Kolumne 42

19.12.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Mein Mann des Jahres

Wenn es ihn nicht gäbe, dann müsste man ihn erfinden: den Freund mit dem roten Schal

Mein Lebensgefährte ist Denkmal des Monats. Deshalb wurde die Straße gesperrt und der Bürgermeister der Ackerbürgerstadt hat mit dem städtischen Gabelstapler einen Glühweinstand bringen lassen und der Kindergarten-Chor hat gesungen und das Blechbläser-Ensemble war auch da. Und der Weihnachtsmann. Und das Fernsehen.

Also, nein, so alt ist er nun auch wieder nicht, mein Lebensgefährte. Ich muss das erklären. Aber das alles hat auch wirklich genau so stattgefunden, weil das Fernsehen ja auch da war, und die haben alles gefilmt und das ist der Beweis.

Das Denkmal, das sind eigentlich die alten Ackerbürgerhäuser, die mein Freund in liebevoller Handarbeit und über Jahre renoviert und vor dem sicheren Verfall bewahrt hat. Es sind die allerältesten Häuser der Ackerbürgerstadt. Sie sehen ein bisschen aus wie in einem surrealistischen Film, alles ist krumm und nett angeschrägt – weshalb, glaube ich, viele Ackerbürger denken, dass mein Freund einen am Sträußchen hat.

Dass es einen städtischen Gabelstapler gibt, haben wir gar nicht gewusst. Aber das Schöne an so einem Feiertag ist, dass endlich mal die Kulissen stimmen. Das ist so ähnlich wie mit Weihnachten. Es war eine gute Gelegenheit, endlich mal den ganzen Müll und Schrott und Bauschutt wegzuräumen. Und die Spinnweben hinter der Treppe zu entfernen, mein lieber Mann. Die Katzen mal durchzulüften und die leeren Flaschen wegzubringen. Zur Feier des Tages standen auch die beiden Transporter der Nachbarn ausnahmsweise mal nicht genau vor dem Wohnzimmerfenster. Wegen des städtischen Ausnahme-Parkverbotsschildes.

Allerdings hat sich das Denkmal des Monats komplett geweigert, meine Medienberatung in Anspruch zu nehmen. „Ich bitte dich inständig, nimm doch diesen roten Schal ab, wenn du interviewt wirst.“

Aber als dann die Ackerbürger da waren und der Kindergarten-Chor und die Blechbläser und das Fernsehen, was musste ich da sehen? Was musste ich da sehen? Der rote Schal leuchtete inmitten des Dezember-Graus, als ob Gregor Gysi, Walter Momper und Franz Müntefering eine Personalunion eingegangen wären. Roter gar als das Gewand des Lebkuchen verteilenden Weihnachtsmannes.

Der Gabelstapler hatte auch noch ein Stehpult mit eingebauten Mikrofonen gebracht, das dann allerdings mangels Verstärkeranlage und Stromversorgung nicht so richtig zur Geltung kam bei der Ansprache des brandenburgischen Denkmalschutzamtes. Und als das Denkmal selbst sprechen sollte, machte er nicht viele Worte, sondern sagte bloß, dass man ja wohl heute Abend alles im Fernsehen sehen könnte und er deshalb nicht viele Worte machen müsse.

Anschließend durften alle mal hinter die Kulissen gucken und die Häuser von innen anschauen. Für Verwirrung sorgte allerdings der Kinderstuhl in unserer Küche. Ob ich das hätte erklären müssen? Dass die dazugehörige Frau nicht etwa unsere Leihmutter ist, sondern eine mit uns befreundete Untermieterin und das dazugehörige Kind gerade mit seinem Vater in Ägypten … Zu kompliziert.

Abends dann, als die Blechbläser und das Denkmalamt wieder weg waren und der Gabelstapler den Glühweinstand zurück in seine Garage gefahren hatte und die Ackerbürgerstadt zurück in ihren Vorweihnachtsschlummer gefallen war, sahen wir uns dann unser Zuhause im Fernsehen an. Den roten Schal hatte mein Denkmal des Monats immer noch an, weil er starke Halsschmerzen vom vielen Reden hatte, was sonst ja nicht so sein Ding ist.

Es ist also alles wahr, wir haben es im Fernsehen gesehen. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als ich diese Ruinen zum ersten Mal gesehen habe. Mir ist einfach nur schwarz vor Augen geworden. Ich hatte die Fantasie einfach nicht. Mein Freund schon. Man muss ihn einfach lieben, inklusive roten Schals. Ein denkwürdiger Mensch, und das nicht nur für einen Monat. Ganz in echt, keine Kulisse. Ich habe das schon immer gewusst.

Kolumne 41

10.12.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Konsum für den Weltfrieden

Auf in die Wirtschaft, der Wirtschaft wegen: mit Würzfleisch an Scheiblettenkäse gegen die Krise

„Sag mal, wie ist denn das jetzt mit den Konsumgutscheinen, hast du schon einen bekommen?“, fragte mich mein Freund neulich beim Nachmittagskaffee. Es war schon so gegen fünf und draußen in der Natur hatte bereits jemand vorzeitig das Licht ausgeknipst, wie in dieser Jahreszeit leider üblich. „Na, wenn ich schon einen hätte, dann hättest du doch wohl auch schon einen, oder etwa nicht?“, fragt ich zurück. „Na ja, hätte ja sein können, dass du als Wessi …“ Na von wegen: „Also, bei mir liegt gerade eine Mahnung vom Finanzamt, und die wollen Geld, anstatt mir welches zum Verjuxen zu geben“, antwortete ich erbost, und „wenn es diese Gutscheine gäbe, würde DEINE Kanzlerin schon dafür sorgen, dass du ihn als Erster bekommst.“

Nun war es jedoch unser gemeinsamer Bundespräsident, Westdeutscher, der sich im Rahmen einer Reise durch das Land Brandenburg freundlich gegenüber Ostdeutschen geäußert hatte – und dabei auch noch klimaschonend vorging, denn weit hatte er es ja nicht vom Schloss Bellevue aus, das man in Brandenburg übrigens „Bällewüeh“ ausspricht. Horst Köhler hat gerade die Brandenburger ob ihres Engagements für den Aufbau ihrer Region gelobt. Es sei die Leistung der Bürger, dass die Arbeitslosenquote wieder stark gesunken sei, hat er gesagt.

