Kolumne 52

28.8.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Jenseits der Friedensgrenze lockt das Obst

POLEN IST GEÖFFNET: ZU BESUCH BEI MIREK, AGATHA UND DER GANZEN GROSSFAMILIE

In Bälde nähert sich der Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen. Mein Mann und ich sind allerdings vor kurzem nur rübergefahren, um Freunde – Mirek und Agatha – zu besuchen.

Schon kurz hinter der Grenze war deutlich zu erkennen, was die Deutschen von den Polen wollen. Ihr Begehr richtet sich nicht auf Territoriales, sondern auf preiswerten Sprit, Zigaretten, Frisuren, schön manikürte Hände, Blumenampeln und käufliche Liebe – so und in dieser Reihenfolge spiegeln es zumindest die Geschäfte an den Grenzorten gleich hinter der Oder, also jenseits der „Friedensgrenze“, wie man die Grenze zu Polen in der DDR nannte, meist ohne selbige jemals übertreten zu können oder zu wollen.

Auf der holperigen Landstraße versuchte ich sogleich das nationalkatholische „Radio Maria“ zu empfangen, um nicht eventuelle Hassbotschaften zu verpassen, die sich explizit an sexuelle Minderheiten richten. Mangels Empfang und Polnischkenntnissen ließ ich es dann doch bleiben und schob die derzeit obligatorische „Gossip“-CD in den Ansaugschlitz.

Als wir durch die ersten Dörfer fuhren, wurde mein Mann sogleich ostalgisch: „Guck mal, genau so hat die DDR ausgesehen.“ Ich murmelte nur was von Stoßdämpfern und fehlendem Randstreifen, Solidarbeitrag und Bananen.

Das Dorf, in dem Mirek und Agatha wohnen, könnte jedenfalls auch als Kulisse für eine Degeto-Produktion mit Maria Furtwängler als ostpreußischer Landarbeiterin mit höheren Bildungsoptionen und ungewollter Schwangerschaft dienen: Unverputzte Steinmauern, oberirdisch verlaufende Telefonleitungen, malerisch freilaufendes Geflügel, Großmütter mit gebeugtem Rücken und Kopftuch.

Wir staunten, aber die Polen staunten auch nicht schlecht, nämlich über uns. Auch als wir endlich bei Mirek und Agatha in der Küche saßen und mit einem halben Schwein bewirtet wurden, ging das Staunen weiter, beiderseits: Durch eine Zwischentür kam nach und nach die Großfamilie, um mal zu gucken, wie die Deutschen gucken.

Sprechen ist ja auch schwierig, wobei mein Mann und Mirek eine Art Euroesperanto entwickelt haben und sich blind verstehen, weshalb es wiederum mir möglich war, die englischen Aufschriften von geschätzten 123 „Body-Shop“-Produkten, die eine in England bei ebendieser Firma arbeitende Dorfbewohnerin mitgebracht hatte, für unsere Gastgeber zu übersetzen. Ich weiß nicht, wie mein Mann es geschafft hat, „Tea Tree Blackhead Exfoliating Wash“, also Teebaum-Schwarzkopf-Peeling-Waschgel, in Euroesperanto zu übersetzen, aber alle waren glücklich.

Wir sowieso, denn nach dem Kaffee entdeckten wir, dass die Polen uns längst überholt haben ohne einzuholen oder wie das in der DDR hieß: Auf dem Hof der Großfamilie feiert die ökologische Landwirtschaft fröhliche Urständ, allerdings ohne Zertifikat und „Body-Shop“-Öko-Marketing. In Deutschland längst ausgestorbene Obstsorten lockten leuchtend von den Bäumen, Hühner und Enten gackerten ganz besoffen von Freiheit, Licht und Luft. Aus von Pestiziden und Dünger unberührtem Acker gruben wir dicke, fette polnische Kartoffeln und freuten uns wie kleine Kinder in der BioBio-Abteilung von Plus. Nun wuss- ten wir, was wir von Polen wollen.

Und weil in Polen die Tradition, wie man aus den Medien weiß, eine große Rolle spielt, bekamen wir als Eheleute, wie es sich geziemt, das eheliche, in Türkis und Pink gestrichene Schlafzimmer von Mirek und Agatha zur Übernachtung zugewiesen. Polen ist ja so was von offen.

Kolumne 51

31.7.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Verliebt, verlobt und ein bisschen verheiratet

WIR HABEN DAS ABENDLAND, DEN ORIENT, DIE MENSCHLICHE ZIVILISATION INS WANKEN GEBRACHT: MEIN MANN UND ICH SIND ZUM STANDESAMT

Heiraten macht gleich viel mehr Spaß, wenn die Standesbeamtin aussieht wie Evelyn Hamann, das Trauzimmer früher mal eine Krankenhauskapelle war und die Trauzeugen als Erstes nachfragen, ob man die „Location“ denn auch für „Shootings“ mieten könne – und die Standesbeamtin dann tatsächlich antwortet, dass an diesem Ort schon mal eine Folge der RTL-Serie „GZSZ“ gedreht wurde.

Aber mal toternst: Wir haben es getan! Mein Freund ist jetzt mein Mann und wir sind zwar nicht verheiratet, dafür aber eingetragen lebensverpartnert, amtlich beglaubigt vom Standesamt Neukölln. Und das geht? Diese Frage hatte mir mein Bruder im Vorfeld gestellt. Und ja, es geht. Nur wie genau, das wussten wir ja vorher auch nicht.

