17.5.2010
MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER
Kevin der Frühblüher
AUCH WENN JETZT JA FRÜHLING IST: DAS KLIMA FÜR JUNGE SCHWULE IST GERADE UNGÜNSTIG. NICHT NUR, WEIL ES STÄNDIG REGNET
Neulich sahen mein Mann und ich einen überständigen Frühblüher im brandenburgischen Supermarkt, der noch nicht umgetopft war. Ein junger Mann, der seine Freundin umso heftiger um die Taille fasste, je mehr er mit uns flirtete. Mal sehen, wie lange diese junge Pflanze noch braucht, bis sie dann doch mal aus ihrem Topf herauskommt, dachten wir grinsend.
Der Boden, auf dem er gedeihen könnte, ist ja eigentlich ganz gut bestellt. Sagen wir mal, er ist genau 18 Jahre alt. Dann wurde im Jahr seiner Geburt, 1992, Homosexualität erstmals nicht mehr im ICD-Katalog der WHO als Krankheit aufgeführt. Zwei Jahre später wurde der Paragraf 175 endgültig aus dem Gesetzbuch der BRD gestrichen. Zu diesem Zeitpunkt war ich 19 Jahre alt und keineswegs so weit, aus meinem Topf zu kommen. Im Gegenteil: Ich umfasste lieber die Taille meiner Freundin, deren bloße Existenz mir bewies, dass ich am sicheren, nämlich richtigen Ufer stand, und nicht etwa am anderen.
Wir machten uns bei der Heimfahrt Gedanken, warum sich noch immer junge Männer an den Hüften von jungen Frauen festhalten, obwohl wir das Jahr 2010 schreiben. Klar, die Bewusstwerdung der eigenen Sexualität ist ein Prozess, und manchmal dauert es eben, bis man herausgefunden hat, wen man wirklich begehrt. Aber jetzt, wo sich doch sogar Ricky Martin „bekannt“ hat? Der allerdings vom Alter her der Vater des brandenburgischen Frühblühers sein könnte. Auch ganz schön lange im Topf geblieben.
Ob es wirklich Mut macht, wenn man als junger Mensch sieht, wie ein solches Outing einen weltweiten Medienhype auslöst? Es ist zwar nicht wahrscheinlich, dass er der Regionalzeitung einen Aufmacher wert wäre, wenn – nennen wir ihn ruhig Kevin, da es ja auch um Klischees geht – sich mit seinen 18 Jahren zur gleichgeschlechtlichen Liebe bekennen würde. Regionalzeitungen sind familienfreundlich, daher stehen Homosexualität, Pornografie und andere jugendgefährdende Themen dort meist nicht auf der Agenda. So wie es zum Beispiel im Hotspot-Bereich von McDonald’s aus Gründen ebenjener Familienfreundlichkeit nicht möglich ist, die Website der Siegessäule, einer schwul-lesbischen Stadtzeitung, zu öffnen.
Aber gehen wir davon aus, dass Kevins Eltern keinen Schmutz-&-Schund-Filter in ihrem Heimnetzwerk haben und er freien Zugang. Falls nicht, würde sich Kevins derzeitiges Bild von Homosexualität aus den frei ausgestrahlten Medien formen. Außer Ricky Martin, der sich anlässlich seines Coming-outs sogleich bemüßigt fühlte, sich erstmals splitternackt in einem Promo-Video zu zeigen, wären da im Moment bloß: Kleriker, die im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sagen dürfen, Homosexualität sei eine Sünde. Ich bin aus diesem Grunde nun „bekennender“ Hans-Ulrich-Jörges-Fan, weil der in einer Talkshow zum Thema Missbrauch einen predigenden CDUler als „klebrig“ bezeichnet hat. „Sie klebriger Mensch!“, das muss man sich merken. Das wäre doch mal ein Wort, das man Leuten entgegnen könnte, die einem ihre Ablehnung so offen ins Gesicht sagen. Eigentlich bräuchte man selbst einen Filter, der den ganzen Schmutz & Schund von einem fernhält. Und Kevin erst recht.
Wir hoffen nun, dass er es trotzdem bald schafft mit der Umtopfung. Die nächste Großstadt ist bloß achtzig Kilometer entfernt. Kevin, du machst das!