Allerdings, denn auch wir beide hatten an diesem Abend das Unsrige getan, um den Arbeitsplatz von zwei Köchen und einer Auszubildenden im Bereich Gastronomie zu retten. Wir fuhren in die Kreisstadt, um in der dortigen „Speisegaststätte“ zu Abend zu essen. Ganz ohne Gutschein.

Die Menschen aus der brandenburgischen Wirtschaft haben sich richtig gefreut, als wir kamen, denn schließlich waren wir zusammen mit einem Ehepaar, das sowohl vom Klangbild als auch von der Optik her zwingend aus Düsseldorf stammte, die einzigen Gäste an dieser Stätte.

Als die Düsseldorfer dann auch noch gingen („Wir fahren ja viel mit Tempomat“), waren wir ganz allein mit unserem „Würzfleisch“, wobei es sich um „Raggu Fäng“, überbacken mit Scheiblettenkäse handelt. Allein in unserem ostdeutschen Traditionslokal, in dem es vor Ankunft der Düsseldorfer, Hamburger und Bielefelder – also vor 1989 – immer brechend voll war, wie mein Freund erzählte, „Sie werden platziert“.

Heutzutage hat man nun wirklich freie Tischwahl, und damit wir uns nicht so auf der Stuhlkante fühlten, illuminierte der Azubi sogar die Möbelhaus-Kronleuchter im großen Raum nebenan. Während des Hauptgangs, Grünkohl mit Knacker, standen wir unter ständiger Beobachtung. Der Jungkoch und seine Assistentin spähten immer wieder durch die winzige Küchenklappe auf unsere Teller und unsere Gesichter, einmal winkte der Koch sogar. Ich glaube, sie wollten sich sowohl von der Sinnhaftigkeit ihres Tuns überzeugen als auch Gewissheit und Hoffnung ob der Zukunft ihrer Arbeitsplätze erlangen.

Von unserer Seite aus waren die Signale jedenfalls positiv. Die überdimensionierten, laut brandenburgischem Verbraucherschutzministerium garantiert nicht von irischem Dioxin verseuchten Würste mundeten, auch wenn man sich ob der Stille arg bemühen musste, nicht zu schmatzen oder zu sehr mit dem Besteck zu klappern.

Als wir dieses Schauspiel nun beendet hatten, zahlten wir lächerliche neunzehn Euro für zwei Essen mit Vorspeise und Getränken – und fragten nach, ob wir in Zukunft vielleicht auch mit bundesrepublikanischen Konsumgutscheinen zahlen könnten. Und, dass wir in diesem Fall beim nächsten Mal in Erwägung zögen, auch noch ein Dessert zu wählen. Geht nicht, sagte die brandenburgische Wirtschaft.

Also, wenn wir beim nächsten Mal nach Berlin fahren, vielleicht aus Anlass des Weihnachtskonsums, schauen wir mal in „Bällewüeh“ vorbei und fragen nach einem Bundesverdienstkreuz. Und dann gleich weiter zum Kanzleramt, wegen der Gutscheine. Ich meine: Wir tun ja nun wirklich, was wir können, um unsere Wirtschaft zu retten. Aber es reicht nie.

Kolumne 40

25.11.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Das Geheimnis des Geldkreislaufs

Wenn globale Krisen auf lokalen Erkenntnisdrang stoßen, kann schon mal das Bargeld knapp werden

Haben Sie eigentlich mittlerweile wirklich verstanden, wie das so funktioniert mit dem weltweiten Geldkreislauf? Wo kommt das Geld her, wie kommt man an es heran – und warum verschwindet es gelegentlich einfach über Nacht?

In unserer kleinen Ackerbürgerstadt wollte es unlängst eine Gruppe junger Männer mal ganz genau wissen. Sie waren nicht länger bereit, sich mit der im Volksmund bislang üblichen Gewissheit, dass das Geld schlicht „aus der Wand“ komme, abzufinden, und sprengten kurzerhand einen dieser ominösen Automaten – in diesem Fall einen der Berliner Volksbank – in die Luft. Einfach mal sehen, was dahintersteckt!

Als dieses „Jugend forscht“-Projekt in die Tat umgesetzt wurde, saßen mein Freund und ich bei Kerzenschein und in Gesellschaft unserer Katzen in der Küche und ahnten nichts Böses. Das war genauso wie mit der Finanzkrise, es gibt zwar über Nacht einen Rumms, aber man denkt sich erst mal nichts dabei. Nicht mal die Katzen, die doch angeblich so sensibel sind.

Erst am nächsten Tag ergaben sich nähere Zusammenhänge. Dort, wo man eben noch Geld aus der Wand ziehen konnte, stand nun eine rauchgeschwärzte Ruine. Kein Bargeld mehr in der Ackerbürgerstadt, so schnell geht das.

Die jungen Herren, laut Polizeiangaben rumänischer Herkunft, wurden mittlerweile verhaftet, wahrscheinlich weil sie ihr wissenschaftliches Anliegen über einen längeren Zeitraum auf die ganze Region Berlin-Brandenburg ausgedehnt hatten – und dies trotz doch erheblicher Fortschritte. Schließlich waren Kollegen in dieser Frage noch vor gar nicht allzu langer Zeit gescheitert. Sie hatten bei einem vergleichbaren Versuch statt des Geldautomaten den Kontoauszugsdrucker aus der Verankerung gerissen und waren nun statt im Besitz der Erkenntnis neuer Eigentümer eines völlig veralteten, lärmenden Nadeldruckers.