Der Staatsakt, vorbereitet dereinst von der rot-grünen Bundesregierung, nahm seinen Anfang an einem spätsommerlichen Abend auf dem Lande vor zwei Jahren. Eben noch hatten wir uns über die Gasrechnung unterhalten und im nächsten Moment sagte mein nunmehr Angetrauter: „Eigentlich könnten wir doch auch heiraten.“ Der Satz stand dann erst mal etwas sperrig im Raum wie ein monströses Diskursmöbel, auf dem der Papst, Norbert Geis und Volker Beck herumturnen.

Dann war erst mal keine Zeit. Zwei Jahre lang! Erst als wir gemeinsam Urlaub hatten, konnte es losgehen mit der Dokumentenbeschaffung, deren Höhepunkt eine Fahrt mit der Fähre zum Bürgeramt Caputh bei Potsdam war, in dessen Archiv sich der Beweis für die Existenz meines Mannes befindet. Das Zertifikat meiner selbst konnte ich hingegen problemlos per E-Mail in Westdeutschland anfordern.

Zur Anmeldung im Standesamt Neukölln erschienen wir kurz vor knapp und lasen im Warteraum die behördliche Brautbroschüre, die dank rot-roter Landesregierung sogar ein Unterkapitel „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ enthält, in dem die reichhaltigen Pflichten und die im Vergleich zur „richtigen Ehe“ wenigen Rechte noch einmal aufgelistet sind – dem Finanzamt und der Rentenversicherung ist unser neuer Familienstand egal, aber wenn es um Versorgungspflichten geht, sind wir voll gleichberechtigt, immerhin.

Als wir dann im Amtszimmer den Antrag unterschrieben, wurde mir bewusst, dass wir mit diesem Schritt im Begriff waren, das Abendland, die westliche Welt, den Orient, die menschliche Zivilisation an sich, den Vatikan und Wolfgang Bosbach von der CDU ins Wanken zu bringen. Eine „Homo-Ehe“! Zwischen dem Wohl der Menschheit und Armageddon liegt nur ein hauchdünnes Blatt Papier vom Finanzamt Neukölln: Wenn wir wie verheiratete Heterosexuelle Steuervorteile hätten, würde die bürgerliche Ehe und die Familie als Keimzelle des Staates in sich zusammensacken wie ein Souflée. Man muss als Homo schon aufpassen, was man macht, eine falsche Bewegung und schon bricht die fragile Mehrheitsgesellschaft zusammen.

Als es dann so weit war, machte Evelyn Hamann jedoch einen sehr entspannten Eindruck, hantierte mit ihren Stempeln, die Fernbedienung für die Technics-Stereoanlage stets in Griffweite („Hamse Ringe? Wollnse Musik?“). Die Trauzeugen digitalisierten das Geschehen und walteten ihres Amtes per Unterschrift – mein Freund und ich hatten nichts weiter zu tun, als „Ja“ zu sagen. Fertig.

Am Abend, kurz bevor die Trauzeugen zum rustikalen Essen in unserem brandenburgischen Dorf erschienen, rief ich meinen Bruder an, um ihm mitzuteilen, dass es wirklich geht. Wir tranken zusammen ein Glas Moselwein, den meine Eltern uns geschenkt hatten. Nun ist es also amtlich: Wir halten zusammen, in GZSZ.

Kolumne 50

6.7.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Anna und ich allein zu Haus

EIN AUSFLUG IN EINE FREMDE WELT: ALS SUPERNANNY IN BRANDENBURG UNTERWEGS

Erst ging Mama und die Prinzessin weinte bitterlich. Mama musste zur Arbeit. Dann ging mein Freund, und die Prinzessin weinte bitterlich. Mein Freund musste zu einer Behörde. Nun waren die Prinzessin und ich ganz allein im Haus. Und ich war kurz davor, bitterlich zu weinen – vor Angst.

Die Prinzessin heißt Anna und ist zweieinhalb Jahre alt. Und ich war noch nie ganz allein mit einem kleinen Kind, außer mit meinem Neffen auf dem Spielplatz in jener schwäbischen Vorortsiedlung, in der mein Bruder und seine Frau wohnen. Damals hatte ich dem kleinen Tim einfach „Mr Sandmann“ vorgesungen, während ich schaukelte, denn mein Neffe saß ja noch völlig unbedrohlich festgezurrt in seinem Kinderwagen, da konnte mir nicht viel passieren.

Tim kann längst laufen – und die Prinzessin Anna ebenfalls. Das ist heftig. Sie können weglaufen, umfallen, runterfallen, ins Wasser fallen, an einen Gegenstand/Baum/Menschen rennen. Unser idyllisches Landhäuschen mit dem großen Garten, den schönen rauschenden Bäumen und den vielen Blumen erschien mir daher von einer Minute zur anderen wie ein bedrohlicher Dschungel, das Dörfchen wie ein Kriegsschauplatz. In der Luft kreisten riesige Raubvögel, jederzeit bereit, sich auf die kleine Prinzessin Anna zu stürzen, die mit ihren blonden Locken halbnackt durch den Garten flitzte. Unbarmherzig verbrennend strahlte die Sonne von oben auf ihre bleiche, zarte Haut.

Mit Hilfe eines Wassereimers gelang es mir zumindest, die Gefahr des Abschmiedsschmerzes und die Bedrohung des sich Alleingelassenfühlens abzuwenden: Anna hatte nun ihren eigenen Pool – im Schatten! – und das Erfreuliche an Kindern dieses Alters ist ihre Ausdauer in Begeisterungsfähigkeit. Während ein Erwachsener zum Bungeejumping an die Niagarafälle reisen muss, um sich noch spüren zu können, war Anna mindestens eine halbe Stunde mit Glück erfüllt, weil ich sie immer wieder mit den kleinen Füßchen in den Wassereimer stellte und wieder heraushob.

