHERHEIT AUFGEWACHT

Mein Mann war mit der Stasi im Bett. Das ist schon lange her und es war keine Absicht. Es ist nicht so, dass er „sich nicht mehr erinnern“ kann. Er wusste es anfangs schlicht nicht. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte ihm einen „Gay Romeo“ auf den Hals gehetzt, um Licht in das oft nur von Kerzen beschienene Dunkel der Schwulen-, Künstler- und Intellektuellenszene in Prenzlauer Berg zu bringen. Dass es sich bei dem jungen Mann, in den er sich verliebt hatte, um einen Stasimann gehandelt hatte, erfuhr er erst, als dieser seine Dienstanweisung überschritt. Der „Gay Romeo“ hatte sich in das auszuhorchende Objekt verliebt.

Und schwupps hatte die Liebe der Staatsmacht ein Schnippchen geschlagen, aus war es mit Konspiration und Überwachung. Fortan erzählten beide jedem, egal ob er es wissen wollte oder nicht, dass die Firma Horch & Guck bei ihnen auf der Matte rumstünde, wie ein Staubsaugervertreter im Westen.

Das ist nun auch schon über zwanzig Jahre her, und ich überwache meinen Mann höchstens, indem ich ab und zu mal eine freundliche Drohmail an seine „Gay Romeo“-Adresse schicke, jener schwulen Web-Community, die man auch das „Schwule Einwohnermeldeamt“ nennt. Doch während ehemalige Stasimitarbeiter mit Gedächtnisstörungen – die womöglich der allgemeinen „Informationsüberflutung durch die neuen Medien“ geschuldet sind – weiterhin politisch aktiv sind, hat sich das mit der aufwendigen Überwachung und Ausschnüffelung der Bürger im Prinzip erledigt.

Die geben auch ohne Aufforderung alles preis. „Ja Wahnsinn, komm mal schnell gucken“, rief mein Mann aus dem Wohnzimmer. Er war mal wieder im Netz. Allerdings leuchtete die Seite nicht „Gay Romeo“-blau, stattdessen sah man ein Filmchen laufen. Ein optisch etwas verzerrt wirkender Herr saß auf einem Sofa, das er ordentlich mit einem Mond-&-Sterne- Handtuch bedeckt hatte und bearbeitete liebevoll seinen Schwellkörper „Ach Gott, schaust du Schwulen-Pornos?“, fragte ich. „Von wegen, das sind Heten, die live vor der Web-Cam onanieren und sich dafür beklatschen lassen.“ Potzblitz, dachte ich und setzte mich vor den Rechner. Und in der Tat, er hatte Recht: auf cam4.com werden alle Forderungen von „Transparency International“ zur knallharten Tatsache. Ein junger Mann mit voluminösem sekundärem Geschlechtsmerkmal aus Ohio, zappelte nervös auf seinem Stuhl und wurde in der rechten Bildleiste von zahlreichen Community-Mitgliedern, Männlein wie Weiblein, genötigt, doch endlich mal den Blick frei zu geben, indem er sich seiner Unterhose entledige. Er zierte sich ein wenig, versicherte per Message mehrmals, dass er „totally str8“ sei, aber dann traute er sich. Woraufhin die rechte Bildleiste rotierte wie die Anzeige einer Slot-Maschine „Yeah“ (bi-interested); „Great, Man!“ (gay), „Cute Guy“ (female) etc.

Als wir dann abends noch einen Spaziergang im nahen Luch machten, glühte der brandenburgische Himmel so Rot in Rot, dass man hätte meinen können, das Abendland ginge unter. Aber Potsam war weit und wir waren offline. Wir winkten einem Schwarm Kraniche, der über uns hinwegzog, und freuten uns, dass die jungen Leute von heute so offenherzig sind, dass ihre Überwachung am Ende viel zu personalintensiv wäre. Und wir freuten uns über all die jungen Menschen, die gerade weltweit und mit großer Selbstverständlichkeit Freude an ihren Geschlechtsorganen haben. Ernste Probleme gibt es ja schon genug.

Kolumne 55

5.11.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Schmetterlinge im Schrank

NOVEMBER? SCHNEEREGEN? DEPRESSIONEN? KEIN GRUND, DURCHZUDREHEN. SIE BRAUCHEN BLOSS WINTERREIFEN

Jörg Schönbohm geht. Die Kraniche auch. Die Blätter fallen ab. In Brandenburg wird es winterlich. Weshalb das Auto neue Winterschuhe braucht, Allwetterreifen.