Bei meiner Berliner Bankfiliale in Neukölln wird solcherlei Erkenntnisdrang seit neuestem übrigens recht streng entgegengetreten. Hinweisschilder in fünf Sprachen (1. Russisch, 2. Rumänisch, 3. Polnisch, 4. Englisch, 5. Deutsch) verweisen schon an der Eingangstür der Bank auf das Sicherungssystem „Skorpion“. Jegliche Penetranz in Bezug auf die Automatenhülle beantwortet das System mit einer chemikalisch verursachten Selbstzerstörung der Bargeldvorräte.

Wie es aussieht, kommt man den Zusammenhängen des weltweiten Geldkreislaufes zumindest mit dieser Methode also nicht wirklich auf die Spur. Oder glauben Sie etwa, dass jemand versucht hat, die Außenhülle der Lehman Brothers oder jene von Herrn Ackermann mit einem spitzen Gegenstand zu bearbeiten und dann folgte eines auf das andere?

Mein Freund hat nun beschlossen, sich den Widrigkeiten dieses Kreislaufes fürderhin völlig zu entziehen. „Bevor ich jetzt darauf angewiesen bin, dass mir Angela Merkel einen Regenschirm überspannt, kümmere ich mich lieber selbst um mein Kapital“, sagte er. „Mach’s doch einfach wie ich, immer schön im Minus bleiben, dann passiert auch nichts“, antwortete ich, woraufhin ich „naiv“ gescholten wurde.

Kurz darauf sah ich ihn mit Regenmantel und Spaten bewaffnet in Richtung Garten verschwinden. Ich ahnte dunkel, was er vorhatte, und sammelte rasch alles an Klein- und Wechselgeld ein, das ich noch in den Taschen hatte bzw. in einem überquellenden Behälter neben der Waschmaschine gesammelt hatte, und folgte ihm in die Dunkelheit. Wo das Geld herkommt und wohin es verschwindet, ist jetzt also zumindest in diesem Fall geklärt. Aber glauben Sie ja nicht, dass ich Ihnen die Stelle verrate. Und auch wenn Sie den ganzen Garten aufbaggern: Der Aufbewahrungsort ist mit „Skorpion“ gesichert. Ätsch!

Kolumne 39

21.10.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Außerplanmäßiger Halt

Kein Mensch will mehr Horrorgeschichten über die Bahn lesen. Aber kennen Sie die schon?

Das Reisen ist ja schon lange jeglicher Luxuriösität entkleidet. Dann jedenfalls, wenn man nicht gerade mit dem Privatjet, der Queen Mary oder dem Orientexpress unterwegs ist. Ob Billig-Carrier oder ICE-Großraumabteil – kein Glamour. Die profanste Art des sich Voranbewegens ist jedoch der RE. Der Regionalexpress, landläufig auch als Bauern-TGV bezeichnet.

In einem solchen bereiste ich kürzlich die südwestdeutschen Gefilde – leider ohne meinen Freund, der gerade eine Phase von kombinierter Flug-, Bahn- und Autobahnangst durchlebt. Wobei man sagen muss, dass er diese Ängste völlig zu Recht hat.

Flugzeuge haben gerne mal ein Problem mit Landeklappen, Fahrgestellen und Passagieren, die ein meinungsbildendes Anliegen haben und zu diesem Zweck Sprengstoff oder zu Übergriffen geeignete Werkzeuge mit sich führen.

Deutsche Autobahnen sind Hochgeschwindigkeits-Achsen des Terrors, Todeszonen. Im ICE laufen die Achsen heiß und schon eine Schafherde mit nur fünf Teilnehmern kann ihn aus dem Gleis springen lassen.

Aber der Regionalexpress ist das Schlimmste. Meiner hatte zum Beispiel einen „außerplanmäßigen Halt“ an einem S-Bahnhof bei Frankfurt am Main. Als einige Passagiere und ich das fünfzehnminütige Zeitfenster nutzten, um eine verbotene Zigarette zu rauchen – zwar außerhalb des Nichtraucherzugs, aber doch noch mitten auf einem von allen Menschen verlassenen Nichtraucherbahnhof – weigerte sich die Zugbesatzung, ihre Pforten wieder zu öffnen. Der Lokführer wurde von uns Ausgeschlossenen zwar umringt und bedrängt, fuhr dann aber trotzdem einfach weiter. Ohne uns, aber dafür mit unserem Gepäck. Da guckten wir aber schön aus der Wäsche, einer blöder als der andere.

Ich reiste dem Zug hinterher, ließ ihn anfunken, benachrichtigte sämtliche Bahnhöfe des Südwestens. Konsultierte Hotlines und Service Points, füllte Formulare aus, fluchte und heulte, wurde aschfahl und grün, trank zehn Kaffee TOGO für 3,50 Euro an Bahnhofskiosken und rauchte eine Big Box in den mit gelben Linien gekennzeichneten Raucherbereichen der Deutschen Bahn AG, also jenem Unternehmen, das sich, wenn es nach seinem Chef gegangen wäre, just gerade jetzt in Luft aufgelöst hätte wie ein sinnlos durchgezogener Glimmstengel. Es nützte alles nichts. Wahrscheinlich wurde meine Reisetasche vom SEK gesprengt oder so was. Herrenloses Gepäck – wie gerne hätte mich seiner angenommen, wenn man mich doch nur gelassen hätte. Nun ist es wohl verraucht.