Die nächste halbe Stunde verbrachten wir mit „Fliegen“. Ein Segeltörn entlang dem Kirschbaum, im Tieflug über das Erdbeerfeld – inklusive Zwischenlandungen im Wassereimer. Es folgten Schmetterlingsbesichtigung, Kletterübungen auf den Gartenmöbeln, Ringelpietz-Tanzen zu dritt – mit dem rosa Teddybären in der Küche – und Wettlaufen entlang der Hausfront.

Ich war total erschöpft und sehnte mich nach jenem Mittagsschlaf, den man mir aufgetragen hatte, Anna ans Herz zu legen. Die aber offensichtlich ganz andere Interessen verfolgte. Ich hatte eigentlich keine Chance und versuchte sie mit Hilfe eines kleinen Mittagessens einzuschläfern – funktioniert bei mir auch immer. Die Tortellini segelten jedoch lautlos in Richtung Fenster, der Salat startete senkrecht wie ein Harrier-Jet in Richtung Decke und die Erdbeeren crashten wie ein Airbus auf den Sitzbezügen.

Völlig am Ende hing ich in den Seilen und wünschte mir Ursula von der Leyen als Supernanny zur Seite. Stattdessen stand die Prinzessin Anna plötzlich auf und ging in die Schlafkammer. Sie zog sich aus – und selbständig eine Windel an! Dann legte sie sich schlafen und schon nach einer halben Minute hörte man nur noch ein ganz leises rhythmisches Atmen. Sie hatte mich in Sicherheit gebracht.

Kolumne 49

3.6.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Ein Besuch in Brandenburgs Area 51

DOCH KEINE BOMBEN AUF DIE FREIE HEIDE? ÜBER DIE VERBINDENDE KRAFT DES GEMEINSAMEN KAMPFES

Sind Sie schon mal auf einer Privatstraße des Bundes unterwegs gewesen? Das ist richtig gefährlich. Nicht weil Wolfgang Schäuble auf einen lauert, um einem Fingerabdrücke abzunehmen. Stattdessen erteilt einem Fidel Castro dringende Ratschläge: „Vorsicht Blindgänger! Das Übungsgelände zu betreten ist streng verboten und wird strafrechtlich verfolgt. Der Kommandant“. Brandenburgs Area 51, das ist der militärische Sperrbezirk der Kyritz-Ruppiner Heide, vormals ein Spielplatz des Warschauer Pakts.

So weit, so politisch, bloß Blindgänger. Und nun hört man auch noch aus Kreisen des Verteidigungsministeriums, dass man noch vor der Bundestagswahl in Erwägung zieht, auf das hier geplante „Bombodrom“ zu verzichten, einen „Luft-Boden-Schießplatz“ nämlich. Während mein Freund und ich vorsichtig über die Privatstraße des Bundes fuhren, entlang der schon ganz schön groß gewordenen Kiefern, die sich dort zu Zwischennutzungszwecken tummeln, war ich zu beschäftigt, um mir über die weitläufigen Konsequenzen dieser über Deutschlandradio verkündeten Botschaft klar zu werden: Ich musste feindliche Tiefergelegt-Flieger mit dreistelligem Umland-Kennzeichen abwehren, die an meinem Kofferraum klebten. Gott sei Dank sind meine Wisch-Wasch-Düsen auf Ackerbewässerungsmodus justiert.

Als der OPR-Opel-Astra dann doch an uns vorbeizog, sah ich einen „Freie Heide“-Aufkleber auf seinem Heck. Ja, eben: Was, wenn nicht der gemeinsame unbewaffnete Kampf gegen das Bombodrom und für die Freie Heide soll uns nun in Zukunft verbinden? „Uns“, das sind all die bellenden Brandenburger in ihren von Bevölkerungsschwund bedrohten Dörfern und Städten sowie die kläffenden Berliner, die sich am Wochenende redlich mühen, die Lücken zu schließen. „Uns“, das sind Menschen, die das Landleben todernst meinen, weil sie es nicht anders kennen, und Menschen, die das Landleben lieben, weil sie es nicht kennen. „Uns“, das sind Menschen aus Ost und West, Jung und Alt, bildungsfern und bildungsnah. Und doch waren wir uns wenigstens in einem einig: Bomben nun lieber nicht.

Mein Freund erzählte nun, wie früher die Scheiben wackelten, wenn die Russen mit ihren MIGs herumschwirrten und die Heide mit Bomben umpflügten – und ich erinnerte mich an die Tiefflieger von den diversen US-Air-Bases in meiner West-Heimat, die ausgerechnet unser Haus als Übungsanflugsziel zu benutzen schienen.

Als der OPR-Opel um die übernächste Ecke verschwunden war, hatte mein Freund die rettende Idee: Opel gehört doch jetzt nicht mehr den Amerikanern, sondern den Russen. Dank des deutschen Bundes, der hier eine Privatstraße hat. Anstatt also weiter in der Kyritzer Heide heimlich an UFOs rumzuschrauben, die vom Spritverbrauch her längst am Markt vorbeigehen, sollte man hier ein Opel-Werk errichten. Nur für Drei-Liter-Corsas mit korrekt justierten Wisch-Wasch-Düsen. Peace!

Kolumne 48

6.5.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Unsre tolle Luise – wo bliebse?

