15.1.2014
Martin Reichert Erwachsen
Kriegt den Ball nicht ins Tor
DIE WELT DES SPORTS IST EINE NIE VERSIEGENDE QUELLE DER MISSVERSTÄNDNISSE. ALS MANN FÜR DEN SPORTCRACK SCHWÄRMEN? EINE KRUDE IDEE
Zum Coming-out gab es damals keinen Blumenstrauß. Niemand gratulierte mir zu meinem „Mut“, der Bild-Zeitung war es keine Zeile wert und auch der Sprecher der seinerzeitigen Regierung Kohl hüllte sich in Schweigen – es muss wohl damit zu tun gehabt haben, dass ich nicht Fußball spielen kann.
Diese Tatsache hat mit meiner sexuellen Orientierung bei Licht betrachtet nichts zu tun. Mein pädagogisches Umfeld hatte schlicht verabsäumt, mich in Fragen des Ballsports zu instruieren. Meine Fußball-Karriere stand so insgesamt unter einem schlechten Stern: Das erste Spiel meines Lebens fand in der Turnhalle einer Grundschule statt: „So, und jetzt spielen wir eine Runde Fußball“, hatte der Lehrer in seinem viel zu engen Siebziger-Jahre-Adidas Anzug verkündet und alle Jungs hatten ein Leuchten in den Augen. Verteilten sich auf zwei Mannschaften und fingen an, dem Ball hinterherzulaufen. Der Lehrer hatte die Regeln gar nicht erst erklärt, denn alle wussten sowieso, wie es geht. Ich traute mich gar nicht erst zu fragen und landete schließlich auf der Ersatzbank, die ich bis zum Abschluss der 13. Klasse nicht mehr verließ.
Ich zog mich auf die autistische Sportart des Schwimmens zurück und wurde später – es muss eine Art Unfall gewesen sein – Schulbester im 1.000-Meter-Lauf. Woraufhin eines Abends die Sportcracks der Anstalt vor der Haustür meines Elternhauses standen, um mich zum Duell herauszufordern. Meine Mutter beschied den jungen Muskelprotzen freundlich, dass ich „in der Disco“ sei und somit unabkömmlich.
Zwischen mir und der Welt des Sports gab es also immer Missverständnisse. Für einen der Sportcracks entwickelte ich zum Beispiel eine latente Schwärmerei, die auf eine ernsthafte Ebene zu hieven ich nicht einmal im Traum gekommen wäre. Bei so jemandem, so dachte ich, bekommt man höchstens eins auf die Nase. Ein Typ, der seine Wochenenden mit Sportwettkämpfen verbrachte. Der ständig mit anderen Sportjungs abhing. Fußball spielte. Dieses ganze High-School-Ding. Nur bei so jemandem? Ich war ohnehin der festen Überzeugung, das ich der einzige Mensch in der Region war, der überhaupt auf solch krude Ideen kommt. Für einen Kerl schwärmen! Wenn, dann gab es solche Leute in Großstädten. Sie sprachen stark durch die Nase, machten affektierte Handbewegungen und waren auch ansonsten total von einem anderen Stern. Ich wandte mich von dem Sportcrack ab, obwohl er mit mir befreundet sein wollte. Ich konnte das nicht aushalten.
Jahre später traf ich ihn dann wieder. Natürlich. In einer Schwulen-Bar in Berlin-Schöneberg.
In meiner Jugend habe ich insgesamt noch viel mehr verabsäumt als gemeinschaftliches Duschen mit Fußballern. So vieles, dass ich heute, als Erwachsener, meistens nicht darüber nachdenken möchte. Ein Coming-out wie das von Thomas Hitzlsperger wäre damals noch absolut undenkbar gewesen. Aber jetzt ist es endlich so weit. Dafür, lieber Thomas Hitzlsperger, gibt es von mir vierzig weiße Lilien. Auch wenn ich immer noch nicht weiß, was „Abseits“ bedeutet.