Kolumne 21

10.5.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Bis die Gemeindeschwester kommt

Überholen, ohne einzuholen: Das Gesundheitssystem in Brandenburg hat endlich DDR-Niveau erreicht

Am Montagmorgen um halb acht ist das Wochenende endgültig vorbei. Dann nämlich wummert in schönster Regelmäßigkeit die Schwiegermama an die Tür, um mit uns zu frühstücken und uns zu besprechen. Sie hat im Prinzip ein eigenes Kommunikationsmodell entwickelt, das ausschließlich aus einem Sender besteht. Der Sender ist sie selbst, aber man kann ihr einfach nicht böse sein, weil sie das Herz am rechten Fleck hat und immer frische Landeier mitbringt.

Mamas Montagsproblem bestand diesmal darin, dass ihr von der AOK Brandenburg ein „Kur-Plan“ verpasst werden soll und sie nun Angst hatte, von einem Kurschatten zum nächsten gejagt zu werden – ein klarer Rechercheauftrag für den Schwiegersohn. „Kur-Plan“ war auf der AOK-Brandenburg-Seite erst mal nicht zu finden – stattdessen stieß ich auf das User-Forum „Partnerschaft und Sexualität“. Mein lieber Mann, da ist aber was los: „Ich hab eine neue Frage. Ich habe ja schon erwähnt, dass ich schwul bin (bzw. bi) und Sex mit Männern/Jungs praktiziere. Jedoch kam es bisher noch nie richtig zum Analverkehr“ erklärt Patpat, der eindringliche hygienische Bedenken äußerte. Da fällt einem ja erst mal das Brötchen aus dem Gesicht, auch das AOK-Expertenteam verharrte in Sprachlosigkeit, während User Chipmuk wacker zum Klistier riet. Userin Sanchi hingegen hatte schlicht „Schmerzen beim GV“, woraufhin das Expertenteam routiniert einen Abstrich empfahl.

Aber mit Schwiegermama kann man sich über so etwas ganz locker unterhalten, schließlich erzählt sie ja auch ganz ungenant, dass sie gerade beim „Muffenbeschauer“ (pejorativ: Urologe) war und „allet in Ordnung is“. Eine gewisse Bürgertumsferne in Kombination mit Ostsozialisation kann auch mal ganz erfrischend sein, wenn es um sexuelle Belange geht – es ist ihr nämlich auch völlig egal, ob ihr Sohn nun mit einem Mann oder einer Frau zusammen ist.

Umso dringlicher der Wunsch, ihr behilflich zu sein und eine Schneise durch den Dschungel des BRD-Gesundheitssystems zu schlagen. Der „Kur-Plan“ entpuppte sich als „Curaplan“ – ein ambitionös-verschwurbelter Marketingbegriff für ein Programm, das die AOK ihren chronisch kranken Versicherten anbietet. Der Patient soll sich mit seinem Arzt genau absprechen, dieser wiederum „organisiert den Behandlungsverlauf und vereinbart Therapieziele“ in Zusammenarbeit mit weiteren Spezialisten.

Schwiegermama verstand nur Bahnhof – und die AOK hatte da einen Riesenbahnhof veranstaltet, bei dem zumindest in unserer Ackerbürgerstadt keine Züge einfahren werden. In dem Städtchen gibt es nämlich mittlerweile nur noch eine einzige Ärztin, an deren Tür ein Schild mit der Aufschrift „Kann leider keine Patienten mehr aufnehmen“ hängt. Was bestimmt nicht daran liegt, dass sie stundenlang über Curaplänen tüftelt.

Die Dame ist schlichtweg überlastet mit den Malaisen und Wehwehchen der Einheimischen, Hausbesuche sind schon lange nicht mehr möglich, egal ob der Schwiegervater nun ein „schlimmes Bein“ hat oder nicht. Und das nächste Krankenhaus ist in der aufwendig per Bus erreichbaren Kreisstadt gelegen.

In manchen Gegenden Brandenburgs, so auch in der unsrigen, ist man medizinisch am besten beraten, wenn man sich an die Kräutermume vom Waldesrand wendet oder Maria Trebens „Apotheke Gottes“ konsultiert. Mehr so ganzheitlich eben.

Doch nun greift ja das von Greifswalder Wissenschaftlern entwickelte Gemeindeschwester-Modellprojekt „Agnes“: Speziell ausgebildete Krankenschwestern radeln durch ländliche Regionen mit geringer Ärztedichte. In der DDR war das übrigens immer schon so – und die alten Leutchen ohne Internet können ja dann auch Schwester Agnes fragen, wenn sie Schmerzen beim GV haben.

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