Auf einer Spazierfahrt durch Brandenburg und McPomm begegnet man Blühendem wie Totem

Bleibt man wegen der Schweinegrippe im Allgemeinen und Berlusconi im Besonderen besser zu Hause und lässt alle Türen und Fenster geschlossen? Mitnichten: Wer sich stattdessen entschließt, eine Spazierfahrt durch Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern anzutreten, wird weder Menschen noch Schweine antreffen und statt Pizza & Pasta zu begegnen, Schnitzel mit Mischgemüse antreffen. Gut, Schweine also doch. Und auch an den Tankstellen McPomms werden selbstverständlich lokale Pizza-Varianten mit Analog-Käse gereicht.

Mono sind hingegen weite Teile der Landschaft, die sich seit Eintreffen des Frühlings nicht mehr in Grau-Braun, sondern Grün-Gelb präsentiert: Aller Orten blüht buntest der Raps, was meinen Freund die Nase rümpfen lässt, nicht etwa aufgrund allergener Unbill, sondern weil er verstärkt unter akutem Hass gegen westdeutsche Neo-Großgrundbesitzer leidet: „Die kommen hier mit dem Helikopter aus Bayern angeflogen und reißen sich nach und nach den ganzen ehemaligen LPG-Besitz unter die manikürten Nägel.“ Monokultur ist, wenn man über die Landstraße fährt und in einen Wüstensturm aus Rapsblütenstaub gerät.

Als wir uns da durchgekämpft hatten, trafen wir plötzlich auf Luise von Preußen. Die Gute verstarb im Jahr 1810 aufgrund einer Lungenentzündung – nachdem sie unbemerkt unter einem Herztumor gelitten hatte. Verschieden bereits mit 34 Jahren, was ihrer nachträglichen Verehrung nicht abträglich war. Jung und schön, so blieb die preußische Madonna in Erinnerung. Während unsere heutige, die aus den USA, stets in Angst leben muss, dass ihre Hände fotografiert werden. Luise ist nun also schon lange tot, aber in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern wird sie noch immer verehrt, sogar die Katze von meinem Freund hieß so. Sie ist ebenfalls schon seit längerem verschieden, doch für Luise baute Schinkel in Gransee ein Denkmal aus Eisenguss, bloß weil ihr Sarg dort während der Überführung nach Berlin für eine Nacht aufgebahrt worden war. Gransee ist übrigens mindestens so tot wie Luise.

Wir fuhren weiter und landeten beim Weihnachtsmann. Nämlich in Himmelpfort, das ist der Ort, an dem sich einmal im Jahr die Journalisten auf den Füßen herumstehen, weil am Postamt Himmelpfort die Karten mit den Weihnachtswünschen ankommen und auch beantwortet werden. Es war aber niemand zu Hause, so fuhren wir weiter.

Luise hatten wir schon fast vergessen, doch als wir in Neustrelitz ankamen, der ehemaligen Residenzstadt, die über ein Theater nebst angeschlossener, überdurchschnittlich hoher Homo-Population verfügt, trafen wir sie schon wieder. Auf einem luftigen Hügel des Schlossgartens hat man ihr einen Tempel errichtet, mit Seeblick. Sie muss wohl eine Nette gewesen sein, schlechte Schülerin, gute Laune.

„Dass die sich das damals haben gefallen lassen“, sagte mein Freund, „hatten nichts zu fressen, und die bauten hier Schlösser, Tempel und Theater.“ Wir gingen weiter und stießen auf einen russischen Friedhof – in Neustrelitz war ein Panzerregiment der Roten Armee stationiert, übrig blieben nur Gräber und drei zum Abschied gepflanzte Birken.

Was die Menschen sich alles einfallen lassen, aber langweilig werden sie nie. Mal sehen, was als Nächstes kommt.

Kolumne 47

9.4.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Männer sind Schweine

In den Baumarkt, um Sämereien zu kaufen? Von wegen, da geht es um was ganz anderes!

Es war mal wieder so weit. Es ist immer das gleiche Spiel. Immer wenn er sich so nett und liebenswürdig von der Seite an einen heranwanzt, der Herr Lebensgefährte, weiß ich schon, wohin die Reise geht: zum Baumarkt.

Man denkt ja als nicht originär naturverbundener Mensch, dass die Natur diese ganze, durchaus hübsch anzusehende Frühlingsblüherei von allein bewerkstelligt, zumindest auf dem Lande. Ein Gang zu Obi belehrt einen allerdings eines Besseren. Es gilt, mannigfaltige, in ihrem ausgewachsenen Endergebnis farblich aufeinander abgestimmte Sämereien zu erwerben.

Von langen Beinkleidern befreit hatte sich dort schon ganz Brandenburg versammelt, um allerlei Blühwerk und benzinbetriebene Gerätschaften zu kaufen. Lange stand ich vor dem Verkaufscontainer für Grassamen und dachte über einen Relaunch unseres Rasens nach, auch weil wir über Ostern nach Bayern fahren möchten und ich den dort vorherrschenden, grellfarbigen Rasenton, der die Bezeichnung „sattes Grün“ auch verdient, während früherer Reisen zu schätzen gelernt hatte. Unser Rasen hat im Vergleich dazu einen Braunton, was allerdings auch mit den exzessiven Aushubarbeiten unserer der Unterwelt zugeneigten Maulwurffreunde geschuldet ist. Ob wir statt eines Rasenmähers eine Planierraupe erwerben sollten – so dachte ich laut und sprach doch ins Nichts, weil mein Lebensgefährte längst drei Regale weiter in den Anblick dunkelblauer Keramikblumenkübel versunken war, die in dieser Saison zur konischen Form zu tendieren scheinen.