Ich kam dann doch irgendwann am Ziel an – bei meinen Eltern. Und natürlich wäre mein Vater nicht mein Vater, wenn er nicht genau diesen Satz zur Begrüßung gesagt hätte: „Ich habe dir doch gesagt, dass es besser wäre, wenn du mit dem Rauchen aufhörst!“

Der Rückweg war dann erst recht verqualmt. Tonnen von Kerosin wurden sinnlos in die Luft geblasen, weil ich aus lauter Frust einen Nichtraucher-Inlandsflug genommen hatte, der nicht nur halb so billig wie die Bahn war, sondern darüber hinaus auch mich selbst anstatt nur meines (nagelneuen) Gepäcks transportierte.

Ich sage Ihnen: Das Beste am Reisen ist das Wieder-nach-Hause-Kommen. Als ich endlich wieder in der kleinen Ackerbürgerstadt angekommen war, freute ich mich unendlich auf ein schönes Glas Wein mit meinem Freund. Unsere vertraute Ernie-und-Bert-Situation: Bert sitzt im Sessel, Ernie kommt mit irrem Blick und Ringelpullover reingescheppert und hat wieder lauter Sachen erlebt: „Das glaubst du nicht, was ich dir zu erzählen habe, das glaubst du nicht“, sagte ich mit irrem Blick und bekleidet mit einem Ringelpullover aus den Beständen meines Vaters, circa Mitte der Achtziger.

Vorher wollte ich noch eine rauchen und ging zu diesem Zweck brav vor die Tür. Fantasierte von Raucherabteilen im Orientexpress, Raucherflügen von Pan Am. Und als ich reinwollte, hatte mein Freund die Tür abgeschlossen. Bei welcher Service-Hotline ruft man da an?

Kolumne 38

4.10.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Allein unter Heteros: Schwitzen im Sitzen

Wellness am Tag der Deutschen Einheit – es wächst dann zusammen, was zusammengehört

Wenn Ostdeutsche nicht gerade nackt an der Ostsee herumliegen, gehen sie in die Sauna. Da mein Freund jedoch in seinem früheren Leben als DDR-Bürger in einer solchen tätig war, geht er nicht mehr hin: „Du warst im Solebecken?!? Da wird doch nie das Wasser gewechselt…“

Woher soll man das wissen? Woher bitte?

Ich war schließlich noch nie in einer brandenburgischen „Saunalandschaft“, wie das im Jahre 19 der Wiedervereinigung jetzt heißt. Und apropos zusammen: unter anderem eben nicht, weil mein Freund ja nicht mitgehen will, musste ich halt auf eigene Faust los.

Allein unter Hetero-Ossis. Ohne Scout, ohne Gewährsmann, Anwalt, Rechtfertigung, Übersetzer.

Und ja: In der „Saunalandschaft“ ist es wie in einem anderen Land. Es fängt schon mit der Begrüßung an. Man bekommt zwar an der Kasse zur Begrüßung kein Geld (und muss, wie überall auch, welches abgeben), wird aber im Folgenden von allen begrüßt. In der Umkleidekabine, im Solebecken und in jeder einzelnen Saunakammer. Bei insgesamt fünf verschiedenen Kammern und geschätzten 20 Gästen kam ich in den eineinhalb Stunden meines Aufenthaltes auf gefühlte 42 Begrüßungen, wenn auch ohne den landesüblichen Handschlag, was wohl der unüblichen Hitze und der damit verbundenen Feuchtigkeitsentwicklung auf den Handflächen zusammenhängt.

Selbstverständlich weiß man in den Saunalandschaften östlich der Elbe mit dem Begriff „Textilsauna“ nichts anzufangen. So etwas ist was für verklemmte Wessis – ein Zustand innerer, religiös motivierter Schamigkeit, der mir von ostdeutschen Freunden quasi per Exorzismus ausgetrieben wurde, mittels angeleitetem Nacktbaden in besagter Ostsee, irgendwann Mitte der Neunziger, also noch vor der Einführung von Textil- und Hundestränden auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.

So weit, so gut. In diesem Punkt habe ich mein Schamgefühl nun wirklich verloren, was laut Sigmund Freud ja bereits die erste Stufe zum Wahnsinn ist. Die zweite schien mir jedoch aufgrund eines ganz anderen Zusammenhangs plötzlich nah. Der offizielle Kontext, Sauna im Gewerbegebiet einer ostdeutschen Kleinstadt, stimmte nicht mit den mich umgebenden Menschen überein.

Entkleidete Brandenburger Männer jungen und mittleren Alters sehen nämlich genauso aus wie Mainstream-Homosexuelle aus den Neunzigern: Enthaart, Ganzkörper-solariumgebräunt, leicht bis stark aufgepumpt, Tatoo, Piercing, gezupfte Augenbrauen. So was kann leicht zu Missverständnissen führen, und am Ende hat man ein blaues Auge.

Allein unter Heteros. Allein unter Ossis – das Schöne daran ist, das aufgrund des informellen Schweigegebotes in der Saunalandschaft niemand nichts Genaues weiß: Wer ist hier Ossi, wer Wessi? Wer schwul und wer hetero? Klar ist nur, dass man gemeinsam im Sitzen schwitzt – oder eben im, angeblich verunreinigten, Solebecken liegt.

Was uns zum Tag der Deutschen Einheit führt: Wir sitzen ja nun, Ost und West, schon länger gemeinsam in der Wanne. Und ja, vielleicht könnte man das Wasser mal wieder reinigen. Aber nackend sehen die Menschen nun mal schon ziemlich gleich aus, gemäß der alten Angstbewältigungsstrategie: Stell dir deinen Feind einfach in Unterhosen/nackt vor.

Also stellen wir uns doch zum Tag der Deutschen Einheit einfach mal vor, dass wir alle gemeinsam in der Saunalandschaft Deutschland stehen und die Nationalhymne singen, brüh im Glanze und so.

Mein Freund fragte mich – wegen dieser meiner Gedanken zum Tag der Deutschen Einheit – dann abends erst mal, ob ich mein Hirn womöglich zu lange in der Dampfsauna hatte garen lassen. So ist das mit der deutschen Einheit: Man redet aneinander vorbei. Steht man ganz alleine in der Saunalandschaft und dünstet im eigenen Vorurteil vor sich hin. „Die“ und „Wir“.

