2.9.2015
Martin Reichert Erwachsen
Gnadenbrot ab vierzig
MAG SEIN, DASS DAS ICH NICHT ALTERT. DOCH GILT DIES NICHT FÜR ERMÄSSIGUNGEN UND RABATTE
Boy um die vierzig, jünger aussehend. Dieser Werbetext ist ein Klassiker aus dem Umfeld homosexueller Kontaktanzeigen. Ganz früher gab es diese Anzeigen nur in gedruckter Form, etwa in Stadtmagazinen oder schwul-lesbischen Printerzeugnissen wie der Siegessäule.
Rief man in einem Zustand geistiger Umnachtung bei einem Mitzwanziger an, konnte es passieren, dass ein Herr mit scheppernder Stimme abnahm, der ungefähr so klang wie der Physiklehrer kurz vor der Pensionierung. Später kam das Internet mit Portalen wie homo.net und noch später Gaydar, Gayromeo und Grindr – da wurde es mit der Behauptung „jünger aussehend“ schon schwieriger, weil man entsprechende Fotomaterialien anbei stellen muss. Allerdings muss man das Aufnahmedatum der Fotos nicht mitteilen.
Heute leben wir in einem Zeitalter der völligen Entgrenzung jeglicher Alterskategorien. Neulich wurde ich fast von einem Ü40-Skateboarder umgenietet, und in Berliner Clubs weiß man manchmal nicht, ob es sich bei der coolen Alten am Tresen in Wahrheit um eine Erziehungsberechtigte handelt, die gerade alkoholisiert Verantwortung trägt.
Aber diese Entgrenzung gilt nicht in allen Lebensbereichen. Ich erinnere mich noch gut an das gehässige Lachen der Schwimmbadkassiererin, die mir mitteilte, dass Studentenermäßigungen nurbis 27 gelten. Andere Damen sind in dieser Hinsicht freundlicher, bezeichnen sie doch Herren, die bis an die fünfzig heranreichen, konsequent als „junger Mann“, insbesondere in Berlin. Eine Gipfelpunkt solcher Barmherzigkeit erlebte ich jüngst in der Cafeteria eines hauptstädtischen Universitätsklinikums. Beim Kassieren fragte mich die mütterlich-robuste Frau hinter dem Tresen mit verschwörerischer Miene: „Student?!“; was ich bejahte und so in den Genuss eines Mittagessens, Gulasch mit reichlich Kartoffeln, für 3,50 Euro kam.
Will man sich mit Anfang vierzig um ein Stipendium bewerben oder an einem Austauschprogramm beteiligen, muss man sich unter der Rubrik „Seniorenbildung“ erkundigen, doch in anderen altersrestriktiven Bereichen gibt es immer wieder Schlupflöcher. Nur wenige Tage nach dem Gulasch-Highlight bestritt ich zusammen mit einer vierköpfigen Familie eine innerstädtische Schifffahrt, die für Erwachsene stramme 20 Euro kostet. Der Kassierer, Typ Boy um die vierzig, jünger aussehend und homosexuell, blickte mir tief in die Augen und fragte: „Sicher Student, nicht?“ – was mir einige Euro ersparte.
Was für den einen eine Großzügigkeit, ist des anderen Leid. Als die Mutter das Alter ihrer beiden Töchter verkündete, die Kleine ist drei, die Ältere sechs, insistierte der Kassierer darauf, dass die Älteste höchstens fünf Jahre alt sein könne – was von der Mutter nach einigem Stutzen bejaht wurde und eine Freifahrt bedeutete. Die Älteste aber war gar nicht glücklich. Sie, die immer schon die Jüngste war in ihrem Freundeskreis, wurde eines ganzen Lebensjahres beraubt und brach in Tränen aus. Girl, sechs Jahre, älter aussehend!