Dann eben nicht. Ich widmete mich stattdessen der Musterung heimischer Regionalpflanzen, die in immer neuen Beschaffenheiten an mir vorbeimarschierten. Gut gewachsene und aus dem Leim gegangene, große und kleine. Ein ganzer Stoßtrupp mit kahl geschorenem Blattwerk und Runentätowierungen marschierte in Richtung Gartenmöbelabteilung, um einen Grill für den nächsten Kameradschaftsabend zu besichtigen. Ein Fitnessstudio-Nutzer mit blondierter Dauerwelle erwarb Toxisches zum Zwecke der Unkrautbehandlung. Ein verdächtig prachtvoll blühendes Exemplar wagte einen Blickwechsel, während seine Freundin ihn reflexartig um die schmale Taille fasste, um ihn möglichst dicht an sich zu ziehen.

Apropos: Wo treibt er sich denn wieder rum, der Herr Lebensgefährte?! Bei den konischen Kübeln ist er jedenfalls nicht mehr.

Frühling, Blüten, Sämereien. Jetzt geht es also wieder los mit dem Leben – und was gehört zu selbigem prallem? Sexualität! Mann hatte es schon fast vergessen über die letzten Monate dieses Winters, der in meiner Erinnerung mindestens zehn Jahre gedauert hat. Jegliche Körperlichkeit begraben unter dicken Stoffschichten, erstickt und zugleich angereichert bzw. aufgeschwemmt durch Weihnachtsgebäck und stimmungsaufhellende Alkoholika, ausgetrocknet von stickiger Heizungsluft. Ausgebleicht wie die Maulwürfe unter Tage.

Sexualität, darum schien sich hier in diesem Baumarkt auf der grünen Wiese, umgeben von architektonischer Gesamtbrutalität, alles zu drehen, auch wenn es hier nicht selbige Unterstützendes, Begleitendes oder gar Anregendes zu erwerben gab, wenn man von Teichfolie und Whirlpoolwannen absieht. Aber die Kundschaft, egal ob Männlein oder Weiblein: Pralle Radlerhosen, bauchfreie Tops, toupiertes Haupthaar, zur Schau getragener Körperschmuck, wiegende Bewegungen, narzisstische Kontrollblicke in den am Rand des Ganges zufällig ausgestellten Alibert-Badezimmerschrankspiegel, schwellende Bizeps- und Pectoralis-Muskulatur unter angeblich bloß zu heiß gewaschen T-Shirts, aggressiv-lockende Parfümwolken. Mir kann hier keiner erzählen, dass er bloß wie aufgedreht durch den Baumarkt läuft, weil er sich für Gartenarbeit interessiert.

„Und du denkst auch immer nur an das eine“, raunzte ich meinen Lebensgefährten an, als ich ihn endlich in der Trockenbauabteilung aufspürte und die Preise für Rigipswände verglich. Männer sind solche Schweine.

Kolumne 46

23.2.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Die Tränen der Frau Schaeffler

Wenn die Welt zum Panic Room wird, hilft nur noch die gute, alte Makro-Welle aus DDR-Produktion

Wenn man so im weiß bedeckten Grünen sitzt und mangels DSL-Anschluss schön knisternde, raschelnde, Finger schwärzende Printmedien bei Kaffee und Frühstücksbrötchen liest und sich das Elend der Welt ins gut mit Holz beheizte Haus holt (laut Zeiteine ultrakarzinogene Heizweise), dann braucht man erst mal eine Zigarette, um sich wieder zu entspannen und die Dinge zu relativieren.

Frau Schaeffler weint, aber unsere Nachbarin ja auch, weil sie nicht über den Tod ihres Mannes hinwegkommt, der von einem Heuballen erschlagen wurde. Opel geht es nicht gut, aber die Autos gefallen uns nicht. Saabs sind ein wenig prätentiös. Schiesser-Unterhosen sind ein Klassiker, aber wir beide haben eigentlich keine. Und meine Erinnerungen an die Märklin-Eisenbahn sind längst verblasst – mein Freund hatte als Ossi sowieso keine. Die Zeit der Zeitungen ist vorbei, steht in der Zeitung, die ich in Händen halte. Vielleicht ist es das, was die Kommentatoren mit dem Satz „Die Krise ist noch nicht beim Einzelnen angekommen“ meinen?

Von mir aus kann sie auch gerne bleiben, wo sie ist, die Krise. Und mein Freund als alter Ossi weiß wie immer Rat: „Es geht immer weiter, auch wenn alles zusammenbricht. Außerdem brauche ich eine benzinbetriebene Kettensäge“. Benzinbetrieben. Gibt es so was auch mit Raps-Öl-Motor? Und was ist mit den karzinogenen Stoffen, die bei der Verheizung des zerkleinerten Holzes entstehen? Das frage ich mal lieber nicht laut und zünde mir noch eine an. So eine Kettensäge kostet ja auch wieder Geld – ob ich mir das von Tabaklobby finanzieren lasse? Immerhin habe ich in den letzten zwei Absätzen zweimal das Rauchen in einem nicht zwingend negativen Zusammenhang erwähnt. Leider weiß ich aber die Telefonnummer der Tabaklobby nicht.