Antwortete ich also: „Du und ich – nächste Woche mal gemeinsam in die Sauna?“

Kolumne 37

16.9.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Die pistazienfarbene Wanderdüne

Mit einer Bayerin auf Schleichfahrt durch Mark und Uckermark: Der lange, lange Weg ist dann wohl das Ziel

Für die einen sind brandenburgische Alleen eine Todesfalle, für die anderen eine Touristenattraktion. Als wir jüngst Besuch aus Bayern hatten, vermieden wir Ersteres, indem wir konsequent nur Tempo 60 fuhren, und griffen auf Zweiteres zurück, weil sonst gerade nichts los war in Brandenburg: Wir machten einen Ausflug in das uckermärkische Templin – wobei man in Anbetracht der Benzinpreise genauso gut eine Kreuzfahrt nach St. Petersburg hätte anbieten können.

Templin in McPomm ist die „Perle der Uckermark“, es gibt dort eine Naturtherme (nur am Wochenende), Angela Merkel und eine Stadtmauer. Weil niemand Badesachen dabeihatte und die Bundeskanzlerin immer noch auf Bildungsreise ist, besichtigten wir die Stadtmauer und tranken anschließend Kaffee am Marktplatz. Latte macchiato gab es dort auf Nachfrage ausschließlich im vorschriftsmäßigen Glas und keineswegs in einer Tasse, weshalb unser Gast auf Milchkaffee zurückgreifen musste. Das sind dann so die innerdeutschen Probleme.

Wir haben nun mal kein Neuschwanstein, keine merkwürdig übersatt grün wirkenden Wiesen und auch keine Postkartenkühe zu bieten bei uns in Brandenburg. „Irgendwie kriegt mich diese Ex-DDR“, sagte unsere Besucherin, während ich im Rückspiegel nervös die immer länger werdende, überholbereit drängelnde Autoschlange beobachtete, „das ist hier so deprimierend.“ Die Laune der Eingeborenen wird natürlich auch nicht besser, wenn sie stundenlang hinter einer pistaziengrünen Wanderdüne mit Erdinger Kennzeichen herschleichen müssen. Man denkt dann unwillkürlich an Reformstau und hat keinen Blick mehr für den Aufschwung Ost. Grau in Grau wird nicht schöner, wenn man zwangsweise zur Entdeckung der Langsamkeit verdonnert wird.

Einmal Templin sehen und sterben. Was für ein Schicksal. Wir traten den Rückweg an, „der Weg ist das Ziel“ sagte die Automobilistin, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass sie sowieso lieber in die Stadt Brandenburg gefahren wäre, um den dortigen Backsteindom zu besichtigen. „Christentum und Frömmelei hast du doch in Bayern zur Genüge“, konterte ich. Mein Freund war auf dem Rücksitz längst eingeschlafen.

Aber sie hatte ja recht, man muss seinem Besuch auch was bieten. Honeckers Atombunker? Das Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen? Angela Merkels Datsche bei Templin?

Stattdessen krochen wir durch graue Dörfer und Kleinstädte, sahen reihenweise SPD-Wahlplakate – „Die Uckermark im Herzen“ –, auf denen der Traum vom Arbeiter-und-Bauern-Staat dann doch noch wahr wird: Ein blondes Mädchen mit Kornblumenstrauß posiert vor einem montierten Ensemble aus idyllischer Landwirtschaft und stahlglänzender Industrieagglomeration. Die FDP ist in quietschendem, aber wenigstens buntem Gelb angeblich „Stark vor Ort“. Grünes sah man nur in Form von Wiesen, dafür jede Menge braune Kandidaten an Laternenpfählen und Zäunen.

„Gibt es so was in Bayern eigentlich auch, oder wählt man dort sowieso immer nur die eine Partei?“, fragte ich deprimiert und bekam nur ein genervtes Augenrollen zurück.

Ja, manchmal kriegt sie einen schon, die Ex-DDR, besonders wenn die Sonne nicht scheint. Träumte stattdessen einen Tagtraum von einem Gegenbesuch in Bayern, der mir in diesem Moment mindestens so exotisch erschien wie ein Kurztrip nach Dubai. Urlaub bei den satten bayerischen Mittelstandscheichs, das wäre mal eine vorrübergehende Entlastung.

Auto um Auto, einer nach dem anderen, nutzte die Gelegenheit, uns zu überholen. Ich überlegte schon, ob ich uns bei Antenne Brandenburg telefonisch als Verkehrshindernis anmelden sollte. „Sag mal, warum kriechst du eigentlich so?“, fragte ich die bayerische Automobilistin. „Weil ich das so mit ihr abgesprochen habe“, antwortete mein generell beförderungsphober Freund von der Rückbank.

Jetzt verstehe ich, warum sich die Brandenburger Jugend so gerne totrast. Aus Langeweile.

Kolumne 36

3.9.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Krieg, so kalt wie die Küche

Kein Heizvorgang ohne Erwägung von Nato-Interessen. Doch mein Freund vermisst die Russen

Wenn man in diesen Tagen friert, weil es ein Problem mit der Heizung gibt, ist man gedanklich recht schnell bei geostrategischen Überlegungen angelangt. So wie neulich an einem doch recht kühlen, verregneten, nur angeblich sommerlichen Abend auf dem Lande.

Gut nur, dass wir dank Holzvergaser-Heizung auf die Russen nur in Fragen des Kochens angewiesen sind – kann man für den Gasherd eigentlich auch auf Biogas aus heimischen Anbau umsteigen?