Als ich den Wagen bei meinem aus Polen stammenden Schrauber in Berlin-Kreuzberg abholte, hoffnungsvoll neu bereift, rauchten wir noch eine Zigarette zusammen, „Hallo, mein Freund“, begrüßte er mich wie immer, und das bezieht sich mittlerweile nicht mehr nur auf die vielen Geldscheine, die ich ihm regelmäßig in seine kleine Hinterhofwerkstatt bringe.

Er saß ganz alleine auf seinem alten ledernen Chefsessel in der leeren Werkstatt, ich war an diesem Tag sein einziger Kunde gewesen. Während aus dem kleinen Kofferradio Cooljazz ertönte, sannen wir über das Ende des automobilen Zeitalters nach. „Die Leute verkaufen alle ihre Autos, weil sie sie nicht mehr finanzieren können. Sie fahren lieber Rad.“ Ich schlug vor, dass er doch eine Fahrradwerkstatt eröffnen könne – und mit einem verschmitzten Grinsen deutete er auf zwei Fahrräder, die neben einem großen Stapel Winterreifen standen, „kann man versuchen. Noch zwei Jahre habe ich den Vertrag für die Werkstatt, solange werde ich versuchen, durchzuhalten. Nicht mal der Winter spielt mehr mit, früher gab es spätestens im November jede Menge Unfälle wegen Glatteis, da war immer was zu tun“.

Ich versuchte ihn damit zu trösten, dass es Probleme mit meinem Drosselklappenventil gibt – und dass die Stoßdämpfer ja auch bald fällig würden. „Ja, die können wir machen, im Frühjahr“, antwortete er melancholisch, während von draußen ein kalter Luftzug in die Werkstatt gelangte und ein Windstoß kurz, aber bestimmt am hölzernen Tor rüttelte. November. Nun heißt es, durchzuhalten. Man muss Kerzen und Kissen bei Ikea kaufen, die Selbstmordgedanken in Leitz-Ordner abheften und in der hintersten Ecke des Regals deponieren, so dass sie in Vergessenheit geraten wie die Steuererklärung aus dem Vorjahr. Nun heißt es, sich im Inneren einen bunten, klimpernden Jahrmarkt aus positiven Gedanken zu errichten, der einen aufrecht hält, bis man im Vorweihnachtstrubel gar keine Zeit mehr hat, dunklen Gedanken nachzuhängen.

Als ich mit dem neu bereiften Auto endlich in unserem brandenburgischen Straßendorf ankam, waren die kleinen Sprossenfenster hell erleuchtet – mein Mann war also doch schon zu Hause. Als ich hineinkam, schlug mir Wärme entgegen, alle Öfen waren beheizt. Er saß im Wohnzimmer in seinem Sessel, die Katzen auf dem Schoß und hörte Fontanes „Stechlin“, gelesen von einem Herrn mit angenehm brummender Stimme. Ein Schmetterling, ein Pfauenauge, flatterte unruhig zwischen Fenster und Stehlampe hin und her, stets beäugt von den Katzen, die bereit gewesen wären, ihm den Rest zu geben, wenn er nur nicht so weit oben herumfliegen würde. „Was macht der denn hier – im November?“, fragte ich ungläubig.

„Er ist aufgewacht aus seinem Winterschlaf, weil es so warm ist im Haus“ sagte mein Mann. Er stand auf und nahm den Schmetterling vorsichtig in seine Faust, trug ihn zum Wandschrank und sperrte die Tür hinter ihm zu. „Dort drin ist er direkt an der Außenwand, da ist es kühler und er kann wieder schlafen. Wir dürfen nur nicht vergessen, ihn im Frühjahr wieder herauszulassen.“ Halten Schmetterlinge wirklich Winterschlaf? Ich weiß so was gar nicht. Aber ich war in diesem Moment auf jeden Fall bereit, es zu glauben.

Aber wie dem auch sei: Ich bin im Wandschrank, wecken Sie mich bitte im Mai. Nicht vergessen! Danke.