Kettensäge. Wo kauft man so was? Aber bevor ich diesen Gedanken zu Ende denken kann, hat mich mein Freund schon auf einen bizarren, aber womöglich zukunftweisenden Shopping-Trip entführt. Wir fahren in den Berliner Plattenbau-Stadtteil Hohenschönhausen, um eine Makro-Welle zu erwerben, die eigentlich nach Kaliningrad in Russland gebracht werden soll. Sie haben richtig gehört: Makro-Welle. Original Ostproduktion, Baujahr 1988, groß wie eine Spülmaschine und in MaschiBau-lindrün, Not-aus-Reißleine und mit Knöppen groß wie Zuchtchampignonköpfe. „Sag mal“ frage ich, als wir in der „Polizeiruf 110“-artigen Kulisse stehen, ein halb abgebrochenes Lagerhaus im Schatten der Plattenskyline „was ist das denn bitte für eine Mikrowelle? Ist das radioaktiv?“ frage ich verängstigt. „Makro, bitte schön. Das ist ein Therapiegerät und hilft gegen Rückenverspannungen. Hilft super, ist aber nach der Wende in Vergessenheit geraten. Und sieh mal, hier in den Auslegern, da ist sogar Goldstaub drin.“ Fast so beeindruckend wie die stattlichen Goldzähne des Händlers, der seine Zahnreparaturen längst in Russland machen lässt, der Kosten wegen.

Auf der Rückreise liegt unser Auto, konzipiert noch in der Blütezeit der Bundesrepublik, gebaut auf dem Höhepunkt der deutschen Automobilindustrie, bedrohlich tief auf der mit Löchern gespickten Piste. Und vor meinem geistigen Auge sehe ich uns in zwanzig Jahren durch Bochumer Hinterhöfe schleichen, auf der Suche nach einem noch fahrbereiten Opel Astra. In Secondhandwühltischen nach soliden Schiesser-Unterhosen grabbeln. Auf dem Schwarzmarkt mit Speck aus eigener Schlachtung wedelnd, um eine alte Märklin-Lok für den Neffen zu ergattern. Mein Gott, Frau Schaeffler, ich weine mit ihnen!

Unauffällig fasse ich in die Tasche und fingere an meinem Portemonnaie herum. Der Zwanzigeuroschein ist noch da. EC-Karte? Ja. Kreditkarte? Ja. Noch muss ich also nicht verstaatlicht werden. Ich muss vielmehr schnell eine benzinbetriebene Kettensäge kaufen, solange die Konten noch nicht gesperrt, die Kettensägenanbieter nicht insolvent, das Benzin nicht alle …

„Heute Abend bekommst du eine Makro-Massage. Du wirkst so verspannt,“ sagt mein Freund „und rauch doch nicht so viel!“

Kolumne 45

6.2.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Global schwafeln, lokal handeln

Der Frühling kommt, irgendwann. Zeit, sich Gedanken zu machen über Zuversicht, Shoppen und Guantánamo

Es gibt ja diese Ungleichzeitigkeiten, auch und gerade in ländlicher Idylle. Während draußen alles in grauen Farben gefriert und vor sich hin ödet, ist im Einkaufszentrum vor den Toren der Stadt längst Frühling. Es grünen und sprießen die Frühblüher, genau zwischen Backzutaten und Spirituosen. Wer könnte da noch ohne Hoffnung sein? Gäbe es eine Abwrackprämie für Jahreszeiten, dann wäre der Winter jetzt fällig und die neue Jahreszeit längst geleast.

Mein Freund und ich haben am Wochenende mal intensiv über unsere Vorhaben für 2009 nachgedacht. Einen Guantánamo-Flüchtling aufnehmen? Nur, wenn er gut aussieht. Wobei mein Freund sagt, dass George W. doch eigentlich viel mehr Platz auf seiner Farm in Texas hat als wir. Auch wahr.

Mehr soziales Engagment im Nahumfeld, auch immer gut. Unsere Nachbarin zum Beispiel verabschiedet sich schon seit geraumer Zeit, Schritt für Schritt mit dem Rollator, in Richtung Demenz. Sie wird dabei immer liebenswürdiger und lebenslustiger, so dass es eine Freude und fast schon ein Trost ist, mit ihr zusammen zu sein. Wir wollen mit ihr und ihrem Sohn, der sie pflegt, bald einen Ausflug machen. Auch wenn das nicht zu hundert Prozent altruistisch motiviert ist: Demenz als Bewältigungsstrategie, warum nicht?

Wenn man die Nachrichtenlage beobachtet, ist gebären zur Zeit kein Thema, in dem Punkt haben wir schon mal keinen Stress mehr. Unter Druck ist man nur in Fragen der Zuversicht und des Shoppens. Man soll keine Angst vor der Krise haben und ganz viel einkaufen, damit die Wirtschaft nicht einknickt. Bekommt man denn dafür im Moment Kredite bei den Banken? Wir wollen eine Mail an ackermann@db.deschicken.

Bleibt noch die Frage: Was machen wir bloß mit Schwester Benediktine, auch bekannt als „Der heilige Vater“? Uns war ja klar, dass wir mit ihr noch viel Freude haben werden, aber jetzt wird es langsam derb. Wenigstens hat Angie mal eine Ansage gemacht.

Das sind Gelegenheiten, bei denen es meinem Freund ganz anders wird. Als gelernter DDR-Bürger Jahrgang 1963 weiß er, dass ein bislang als ehern und unveränderlich angenommenes „System“ von einem Tag auf den anderen abhandenkommen kann. Ich als gelernter BRD-Bürger Jahrgang 1973 weiß das ehrlich gesagt keineswegs – weshalb mir das mit der Zuversicht und dem Shoppen viel leichter fällt.

Mein Freund macht sich indes Sorgen über eine Erkenntnis, die aus historischer Sicht nicht so ganz von der Hand zu weisen ist: Schlechte Zeiten sind besonders schlecht für Minderheiten. Und von der jüdischen Weltverschwörung ist es ja nicht so weit zur jüdisch-schwulen Weltverschwörung. Nun ja. So schnell bekommt man die Paranoia nicht aus den Knochen, sie gehört wohl zum Erbe. Und klar: „Being paranoid doesn’t mean they are not after you.“ Aber wenn man vor die Tür geht, dann steht die Welt ja noch. O. k., die Blumen sind noch im Supermarkt, aber ansonsten ist alles noch da.

