Kolumn 111

26.3.2014

Martin Reichert Erwachsen

Die Frau mit der Topffrisur

KEINE TRANSE, KEIN FAN. DIE ECHTE MATHIEU IST ZU BESUCH IN KLEIN PARIS

Als ich zum ersten Mal in meinem Leben Mireille Mathieu in Bukarest live gesehen habe, saß sie direkt neben mir. Aber diesen Satz müsste man wohl erklären.

Zunächst einmal war Mireille Mathieu nichts als eine typische Kindheitserinnerung der um die 1970 herum Geborenen. Die Familie versammelt sich abends vor dem Fernseher. Mireille kommt im schwarzen Kleid und singt etwas. Manchmal alleine, manchmal mit Peter Alexander. Dann verschwand sie für einige Zeit aus meinem Leben – bis sie auf Umwegen als „Transe“ wieder auftauchte, in diversen Travestie-Shows nämlich. Man kann sie dank Frisur und Mimik mindestens so gut nachahmen wie Cher oder Milva. Die dramatischen Handbewegungen, das Lächeln mit weit aufgerissenem, rot geschminktem Mund. Irgendwann wusste ich gar nicht mehr, ob es diese Frau wirklich gibt. Als dann ein guter Freund fragte, ob ich mit nach Bukarest zu Mireille Mathieu wolle, sagte ich sofort Ja: Weder sie noch ich waren zuvor in Bukarest, und was könnte schräger sein als ein solches Zusammentreffen?

Am Abend des Konzerts schien dann die ganze Stadt aus dem Häuschen zu sein – ein riesiges Polizeiaufgebot. Die Mathieu zu Besuch in Klein Paris – so nannte man die Hauptstadt Rumäniens dereinst, die Kapitale in der Wallachei, gelegen an der Strecke Paris–Istanbul (Orient Express), gebeutelt erst von Erdbeben, später von Ceausescu. Die meisten Besucher an diesem Abend sind mindestens so alt wie die Künstlerin und haben sich in Schale geworfen. Die Karten waren unermesslich teuer – und der Saal, ein riesiger sozialistischer Tempel, bis auf den letzten Platz besetzt.

Rechts neben mir: Mireille Mathieu. Sie trägt ein rotes Kostüm, hohe Schuhe. Sie riecht nach Chanel Nr. 5, die Sassoon-Frisur sitzt. Sie hat ein Gebinde aus rosa Orchideen auf dem Schoß. Muss sie nicht auf die Bühne? Sie kann nicht, sie ist mit der Familie da, ihre Mutter trägt ein dramatisches Kopftuch, die Tochter ein Mireille-Basecap. Und ihr Mann, ein Trumm, versperrt die Sitzreihe.

Dann kommt die tatsächliche Mathieu auf die Bühne. Keine Transe, kein Fan – dem Anschein nach: echt. Im schwarzen Kleid, mit rot geschminkten Lippen. Sie singt. Lieder von Brel und von der Piaf. Sie singt ernsthaft „Akropolis Adieu“. Sie muss wohl wirklich sein.

Das Gesicht sieht aus der Nähe nicht mehr so aus wie auf den Plakaten. Die Stimme ist wiederzuerkennen, aber sie hat an einigen Stellen deutliche Probleme mit den Höhen. Alle verzeihen ihr das. Sie bekommt Blumen. Applaus. Schön, dass es sie noch gibt, die Frau mit der Topffrisur aus dem Farbfernseher.

Am Ende des Konzerts versuche ich ein Foto mit Mireille von nebenan zu bekommen, doch sie entfleucht rasch in Richtung Ausgang – das Gebinde aus Blumen hatte sie nicht überreichen können, ihr Mann saß ja im Weg.

Später, im Hotel, noch eine Zigarette am Fenster. Gegenüber spielt eine Kapelle in die warme Nacht. Und irgendwo hier im Zentrum der Stadt, ganz in der Nähe hört vielleicht gerade Mireille Mathieu zu und fragt sich: Was mache ich eigentlich hier? In Bukarest?

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