Kolumne 54

6.10.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Zwanzig Jahre Achtziger

WENN DIE EIGENE JUGEND IM DEUTSCHEN HISTORISCHEN MUSEUM ARCHIVIERT WIRD, HAT MAN ES GESCHAFFT UND KANN SICH ENTSPANNEN

Muss es denn wirklich sein, dass er heute schon wieder diese Achtziger-Lederjacke trägt. Wie oft schon habe ich im Lauf unserer Beziehung versucht, meinen Mann davon zu überzeugen, dass diese auf Taille geschnittene, extrem kurze schwarze Lederjacke mit der ausladenden Schulterpartie nun wirklich gar nicht geht. Als ich mir irgendwann gar keinen Rat mehr wusste, wurde ich sogar brutal: „Sie macht dich alt“, habe ich gesagt. Da er runde zehn Jahre älter ist als ich, hatte das ganz schön gesessen. Nicht so, dass er die Jacke danach zur Altkleidersammlung gegeben hätte, aber immerhin so, dass es mir danach leidtat.

Als wir uns kennen lernten, lag die Berliner Mauer schon ein paar Jährchen in Schutt und Asche. Ich war seinerzeit einer von denen, die mit schuld daran sind, dass aus dem Prenzlauer Berg wurde, was er heute ist – also ein jungscher Wessi aus der Provinz, der im wilden Osten Szene spielt und überzeugt ist, mit regelmäßigem Drogenkonsum und dem Tragen von Second-Hand-Stoffhosen gerade das Rad neu zu erfinden. Und er war jemand von denen, die daran schuld waren, dass der Prenzlauer Berg so interessant für uns war – also ein in den Achtzigern knalljungscher Ossi, der in der Kunst-, Schwulen-, Dissidentenszene unterwegs war und in Ost-Berlin versucht hatte, es mit einem anderen Rad als dem staatlich vorgegebenem zu versuchen.

Was mit dem angeblich ganz neuen Rad der Wessis im Prenzlauer Berg geworden ist, weiß man ja nun hinlänglich. Aber sein anderes Rad ist es immerhin wert, im Deutschen Historischen Museum aufbewahrt zu werden – und auf Arte zu bewundern. Als ich am Sonntag vom Lande in die Stadtwohnung zurückgekehrt war, klingelte das Telefon: „Schalt mal schnell den Fernseher ein.“ Ich antwortete: „Aber nicht, dass ich dir schon wieder beim Onanieren zusehen muss“ – er hatte seinerzeit mal als Darsteller bei einem Kunstprojekt mitgewirkt, dass erst Jahre später den Weg ins Fernsehen gefunden hatte, natürlich bei Arte, und mir war fast das Brötchen aus dem Gesicht gefallen.

Doch dieses Mal handelte es sich um einen allgemeinen Film über die Ost-Subkultur der Achtziger: „Guck dir das mal an, so war das damals, und die Leute, die da gezeigt werden, kenne ich fast all“e. Ich glaubte ihm sofort, denn sie hatten auch Achtziger-Lederjacken an.

Mein Mann gehört nun zu jenen Ost-Subkulturpflanzen, die ihr Glück eher auf dem Land suchen, dort ihr Ding durchziehen. Besser im Umland von Berlin als in irgendeinem Ashram, denn sonst hätten wir uns ja nicht kennen gelernt. Den Prenzlauer Berg haben wir beide verlassen – ich finde ihn mittlerweile doof, mein Mann jedoch freut sich, dass er heute so voller Leben ist. Alles bunt. Junge Menschen. Vielleicht hat er ja Recht. Vorbei ist vorbei. Er ist entspannt, bei sich, ganz ohne Schaum vor dem Mund.

Doch leider treiben sich genau diese jetzt in meinem von Gentrifzierung bedrohten Viertel „Kreuzkölln“ rum. Trinken überall laktosefreien Milchkaffee, quaken rum und blockieren die Bürgersteige, so dass die arabischen Großfamilien und die raumgreifenden türkischen Jungmänner-Gruppen nicht mehr durchkommen.

Aber falls ich mich irgendwann erinnern sollte, wo genau dieser Keller in der Nachbarschaft war, in dem Klezmer-Punkrock gespielt wurde und in dem ich schauerlich versackte, dann leihe ich mir die dort bei Jungmännern gerade schwer angesagte schwarze Achtziger-Lederjacke von meinem Mann. Darin würde ich mich gleich zehn Jahre jünger fühlen.