Und haben nicht alle Menschen gerade Angst, auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen? Zum Teil hat man den Eindruck, als ob überall ein diskreter Tanz auf dem Vulkan stattfindet. Jetzt nicht so richtig laut und hysterisch – man köpft nicht alle Flaschen Champagner, die man noch im Keller hat, auf einmal – aber doch bestimmt, leise „Hurra, wir leben noch“ nuschelnd.

Wir sind stattdessen in Rheinsberg spazieren gegangen. Friedrichs Schloss steht noch – und wie! Frisch herausgeputzt ist es. Die Sonne erbarmte sich und schien vorübergehend, der See war malerisch zugefroren und das hässliche alte FDGB-Hotel am gegenüberliegenden Ufer ist abgerissen, das nahegelegene AKW stillgelegt.

Nein, Zukunftsangst macht keine Freude. Demenz ist keine Lösung und Paranoia ist auf Dauer ungesund. Shoppen kann man nur so viel, als Geld erwirtschaftet ist, und Benediktine kann uns mal gerne haben. Und ist es nicht großartig, dass Guantánamo aufgelöst wird – at last?

Als die Sonne sich ihrem ganz privaten Untergang neigte, sind wir noch ins Einkaufszentrum gefahren. Frühblüher kaufen.

Kolumne 44

22.1.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Andere nennen es Arbeit

Wenn die werktätige Masse zu zweit werkelt: Voller Einsatz im Vorgarten

„Um Gottes willen: Günter Grass hadert immer noch mit der deutschen Einheit“, sagte ich zu meinem Freund. „Aha“, sagte er nur. „Du, und der Thierse sagt, dass ihr Ostdeutschen mal bitte schön stolz sein sollt auf die friedliche Revolution.“ Wieder nur „Aha“ – und statt einer Antwort kam lediglich die freundliche Ansage: „Steh doch mal bitte auf und schau vor die Tür.“

Habe ich dann auch gemacht, allerdings war draußen nichts zu sehen, wenn man von dem riesigen Haufen Kleinholz absieht, der sich vor mir auftürmte: „Du, komm mal gucken, ich glaube, vor der Tür ist ein Baum explodiert oder so was!“, rief ich in den Flur. „So, wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben“, hallte es zurück, „das hat Erich Honecker immer gesagt.“

Aus die Maus. Keine Diskussionen, stundenlangen Gespräche, Metaebenen und Subtexte. Stattdessen wurde ich dazu verdonnert, beim Holzstapeln – oder nennt man das Aufschichten? – zu helfen. Mein Freund nennt so etwas dann eine „Gelegenheit, sich einzubringen“. Diese Sprache, das sind dann so Momente, in denen ich mit der Wiedervereinigung hadere.

Wenn man die ganze Woche in der Großstadt war, um seine Neurosen zu pflegen, kommt einem die Vorstellung, Holz in freier Natur zu stapeln, erst mal absurd vor. Doch als ich langsam ins Schwitzen geriet vom vielen Zusammenklauben und Hin- und Herschleppen, konnte ich das Geschehen wieder fassen: „Sag mal, wieso muss ich hier eigentlich den unqualifizierten Hiwi-Part übernehmen, während Monsieur schön im Stehen stapelt?“ Die Antwort war ja klar: „Weil der Stapel zusammenbricht, wenn du das machst.“ Ich gab zu bedenken, dass ein solches Gespräch im wahrsten Sinne des Wortes nicht auf Augenhöhe stattfände, ich mich in meiner Komepetenz herabgewürdigt, motivationstechnisch abgewürgt und zudem einseitig ausgebeutet sähe und eine Supervision für dringend nötig befände, und zwar möglichst sofort. Denn schließlich gehe es bei der Arbeit ja auch um Selbstverwirklichung und Anerkennung – wenn nicht gar möglichst ausschließlich.

Er antwortete nicht und stapelte stumm weiter, während ich mich in einer aussichtslosen fordistischen Zwangssituation befand. Vom Arbeitsschutz mal ganz abgesehen. Keine Handschuhe. Splittergefahr! Aus Verzweiflung fing ich sogar an zu singen, womöglich instinktiv, genetisch abgespeicherte Bewältigungsstrategien der bäuerlichen Ahnen, auch wenn die das Lied „Lebt denn der alte Holzmichel noch“ nicht kannten, das hat uns ja erst die Wiedervereinigung gebracht.

Währenddessen paradierten vorbei: „Eier-Oma“ aus Schlesien, Bäuerin Grundmann mit Rollator, ein Teenager mit Pferd. Freie Menschen in einem freien Land, die sich verlustierten, flanierten und sich voll und ganz ihren hedonistischen Bedürfnissen hingaben, während ich in Fron erstarrte: „Es ist alles so sinnlos. Immer die gleichen Bewegungen, und dieser Berg von Holz wird einfach nicht kleiner. Ich bin völlig perspektivlos. Zudem völlig überqualifiziert, theoretisch zumindest, also auch unterfordert. Das ist ja hier schlimmer, als in die Fänge der Bundesagentur für Arbeit zu geraten“, klagte ich an und fand wieder kein Gehör. Wende? Eher Gulag. Isoliertes Element der werktätigen Massen. „Man hatte uns andere Dinge versprochen. Wir waren voller Hoffnungen und Träume von einem gelungenen Leben, in dem Arbeit und Beruf Hand in Hand gehen.“ Ich flüsterte nur noch, entkräftet, erschöpft, geschunden.

