Kolumne 124

29.10.2014

Martin Reichert Erwachsen

Werdet nicht wie die Kinder

BESUCH AUS STUTTGART IM ERZIEHUNGSCAMP BERLIN-KREUZBERG

Normalerweise sind es die Kinder, die von den Erwachsenen gemaßregelt werden – aber bei meinem Neffen aus dem Schwabenland verhält es sich genau andersherum. Zu Besuch in Berlin bei seinem Onkel hat er einiges auszusetzen am neuen Standort. Mit meiner Wohnung fängt es schon an, denn die findet er irgendwie „scheiße“, während es „bei ihm“ viel besser sei. Außerdem würde hier geraucht – und das sei ja wohl deutlich zu riechen.

Beim Abendspaziergang in den nahe gelegenen Volkspark Hasenheide ist dann die Hauptstadt an sich dran: „OnkelMartin, warum wohnst du eigentlich in Berlin? Hier liegt doch überall Müll rum!“ In der Tat hatte mein Bruder die Familienkutsche ausgerechnet neben einer Art Müllinstallation geparkt – einem Stromkasten mit einem verrosteten Toaster darob, ergänzt durch gammeligen Hausrat und silberne Farbkleckse. Wie soll man das einem Kind erklären, das quasi auf dem Wertstoffhof groß geworden ist? Soll man eine Ausrede erfinden und behaupten, dass Berlin insgesamt als Wertstoffhof zu betrachten sei, weshalb es eben an jeder Ecke Wertstoff zu besichtigen gäbe? Bei ihm zu Hause sind die Mülleimer ABGESCHLOSSEN – allein schon, um die Nachbarn von ungebetenen müllpolizeilichen Untersuchungen abzuhalten.

In der Hasenheide dann auch noch überall Dealer – zum Glück weiß er gar nicht, was das ist. Die dort im Streichelzoo herumstehenden Kamele kommen erst mal ganz gut an, wenngleich sie ebenfalls als übelriechend eingestuft werden.

Später, in der Kreuzberger Oranienstraße, wird ein fliegender Händler belehrt: Sein Korb mit minderwertigen Backwaren war auf den Boden gefallen. „Das kannste jetzt nicht mehr verkaufen!“, mahnte mein Neffe, der gerade mal in die dritte Klasse geht. Doch natürlich – wo sind wir denn schließlich – sammelte der fliegende Händler seine Ware einfach vom Bürgersteig auf und füllte sie wieder in seinen Korb; nicht ohne wüst, aber unverständlich den strengen kleinen Jungen vom Stuttgarter Ordnungsamt zu beschimpfen. „Immerhin trug er dabei Handschuhe“, hub ich an, den Verkäufer zu verteidigen. Na ja.

Beim Verzehr einer Bio-Apfelsaftschorle vor einem von Schwulen und Lesben besuchten Café fand er dann allerdings seinen Meister, nämlich einen Verkäufer der Obdachlosenzeitung Motz.„Warum bist du denn ganz alleine? Hilft dir denn sonst keiner? Wo ist denn deine Familie?“, fragte er den jungen Mann. Der nun tatsächlich antwortete: „Meine Eltern? Die sind schon vor ewigen Zeiten abgehauen. Weil ich mich nicht benommen habe und nie gemacht habe, was sie sagten.“ Mein Bruder und meine Schwägerin nickten nun ausgesprochen verständnisvoll, während der Zeitungsverkäufer fortfuhr: „Wenn du nicht brav bist, dann endest du auch so wie ich. Dann stehste ganz alleine auf der Straße und musst Zeitungen verkaufen. Und musst Drogen nehmen.“

Das saß. Meinem Neffen hatte es schlicht und einfach die Sprache verschlagen. So viel schwarze Pädagogik wäre im Schwabenland nun wirklich undenkbar. So etwas gibt es nur in Berlin-Kreuzberg.

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