16.11.2017
Martin Reichert Herbstzeitlos
Über Berge mitten ins Leben, mit Mutter und rosa Taschentüchern
Na, hast wohl nichts erlebt?“, fragte gerade der junge Kollege kess, kurz über dreißig und schon mittlere Führungsebene, mit einem Beamtenanwärter zusammen. Bausparer!
Bloß weil man mal kurz darüber nachgrübelt, was man denn dieses Mal Schönes aufschreiben könnte. In meiner Karstadt-Filiale wurde zum Beispiel gerade die Lampenabteilung entrümpelt, und das, was sie an Unglaublichem gefunden haben, verhökern sie jetzt auf Extratischen als „Schnäppchen“.
Man müsste wohl Kunsthistoriker sein, um angemessen beschreiben zu können, was dort an LED-Deckenleuchten und bizarr gebogenen Mehrfachstrahlern zu sehen ist; stattdessen starre ich immer nur fassungslos auf das Angebotene und frage mich, ob so etwas in zwanzig, dreißig Jahren irgendwo ironisch gemeint in die Decken von angesagten Lokalen gedübelt wird.
Was gut zu einem Etablissement namens „Monarch“ in Berlin überleitet, in dem Siebziger- und Achtzigerjahre-Beleuchtungen in den Sichtbeton gedübelt wurden – und zu einem Thema, über das ich leider auch nicht fachkundig schreiben kann, Musik nämlich.
Die Berliner Formation „Mutter“ ist dort aufgetreten, und ich bin hin mit meiner Ex-Mitbewohnerin, und zwar so wie damals in den Neunzigern in irgendeiner Abbruchhaus-Lokalität, an deren genauen Standort wir uns leider überhaupt nicht mehr erinnern können. Das seinerzeit aktuelle Album hieß jedenfalls „Hauptsache, Musik“, und bevor ich noch denken konnte, dass Ü40-Leute hier aber ganz schön überrepräsentiert sind und man dieses Zusammenkommen auch schon mal als Vorbereitungstreffen für spätere Rolling-Stones-Konzerte begreifen könnte, legten sie schon los, und es war so laut, dass ich gar nichts verstehen konnte. Außer, dass dieses eine Lied, ich glaube, das zweite war es, den aktuellen Zustand der Welt in ihrem Wahn sehr gut beschrieben hat. Einfach volle Pulle und laut und immer mehr und dazwischen Rückkopplungspfeifen; also etwa so wie Trump in Asien. Es war jedenfalls toll, auch wenn in meinen Ohren rosa Papiertaschentücher steckten, die ich in Luxemburg aus Langeweile gekauft hatte, aus Lärmschutzgründen.
So viel anderes kann man auch gar nicht machen in Luxemburg außer einkaufen, und wer kein Geld hat, muss halt Taschentücher kaufen im „Copal“-Markt in Wasserbillig, so heißt der Ort an der deutsch-luxemburgischen Grenze tatsächlich.
Gereist bin ich ja auch noch, Herr Kollege, wenn auch nur in die alte Heimat. An der Mosel waren die Weintrauben schon abgeerntet, aber die Blätter waren noch dran und leuchteten golden in der Herbstsonne. Meine Mutter erfreute sich daran, als wir einen Ausflug machten mit dem Auto, die Berge rauf und Berge runter.
Mein Vater aber wollte nicht mit, „habe ich doch alles schon gesehen“ sagte er. Er ist über achtzig Jahre alt.
Und das, dieses Nichterlebenwollen, das hat mich traurig gemacht.