14.5.2008
MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER
Out of Ackerbürgerstadt
Brandenburg ist ein Land voller Musik. Manchmal wird es sogar uns zu laut
Wenn man so mitten in der Ackerbürgerstadt wohnt, immerhin 1.500 Einwohner, wird es einem doch ab und an ein bisschen viel mit dem urbanen Treiben.
Als wir neulich im Garten saßen, erklang zum Beispiel in Orchester-Lautstärke „Die Moldau“ aus dem Nachbarhaus. Dagegen wäre auch nichts einzuwenden gewesen, wenn wir keine Ahnung von den näheren Lebensumständen des HiFi-Karajans gehabt hätten. Es handelt sich um einen sehr netten, sensiblen Künstler, der beschlossen hat, sich zu Tode zu trinken. Zudem hatten die Nachbarn von schräg gegenüber in einem Anfall von Ohnmacht und sturem Überlebenswillen beschlossen, dieser Demonstration von Traurigkeit einen akustisch an Badezimmerradios gemahnenden Klangteppich aus fröhlicher Schlagermusik entgegenzuwedeln. Vicky Leandros’ „Glaub mir, ich liebe das Leben“. Man kann es nicht erfinden.
Mag ja sein, dass es in Brandenburg immer weniger Menschen gibt, aber die wenigen verbliebenen tun alles, um sich bemerkbar zu machen – manchmal ist es ein Pfeifen im dunklen Wald, damit man sich nicht so alleine fühlt. Ganz anders wiederum verhält es sich bei den Besuchern aus Berlin, die angeblich aufs Land fahren, um endlich mal Ruhe zu haben. In Wirklichkeit kommen viele von ihnen nur, um endlich mal so richtig Krach machen zu können – bei einem Streifenwagen im Umkreis von 50 Kilometern hat man ja im Vergleich zu Berlin viel Zeit, bis es an der Tür klopft.
So auch beim „Biker-Treffen“. Sicher gibt es auch sensible Krad-Fahrer, die mit ordnungsgemäßen Auspuffanlagen über Land fahren, um bei gelegentlichem Rasten die Vögel zu beobachten und am Denkmal der Schlacht von Fehrbellin klugen Gedanken über Europa zwischen gestern und heute nachhängen. Die Mehrzahl jedoch lässt lieber die Rohre so laut krachen, dass die Störche vom Schornstein fallen. Und wenn die Krümmer abgekühlt sind, rotten sie sich zusammen und hören bei literweise Bier Yes- und Jethro-Tull-Klassiker, live und ohrenbetäubend.
Am nächsten Morgen lagen gleich drei tote Fledermäuse in unserem Garten. Mein Freund vermutet, dass sie an akutem Tinnitus gestorben sind.
Als wir dann später am Rande der Stadt spazieren gingen, um endlich mal abschalten zu können, raunzte ich ihn plötzlich an, dass er doch mal endlich an sein Handy gehen solle – wobei es sich bei dem penetranten Geräusch einfach nur um tatsächliches Vogelgezwitscher gehandelt hatte und nicht um einen polyphonen Klingelton.
Wenn ich ihn nicht hätte, wäre ich wahrscheinlich sowieso schon durchgeknallt, und auch dieses Mal wusste er Rat. Er nahm einen großen, verrosteten Schlüssel vom Bord und wir fuhren weit über Land – raus aus der Ackerbürgerstadt und bis an den Rand eines brandenburgischen Straßendorfes. Dort stand ein Haus, groß und blau. Mein Freund hat eben immer noch eine Ruine in Reserve.
Die bisherige Mieterin hatte die Stille des Straßendorfes nicht mehr ausgehalten und hat in den zersiedelten Westen rübergemacht. Da ist ja immer Hully-Gully – und wir haben jetzt ein Wochenendhaus, um uns von den diversen Urbanitäten zu erholen. Diese Stille!
Als die hier vor Ort recht vital wirkenden Fledermäuse begannen, ihr Nachtwerk zu verrichten und ich mich erstmals zur Ruhe bettete, hallte mein eigener Tinnitus laut wie ein Airbus-Triebwerk – Lärmtraumatisierte können mit Stille nicht mehr umgehen. Doch nach einer Weile vernahm auch ich den Sound des nächtlichen Straßendorfes: Bedeutungsschwer rauschende Linden und ambitionierte Nachtigallen. Klaus Mann geisterte durch meinen Kopf, „Es gibt keine Ruhe, bis zum Schluss“, flüsterte er, und ich sagte zu meinem Freund, dass es so nicht weitergehen könne mit dem Künstler und dem Zu-Tode-Saufen und niemand unternimmt was. Dann kam der Schlaf, und er war so tief, dass sogar die Träume in ihm verborgen blieben.
Am nächsten Morgen knatterten die Rasenmäher der Straßendörfler, als hätte gerade eine Kartbahn eröffnet.