Kolumne 53

21.9.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Ich folge dir bis in die letztePfütze

Wenn der Spätzeitliche Automobilismus im Raum Berlin-Brandenburg an seine Grenzen Stösst, geht es weder vor noch zurück

In regelmäßigen Abständen versenkt mich mein Mann im Schlamm. Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine bizarre sexuelle Spielart, sondern um ein scheinbar nicht vermeidbares Übel, wenn man wie wir zwei in regelmäßigen Abständen mit dem Auto auf Brandenburger Abwegen unterwegs sind.

Mein Mann ist als Eingeborener und gelernter DDR-Bürger in Infrastrukturfragen völlig unerschrocken. Gleich ob es sich um halb im Sumpf versunkene LPG-Plattenwege, märkische Sandpisten, friderizianische Kopfsteinpflaster oder historische Knüppeldämme handelt – immer heißt es: „Fahr, das geht schon.“

Und das mit dem schönen Westwagen! Er will einfach nicht einsehen, dass Aufhängung, Stoßdämpfer, Fahrwerk und was es da noch so alles am Automobil gibt (Ölwannen, die abreißen könnten, solche Sachen), bei solchen Expeditionen in Mitleidenschaft gezogen werden können. Und das, obwohl er als junger Mann gezwungen wurde, eine Kfz-Mechaniker-Lehre zu machen: „Das hier ist kein Trabbi!“, sage ich immer streng. Und ins Nichts. Man bräuchte eigentlich einen Geländewagen – wenn es nicht so albern wäre.

Zugegeben: Dieses Mal war er nicht allein schuld. Wir waren zum spätnachmittäglichen Essen ins Nachbardorf geladen, von einem sehr netten älteren Ehepaar. Im Nachbardorf wird allerdings gerade die Straße saniert, was einige der älteren Anwohner noch ganz schön in finanzielle Schwierigkeiten bringen wird, der Anrainerkosten wegen.

Dieses Mal versenkte mich also eine nette ältere Dame im Schlamm. Sie wies mir von der Haustür aus einen „Parkplatz“ zu, eine Schlammkuhle mit integrierter Pfütze, die ich misstrauisch beäugte, aber man kann sich schon denken, was mein Mann dazu sagte: „Fahr, das geht schon.“

Und schon saßen wir im Dreck fest. Es ging nicht mehr vor und nicht mehr zurück. Nur seitwärts, und zwar von ganz allein, der Wagen rutschte in Zeitlupe in Richtung Straßenbaustellenloch. Kennen Sie auch solche Momente, in denen Sie bedauern, weder Vorurteile zu haben noch beratungsresistent zu sein?

Die Beratungslage in dieser ausweglosen Situation war jedenfalls opulent. So setzte vom Haus der Gastgeber aus ein reges Winken und Rufen ein, mein Mann wiederum versuchte es mit Physik: „Wenn du rückwärts fährst und gleichzeitig nach rechts einlenkst, entsteht zu viel Widerstand, das schaffst du nicht“. Er hat nicht mal einen Führerschein.

Außer dem von den Rädern aufgewühlten Schlamm bewegte sich jedenfalls gar nichts, bis ich mir dachte, dass es an der Zeit sei, die Physis zum Einsatz zu bringen – die Muskeln des Herrn Gemahls sind ja nicht nur zu Deko da: „Schieb, das geht schon“, sagte ich.

Was soll ich sagen: Er hat es geschafft, im Schweiße seines Angesichts, „geht doch“.

Der Westwagen sah danach natürlich aus, als hätte ich an der Rallye Paris–Perleberg teilgenommen, was mir jedoch nach meiner Rückkehr nach Berlin einen völlig unerwarteten Punktgewinn an den Ampelanlagen Neuköllns einbrachte. Anerkennende bis neidvolle Blicke von oben, nämlich von den Fahrersitzen jener großstädtischen Geländewagen, die es höchstens bis zum Parkplatz einer Parkanlage schaffen, streiften Automobil und Fahrer, und ich fühlte mich mindestens wie Heidi Hetzer.

Und irgendwie von gestern mit meiner schlammverkrusteten, alten Dampfmaschine aus Westproduktion. Von nun an warten wir auf unseren Trabbi. Mit Elektroantrieb.