Kolumne 94

22.4.2013

Martin Reichert Back on the Scene

Wir Kleinstadt-Cowboys

FAST HÄTTE ICH MICH VON DER AUTOBAHNBRÜCKE GESTÜRZT – DENN ALLES WAR ERLEUCHTET

Driving home for Christmas …; nein, stopp. Falsche Jahreszeit. Es geht eher um Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“, auch wenn das kein Lied ist. Denn: Heute fahre ich dorthin, wo ich mal zu Hause war. In eine kleine Eifelstadt, zu meinen Eltern.

Back on the Scene also, denn zu der Zeit, als ich Abiturient war, gab es dort, in der kleinen Kreisstadt mit 15.000 Einwohnern, ein richtiges NACHTLEBEN. Das war dann so Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger. Late Eighties Underground, Grunge. Traurige Gitarren-Lieder in Zigarettenqualm hören. So was wie „There she goesvon The Las.

Heute, in Berlin, lebe ich im Epizentrum eines gastro-kommerziellen Erlebnisbereiches namens „Kreuzkölln“. Das Leben gestaltet sich dort im Prinzip als Kneipe, im Winter ohne, im Sommer mit Außenbereich. Wenn man nur mal eben Brötchen kaufen will, fühlt sich das schon an wie „ausgehen“.

Das erste Mal ganz allein „ausgehen“, ohne Elternbegleitung; da war ich fünfzehn, und zu trinken gab es einen „Amaretto Apfelsaft“. Es war eine Kneipe, nein, eine BRASSERIE in der Innenstadt, gelegen an der Hauptverkehrsstraße. Dort flanierte man nicht, man fuhr mit dem Auto entlang, ZONE DREISSIG, runtergekurbelte Fenster, laute Musik – diese Leute waren frei, denn sie hatten ein Fahrzeug.

Meinen Führerschein holte ich am Morgen meines 18. Geburtstages ab. Nun konnten wir, die CLIQUE und ich, fahren, wohin wir wollten. In die sechzig Kilometer entfernte Alternativ-Disse, in der immer Dark-Wave gespielt wurde. Endlose Autobahnkilometer. Bergauf, bergab, und immer den Schutzengel dabei. Zu große Eltern-Autos mit zu vielen PS. Zu wenig Fahrpraxis. 180 fahren, 200 fahren. Fliegen.

Es gab auch eine DISCO in der Nachbarstadt, die hieß ausgerechnet U-Bahn. Man hatte dort, im Überlandbus-Kaff, U-Bahn-Abteile nachgebaut. Man hörte The Smiths und nicht Euro-Dance wie in den Großraumdiscos mit Getränkechips und halbem Eintritt für Frauen. Fast war man schon in London. Oder wenigstens Amsterdam. Den Differenzbetrag zwischen einer gewöhnlichen Jeans vom Herrenausstatter und der Levis 501 musste ich selbst bezahlen.

In der Kleinstadt selbst gab es ein Nachtcafé am Markplatz. Dort traf sich die Jeunesse dorée. Man trank einen Milchkaffee, womöglich einen Pastis und wähnte sich am Place de la Bastille. Ab zehn, elf Uhr zog man weiter in eine simple Bier-Eckkneipe, die als Schumann’s Bar herhalten musste, obwohl der Besitzer schlicht Karl-Heinz hieß und einen Schnurrbart trug. Oder hieß er Dieter?

Das Higlight des Abends kam aber erst noch: Der Absturz in einem JAZZ-Laden, in dem es nach Klostein roch und nach Dope, nach nassem Hund – es waren wohl eher ungewaschene Dreadlocks. Kumpelnest 3000, die Halbwelt und die Schwulen musste man sich eben dazudenken.

Aber das war doch egal. Man musste das NACHTLEBEN nehmen, das vorhanden war. Und so haben wir es gemacht: Alles war erleuchtet. Das Weinfest wurde Wiesn – ich glaube, ohne meine lebhafte Fantasie hätte ich mich von der nächsten Autobahnbrücke gestürzt.

Heute gibt es die meisten dieser Läden, in denen ich damals war, nicht mehr. Geschlossen oder verwaist. Dafür gibt es jetzt eine Shisha-Lounge. Da gehe ich auf jeden Fall hin – und stelle mir vor, ich wär in Neukölln.

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