17.7.2013
Martin Reichert Erwachsen
Das Stofftier als moralische Instanz
WAS IST WICHTIGER: EINE PSYCHOANALYSE ODER EIN EIGENHEIM?
Wenn man an einem Sonntagmorgen leicht verkatert aufwacht und der erste Blick besorgt dem Teddybären auf dem Nachttisch gilt, dann stimmt irgendwas nicht.
Aber was?
Irgendwann, nach dem ersten Kaffee, kommt die Erinnerung an das Gespräch aus der letzten Nacht. Ein seriöser Herr, vielleicht Mitte 40, hatte sich am Tresen dazugesellt. Groß und bärtig. Hatte erzählt von seiner Pendelexistenz zwischen London und Berlin; unterwegs in Fragen der Verbandskommunikation. Mal ein Kongress, dann eine Messe. Treffen mit Politkern und Lobbyisten.
Hatte erzählt von seinem Stofftier.
Wirklich? Ja, doch. Er, allein lebend, hat ein Stofftier, das zugleich seine moralische Instanz ist. Es handelt sich um einen Stoffvogel, den er immer dann konsultiert, wenn er sich unsicher ist bei – einsamen – Lebensentscheidungen. Wenn er versucht, sich darüber klar zu werden, welche Dinge er in seinem Leben gerade nicht im Griff hat. Der Vogel blickt streng, seine Augen sind stechend.
Mein Teddybär hingegen sitzt irgendwie schlaff und teilnahmslos auf dem Nachttisch. Seine Augen – es war mir bislang nie aufgefallen – blicken ganz schön unbedarft ins Leere. Etwas Staub hat sich auf seinen Ohren abgesetzt.
Womöglich bin ich irgendwann in meinem Leben falsch abgebogen. Es muss vor über zwanzig Jahren gewesen sein, als ich begonnen hatte, mich emotional von meinem Teddybären abzunabeln. Der kleine Bär mit der eingebauten Spieluhr, den ich mitgenommen hatte in die Welt der Erwachsenen – als halb ironisch gemeintes, regressives Accessoire.
Früher, als Kind, war er wirklich mein Gefährte gewesen, wenn ich nachts im Bett lag. Draußen war das dunkle Nichts der Heimat, und mit etwas Fantasie konnte man sich vorstellen, dass die Abrollgeräusche von der nahen Autobahn eigentlich als Meeresrauschen gemeint waren. Zog ich an dem kleinen Seil am Rücken des Teddybären, ertönte ein leises „Ding, Didi Ding Ding“ – und begleitete mich in den Schlaf.
Sind Stofftiere denn wirklich adäquate Ansprechpartner für erwachsene Herren? Ich versuchte die zaghafte Eröffnung eines Dialogs: „Sag mal, Bär, angeblich braucht man ja Ziele im Leben. Soll ich in den nächsten Jahren in eine Psychoanalyse investieren oder lieber in eine Eigentumswohnung?“ Natürlich schwieg der Bär, aber wie soll er sich auch mit meinen finanziellen Verhältnissen auskennen, wenn er immer nur im Schlafzimmer rumhängt und spätabends fünfzehn Minuten fernsieht – also dann, wenn ich statt an seiner Schnur zu ziehen auf den Knopf der Fernbedienung drücke, um mir noch ein paar Katastrophen und schlechte Nachrichten reinzuziehen, des besseren Tiefschlafs wegen.
Am späteren Nachmittag nahm ich den Bären behutsam auf den Schreibtisch, während ich an meiner Steuererklärung herumfuhrwerkte. Monate zu spät, versteht sich. Säumnisgebühren. Beugehaft. Der Bär, er blickte auf einmal so stechend.