Mein Freund hat jedenfalls keine Angst vor den Russen, auch wenn der Botschafter in der ZDF-Live-Schalte noch so streng dreinblickt. Im Gegenteil hat er als gelernter DDR-Bürger und Mitglied des Warschauer Paktes nur die besten Erinnerungen an die ehemaligen (Zwangs-)Gesandten des sozialistischen großen Bruders. Als Jugendlicher hatte er die Soldaten immer im Wald besucht, wenn sie dort am abendlichen Feuer Kartoffeln geröstet und Wodka getrunken haben. Er war in diesen Runden mit ihren traurigen Liedern immer willkommen und hat auch stets eine Kartoffel abbekommen.

„So so, Kartoffeln und traurige Lieder, mein Lieber, wenn es dabei mal geblieben ist…!“, sagte ich mahnend und baute mich zu voller Nato-Größe vor ihm auf: „Und was war mit den MIGs, die hier ständig ohrenzerfetzend über die Heide gebrettert sind, mit den Panzern, die eure sowieso maroden Straßen ruiniert haben? Du tust ja so, als sei hier eine Art riesiger Don-Kosaken-Chor zu Besuch gewesen.“ Was ihn trotz meines zwar atomar gemeinten, aber wohl doch eher konventionell rüberkommenden Abschreckungspotenzials nicht sonderlich zu schrecken schien: „Na, du bist doch nur eifersüchtig!“ Da konnte ich ja nur lachen, stand doch im Bundesländchen meiner Herkunft, Rheinland-Pfalz, hinter jedem Baum ein Soldat der brüderlich verbündeten Streitkräfte: Franzosen, die an den Wochenenden mit Adidas-Trainingsanzügen durch das kleinstädtische Nachtleben liefen, und Amerikaner, deren größte Freude darin bestand, einmal im Jahr beim Weinfest Karussell zu fahren. Es gab in meiner Heimat eine „Black Forrest Clock Factory“ und am Wochenende in der Bauern-Disse kam regelmäßig die Military-Police mit Fahrzeugen, die aussahen wie bei „Starsky & Hutch“. Zugegeben: Im Wald gegrillt wurde eher nicht.

Wir kamen ins Erzählen: Dort, wo einst die Russen waren, kann man jetzt Pilze pflücken, alle weg. Aber als ich vor zwei Wochen meine Eltern besuchte – zum Weinfest versammelte sich die in alle Herrgottswinkel verstreute Familie –, waren die Amis noch immer da. Doch erst jetzt bemerkte ich, wie verdammt knalljung all diese Männer, und heute auch verstärkt Frauen, sind, die mir damals so erwachsen vorkamen. Eigentlich noch Kinder – und zum Teil mit Narben an den Unterarmen, die bestimmt nicht daher rühren, dass sie von der Schaukel gefallen sind. Sie standen in großen Trauben beim Auto-Scooter und verschlangen Zuckerwatte, als ob sie morgen schulfrei hätten und nicht demnächst wieder von alten Leuten an die Front geschickt würden.

Die Jets fliegen dort immer noch, aber lange nicht mehr so tief wie seinerzeit. Die Sirenen heulen am Samstag nicht mehr zum Probealarm, aber in der nahen US-Air-Base Büschel lagern sogar noch Atombomben.

Wir gingen trotz des kühlen Wetters noch ein wenig spazieren, zum „Russenhafen“ am See, dort war früher ein Treibstofflager der Roten Armee. Die Abendsonne brach dann doch durch, aber wir waren ganz allein, weil alle anderen Menschen Brandenburgs zu Hause geblieben waren. Konnten wir uns also unbesorgt in den Arm nehmen: „Mensch, wenn ich dich früher schon gekannt hätte, dann hätte ich dir immer Westpakete geschickt“, sagte ich zu meinem Freund. „Ja, darüber hätte ich mich gefreut – aber vielleicht würden wir uns dann heute auch nicht mehr kennen“, antwortete er.

Der Kalte Krieg ist vorbei. Und wir beschlossen, diesen Abend unter ein Motto zu stellen, das in dieser Zeit entstanden ist und immer noch aktuell ist: „Make love, not war“.

Kolumne 35

5.8.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Wo die Neurosen brüllend blühen

Warum nicht mal einen kurzen Urlaub in der Großstadt machen – wenn da bloß nicht so viel Natur wäre!

Wenn im Moment schon alle Urlaub machen – der Deutschen liebstes Urlaubsziel in Zeiten angedrohter Rezession ist ja die mannigfaltige deutsche Provinz, obwohl die viel teurer ist als Antalya – dann können wir ja mal ein wenig Urlaub in der Großstadt machen. Dachte sich zumindest mein Freund, der Berlin auch mal wieder in anderem Lichte als dem des grauen Alltags sehen wollte.

Er machte sich also fein für den Asphaltdschungel und drängelte zur Abfahrt: Mr. Deeds fährt in die Stadt! Das ganze Programm sollte es sein. Flanieren, Shoppen, Essen gehen, „Nachtleben“. Au weia, das nun auch noch. Wehmütig winkte ich dem Storch auf dem Schornstein, als wir die idyllische kleine Ackerbürgerstadt in Richtung Moloch verließen – wo ich doch gerade herkam. Aus einer Stadt, in der die Mauersegler und Tauben regieren und ihren zahlreichen, in Käfigen eingesperrten Artgenossen von der Sittichfront den Schnabel lang machen.

Die Tauben scheißen da einfach alles voll und leisten somit einen wertvollen Beitrag: Sie beugen der Entfremdung des großstädtischen Menschen von der Natur vor, indem sie ihn an selbige erinnern. Solche Gespräche muss man dann führen, damit mein Freund nicht schon an der Stadtgrenze Herzrasen bekommt – ich kenne ja meine Pappenheimer. Erst in die Stadt wollen und dann wieder an allem rumnörgeln.

