Kolumne 63

12.7.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Die ganze Welt bloß eine Bühne

GERADE AUF REISEN MUSS MAN IN SO VIELE ROLLEN SCHLÜPFEN, DASS MAN MIT DEM WECHSELN KAUM HINTERHERKOMMT

In meinem alten Jugendzimmer sieht es aus wie früher. Pressspan aus den Achtzigern, und an der Wand hängt noch die Maske aus der Grundschule, schwarz-weiß angemalt und „selbst gebastelt“ seinerzeit, mit feuchten Gipslappen. Sie ist ein Abdruck meines Gesichts im Alter von 6 Jahren – sie passt mit 37 nicht mehr.

Eine Reise durch den Südwesten hat mich hergeführt, zu meinen Eltern, die in der Nähe der Mosel leben. Die Maske passt nicht mehr, aber ich bin nun wieder Kind. Die Rolle: Sohn. Sie ist ungewohnt, aber macht auch vorübergehend frei von Verantwortung, Finanzamt, Konferenzwesen und was sonst noch so als „Ernst des Lebens“ beschrieben wird. Was kann schon passieren, wenn Mutters Kartoffelsalat wie immer schmeckt und das Feuer im Grill genauso prasselt, als hätte es die letzten 30 Jahre nicht gegeben, und Vaters Jacke einen wärmt, nachdem es kühl geworden ist am Abend.

Noch zwei Tage zuvor, in Freiburg, war die Rollenzuschreibung eine andere: Autor bei einer Lesung. Man kann diese Rolle gestalten, auch wenn man gewisse Anforderungen erfüllen muss, wenn Menschen Geld dafür bezahlen, um einem zuzuhören. Man muss keine kunstreligiöse „Krawehl Krawehl“-Performance daraus machen, aber die Grundsituation ist immer gleich: Ein Autor setzt sich an ein Tischchen und hat ein Mikrofon vor dem Gesicht. Das Publikum hört zu, und man ist vorübergehend frei von der Verunsicherung, nicht verstanden zu werden, fremd zu bleiben. Das Lachen, die Reaktionen, all das vermittelt Geborgenheit. Aber nur, wenn es klappt und man nicht ausgebuht wird. Ist aber gut gegangen, sogar ein Text über „Darkrooms“ wurde beklatscht.

Gestern dann wartete eine ganz andere Rolle auf mich, in Stuttgart: Onkel. War das toll, als mein vierjähriger Neffe außer sich vor Freude war, als er endlich seinen Onkel begrüßen konnte, nach so langer Zeit. Und dann sind wir schwimmen gegangen, und ich war sein Held, der ihm zeigt, wie man unter Wasser Handstand machen kann, und ihn auf dem Rücken quer durch das Becken chauffiert. Alles, was man sich so wünscht von einem Onkel, hat er bekommen. Sogar Pommes mit Ketchup und Eis mit Banane und Schoko. 2 Stunden lang nur der nette Onkel sein, das ist die beste aller Rollen: „Ich hab dich lieb, Onkel Martin!“ Dass Onkel Martin schwul ist, ist ihm total egal.

Aber war da nicht noch eine andere Rolle? Aber ja, die des liebenden und sorgenden Ehemanns. Mein Mann sitzt gerade allein im Lehnsessel auf seiner brandenburgischen Scholle, er konnte leider gar nicht mitfahren. Ich werde nun also alles tun, um auch dieser Rolle gerecht zu werden. Spießbraten aus der Heimat mitbringen, den er so gern isst. Wein kaufen an der Mosel und Mutters Marmeladenregale abräumen.

Und wenn ich wieder nach Hause fahre, zurück in mein richtiges Leben, dann werde ich alles mit ihm teilen. Vor allem die schönen Erlebnisse, die ich auf der Reise hatte – vielleicht ziehe ich dazu einfach eines seiner Hemden an, weil sich das immer so gut anfühlt und auch weil das eben geht, wenn zwei Männer verheiratet sind und die gleiche Größe haben.

Mag auch die Maske aus Kindertagen lange nicht mehr passen – ich brauche ja gar keine. Wer alle seine Rollen gut spielt, der braucht sich nicht zu verstecken. Auch völlig nackt ist man am Ende nur man selbst.

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