Doch irgendwann war der Haufen verschwunden, auf so wundersame Weise, wie er gekommen war. Alles aufgeklaubt und gestapelt. Mein Freund klopfte mir anerkennend auf die Schulter: „Ja, Mensch, du siehst richtig frisch aus, alles schön durchblutet, Kreislauf aktiviert, alle Muskelgruppen zum Einsatz gebracht – und endlich entspannt statt überspannt. Das Rezept für eine Stunde Ergo-Therapie kannst du mir nächste Woche nachreichen.“

So was nennt man, glaube ich, Entfremdung in der Postmoderne.

Kolumne 43

6.1.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Flora, Fauna, Fest

Menschen, Tiere und Pflanzen im weihnachtlichen Lichterglanz vereint – schöner wird’s nicht

Erst wenn der letzte Böller zerballert, die letzte Flasche Sekt geleert und die letzte Gans aufgegessen ist, werdet ihr merken, dass Festtage nicht ewig dauern. Diese Weisheit bekam als Erstes jene Spitzmaus reingedrückt, die sich über die Feiertage in unserem Wohnzimmer eingenistet hatte. Mein Freund erwischte sie während eines Neujahrsgelages in der Keksschale, packte sie an ihrem verlängerten Rückgrat und beförderte sie freundlich, aber bestimmt vor die Tür. So gerne man Gäste hat, irgendwann ist man auch froh, wenn man mal wieder seine Ruhe hat.

Bei aller Freundschaft! Denn: Weihnachten & Co standen bei uns nicht unter dem Stern der Familie, sondern unter dem Milchstraßenglanz des Freundeskreises. Wir hatten sozusagen Tag der offenen Tür – und der Christbaum war festlich geschmückt nicht etwa für leuchtende kleine Kinderaugen, sondern zur gezielten optischen Anregung der alkoholisch schimmernden Netzhäute Halberwachsener. Die „dicke Berta“, eine brandenburgische Nordmännin mit etwas zu opulent geratener Hüftregion, war mit Lametta behangen wie Josephine Baker in ihren besten Tagen. Gott sei Dank, denn beinahe wäre sie an die Elefanten des Berliner Zoos verfüttert worden, weil mein Freund mit dem für den Verkauf zuständigen Revierförster aneinandergeraten war, des Preises wegen. Vom Revierförster stammt auch die Geschichte mit den Elefanten – ich habe aber dann einfach stillschweigend bezahlt, sodass die Dickhäuter leer ausgingen.

Die brandenburgische Fauna hingegen landete nach und nach in unserem Backofen, der Freunde wegen. Wildschweine, Kaninchen und Gänse aus heimischem Anbau wurden mariniert, gefüllt und gespickt, gebraten, gesotten und gedünstet, dass es eine Freude war und ein Alb für Vegetarier. Verschont wurden nur die Katzen und der Singvögel frierender Schar, die sich vor den Fenstern an den vom Einkaufzentrum mitgebrachten Körnergeschenken erfreute.

Die Beglückung der Tierwelt war insofern durchwachsen, doch auch die Menschen kamen zunächst nur zur Hälfte an. Ein Teil hatte sich schon kurz nach der Abfahrt in Berlin verabschiedet, um sich am Alexanderplatz zu erbrechen – in Erinnerung an das Festtagsgelage vom Vorabend und in böser Ahnung vor dem Kommenden.

Doch die Durchgekommenen erfreuten sich der dicken Bertas Reizung der Netzhäute, befeuchteten selbige rege mit Rotkäppchen-Sekt und genossen die gegarte Fauna mit Freude. Denn mit dicken Bäuchen und einem warmen Ofen im Rücken lässt es sich entspannter über die Wirtschaftskrise debattieren.

So ging es insgesamt drei Tage lang. Kochen, essen, trinken, Ofen beheizen, Baum illuminieren. So ähnlich müssen sich jene Nachkriegsmütter fühlen, denen es mangels Assistenz neuer Väter stets alleine obliegt, das heimatliche Nest auf Hochglanz zu polieren und mit Weihnachtskugeln zu dekorieren. Ganz alleine verantwortlich für Choreografie, Dramaturgie und Produktion einer dreitägigen Orgie. Ein Hammerjob, den man eigentlich nur betrunken durchstehen kann. Ich muss nächstes Jahr an Weihnachten unbedingt mal meine Mutter fragen, wie sie das all die Jahre ausgehalten hat – wenn wir bei ihr am Tisch sitzen und uns das Essen auf den Teller häufen lassen. Mit Blick auf den schönen Weihnachtsbaum, mit dessen Erwerb und Beschmückung ich nichts zu tun hatte, weil dafür ja wohl irgendwie das Christkind zuständig ist.

Ich kann mich auch entsprechend nicht mehr so richtig erinnern, wie der letzte Tag der Festtagsorgie endete, weil irgendwann ein Rotwein aus Baden ins Spiel gekommen war, der mich auf die Bretter gehauen hat. Alles, was ich weiß, ist, dass die Spitzmaus, die mein Freund eben noch zur Tür begleitet hatte, schon nach einem Tag wieder aus dem Skiurlaub zurück war. Sie hat es sich unter einem Türschweller gemütlich gemacht. Sie ist eben einfach gerne bei uns. Und das war auch das schönste Weihnachtsgeschenk: Freunden eine Freude zu machen, sie zu Gast zu haben. Weihnachten in der Familie.