Ich ahne immer schon die missbilligenden Blicke, wenn man nur in die Nähe eines jener liebevoll umzäunten Baumgefängnisse kommt, die manchen Straßenrand säumen: „Nun lass sie doch, sie wollen eben auch, dass es mal ein bisschen schön ist, anstatt immer nur auf Hundekot zu starren“, versuche ich ihn zu beruhigen. „Außerdem ist das doch lustig: Da wachsen jetzt Blümchen, und Gartenzwerge gibt es auch!“

Als wir dann endlich einen Platz zum Essen gefunden hatten, der sowohl die Anforderungen eines ordnungsgemäßen Straßenkinos als auch den Erholungsfaktor einer urbanen Parklandschaft mit Wasseranbindung bot – was nun auch nicht leicht zu finden war –, sollte endlich der gemütlich-städtische Teil des Abends beginnen. Wie man das eben so macht: Erst mal eine Unterlage bilden für die alkoholischen Getränke, die da womöglich noch auf einen zukommen.

Als dann der Salat serviert wurde und mein Freund die ersten Bissen zu sich genommen hatte, war allerdings recht bald Schluss mit lustig: „Das ist Unkraut!“, sagte er mit großen, zunächst nur staunenden Augen „das ist genau das Unkraut, das an jedem Dorfbahnhof, an jedem Mülleimer und auf jedem Schutthaufen wächst. Und dafür soll ich fünfzehn Euro zahlen? Jetzt reicht’s aber!“

Ich versuchte ihn noch zu trösten, schließlich ist „Rauke“ ja nur ein Oberbegriff und streng genommen gehört Rucola ja auch zu den Rauke-Gewächsen und dass dies doch auch egal sei und Natur eben Natur … Schluss, aus.

Er wollte zurück, und bevor ich ihn dann wie einen Kampfhund an der Würgeleine von Lokalität zu Lokalität schleife, wo es dann auch keine authentische Natur außer brüllend blühenden Neurosen gibt, haben wir es mit diesem City-Kurztrip belassen. Andere nehmen für so was gleich einen Billigflieger. In der Ackerbürgerstadt angekommen, genossen wir dann das dortige Nachtleben: Wir betrachteten den Sternenhimmel durch einen ganz soften, pflanzlichen Schimmer aus eigenem Anbau.

Schön war das. Und als ich dann am Montag meine Sachen in den Kofferraum packen wollte, um mich den heiteren Beschwinglichkeiten des Arbeitslebens in der Stadt zu widmen, war kein Platz mehr darin. Alles voller grüner Pflanzen, in kleine Bündel zurechtgeschnitten und gebunden.

„Sag mal, Meister: Was soll das denn bitte sein?“, fragte ich den zum Abschied winkbereiten Naturfreund. „Ganz einfach. Die Waschmaschine ist kaputt und wir brauchen eine neue. Die Rauke ist vom Schuttberg und du verkaufst sie jetzt bitte in der Stadt. Für mindestens zehn Euro das Bündel.“

Kolumne 34

23.7.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Die Callas in der Scheune

Brandenburg-Kompatibilität muss kein Problem sein: Alles nur eine Frage der inneren Haltung

Die Liebe meines Lebens ist großartig, aber nicht immer ganz alltagskompatibel. So wie neulich, als wir am Nachmittag zu einem klassischen Konzert im Brandenburgischen eingeladen waren.

Ich kam auf den letzten Drücker aus Berlin und musste meinen Freund mit laufendem Motor und also flüssige Juwelen verdampfend seiner Baustelle entreißen. So sah er dann auch aus, als er endlich neben mir saß, damit wir uns gemeinsam auf der Landstraße verfahren konnten. „Sag mal, wieso hast du eigentlich ein FDJ-Hemd an?“, fragte er mich misstrauisch, als wir die Ackerbürgerstadtgrenze hinter uns gelassen hatten. „Das ist kein FDJ-Hemd, sondern farblich, bitte schön, der letzte Schrei. Außerdem sind wir zu einem Konzert eingeladen und du trägst Flipflops!“ Schweigen. Das mit dem Konzert hatte er mal wieder nicht mitbekommen.

Wir fuhren also vorbei an ostelbisch dimensionierten Golfanlagen, wurden von chromblitzenden Schrankwänden, SUVs, überholt und kamen – nachdem wir dank Navigation meines Mannes schon fast an der Ostsee waren – irgendwann an eine historische Schlaglochpiste, die uns zum Tempel der Kunst führen sollte. Es handelte sich, wie üblich in Brandenburg, um eine Scheune. Das ist so ähnlich wie mit den großstädtischen Kunst-Events in alten Fabrikhallen: Gearbeitet wird hier sowieso nicht mehr, kann man sich auch einfach amüsieren. Und wie! Meinen Freund haute es fast aus seinen Gummi-Pantinen, als die zarte Dame auf der Bühne anhob, um „La Traviata“ raumgreifend und stimmgewaltig unter der offenen Fachwerkdachkonstruktion zu deponieren.

Das Publikum hatte sich chic gemacht und war ergriffen – regelrecht dankbar brandete der Applaus, während man in Berlin schon mal damit rechnen muss, dass bei Nichtgefallen eine leere Flasche Schultheiss auf die Bühne fliegt, symbolisch jedenfalls. Und mein Freund schämte sich noch immer ein wenig für seine despektierliche Kleidung: „Nur weil wir hier in einer Scheune sind, muss ich ja nicht unbedingt so rumlaufen“, klagte er, während ich mich wunderte, dass mir die Leute ständig auf den rechten Arm schauten. „Ha, die gucken bloß, wo das gelbe FDJ-Sonnenemblem abgeblieben ist“, freute er sich. „Na, pass du bloß auf, Freund. Wenn wir zu Hause sind, setzt es mindestens zwei Stunden Kritik und Selbstkritik!“, drohte ich zurück.

Wir entschieden uns nach Rückkehr in die Ackerbürgerstadt stattdessen für Bekömmlicheres, „Schnitzel Champignons“ bei unseren Wirtinnen. Und als dann um zehn die Tür abgeschlossen und die Aschenbecher auf den Tisch gestellt wurden, saßen wir alle zusammen – inklusive Koch und Servierdame – am runden „Stammtisch“ und erzählten. Was für Geschichten: Damals, als man den blutjungen Rotarmisten auf seinem Posten mit Wodka abgefüllt und ihm einige dreiste Burschen die Kalaschnikow abgenommen hatten. Da war aber was los. Er hatte gezittert vor Kälte und geweint vor Angst, „Sibir! Sibir!“. Da hatten sie ihm rasch Leberwurststullen gemacht und ihn mit Kaffee ernüchtert. Das Gewehr wurde mit vereinten Kräften wieder ausfindig gemacht, und als der junge Mann von seiner Truppe wieder eingesammelt wurde, war er halbwegs nüchtern und im Besitz einer unversehrten Waffe. „Die Russen, das waren doch schließlich auch nur Menschen. Ach Gott, hatten wir damals einen Spaß. Auf den Tischen wurde hier damals getanzt, so war das. Und heute? Da wollen alle plötzlich ganz vornehm sein“, erzählte die Wirtin bei einem Glas Rotwein.

Wir rauchten noch mit dem Koch die ein oder andere Zigarette, der (einzige) Mann vom ackerbürgischen Ordnungsamt war längst zu Bett gegangen und träumte von flächendeckender Parkraumbewirtschaftung. Auch der Brandmeister von der örtlichen Feuerwehr hatte sich schon vor Stunden mit einem Klopfen auf den Tisch verabschiedet. Dann gingen auch der FDJ-Sekretär mit dem blauen Hemd und der Mann mit den Plaste-Tretern nach Hause.

Ganz kompatibel, sowohl miteinander als auch mit dem Brandenburger Alltag.

Kolumne 33

3.7.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

 „Scaloppa Mario“ aus dem Lidl

Auch in Brandenburg ist man Europa zugewandt – doch wenn man nicht aufpasst, sieht man es nur von hinten

Sie müssen nicht glauben, dass wir in Brandenburg uns nur von roh aus dem Sand gescharrtem Spargel, Eberswalder Würsten und Steckrübeneintopf ernähren. Auch wir sind dem Internationalen zugewandt – obwohl am Preußen-Klischee mit den Kartoffeln was dran ist.

Im Ernst: Auch in unserem schönen Ackerbürger-Gemeinwesen gibt es jetzt eine Pizzerei, und auch wir waren dort. Zugegeben, nur weil unsere Wirtinnen uns, ungewöhnlich für einen lauschigen Sommerabend, die Butzenscheiben-Tür vor der Nase zugeschlossen hatten. Und das auch noch ohne Angabe von Gründen – statt „Geschlossener Gesellschaft“ gab es einfach gar keine. Wir bedurften einer Alternative zu „Schnitzel Champignons“. Sie hieß Mario. Der neue Italiener.

Ich musste meinem Freund ausnahmsweise zustimmen, fast jedenfalls: Er war nämlich der Meinung, dass Mario aus Ankara stammt, wobei ich aufgrund des Akzents eher auf Damaskus getippt hätte. Was eigentlich auch egal ist in einer Gegend, in der Döner tendenziell von Vietnamesen gereicht wird und eigentlich alle Menschen, die nicht mit einem im Sandkasten gespielt haben, unter der Rubrik „die Ausländer“ zusammengefasst werden. Sicher war nur, dass es sich bei den „Scaloppa Mario“ um Minutenschnitzel vom benachbarten Lidl handelte. Überbacken mit einer dicken Scheibe Mozarella, übergossen mit roter Soße. Und als Sättigungsbeilage: frittierte (!) Bratkartoffeln! Es sah aus und schmeckte ungefähr so, wie sich ein Student aus Schleswig-Holstein, der erstmals von zu Hause ausgezogen ist und in Potsdam gelandet ist, italienisches Essen vorstellt. Okay irgendwie, aber auch nicht so ganz standfest.

So wie die weißen Plastikstühle, auf denen wir als einzige Gäste Platz genommen hatten. Draußen vor der Tür. An der Hauptstraße. Eingequetscht zwischen zwei parkende Autos. Allein. Mutterseelenallein. Eigentlich beängstigend allein. Eine unheimliche Stille herrschte, kein Auto fuhr vorbei. Nur aus der Gaststätte klang ein leises Wimmern. Amy Winehouse versuchte aus dem Radio heraus Kontakt mit uns aufzunehmen, hörte sich dabei allerdings aufgrund mangelnder Watt-Stärke an, als hätte man ihr ein Kissen aufs Gesicht gedrückt. Als ob sie nicht schon geschunden genug wäre! „Sag mal, findest du das jetzt hier nicht langsam auch ein wenig übertrieben mit der menschenleeren Idylle Brandenburgs?“, fragte ich meinen Freund. Er schwieg, großer, stiller Mann und so. Ein Dornenbusch wehte vorbei. Ein Reh spazierte über den Marktplatz. Nein, es war nichts los an diesem Sonntagabend, wenn überhaupt, dann waren wir die Einzigen, die passiert sind.

Auf dem Heimweg war mein Freund völlig verstört. Er hatte seinen geliebten Wohnort zuvor noch nie aus der Perspektive eines Parkplatzes betrachtet und hatte plötzlich Angst, dass er seine (und unsere, bitte schön!) Zukunft womöglich in einer von allen Menschen verlassenen Geisterstadt angelegt hatte. „Nun steck mal nicht gleich den Kopf in den märkischen Sand – morgen kommen ja vielleicht wieder welche“, versuchte ich ihn aufzumuntern, „außerdem war Mario doch nett!“.

Erst zu Hause vor der Glotze streifte uns dann die Erkenntnis: EM-Endspiel verpasst. Und eines ist nun ganz sicher: Mario ist auf keinen Fall Spanier.