Kolumne 106

18.12.2013

Martin Reichert Erwachsen

In den Fluren singen sacht die Wale

HIER TUMMELN SICH DIE BURNOUT-BEDROHTEN DES MITTELSTANDS: GANZ SCHÖN GRUSELIG, SO EIN WELLNESS-HOTEL

Auf dem Zauberberg der Gegenwart trägt man einen weißen Bademantel, zahlt mit Kreditkarte und schlappt durch die Lobby in Richtung Spa. Hier, im Wellness-Hotel, versammeln sich nicht die Lungenkranken der obersten Kasten, sondern die Burnout-Bedrohten des Mittelstands. Das an der Rezeption ausliegende Gästebuch spricht Bände:

„Ich danke Ihnen für die wundervollen Tage hier in Ihrem Hotel, in denen ich wieder zu mir finden konnte.“ „Es war so schön.“ „Dieser Aufenthalt bei Ihnen hat mich gerettet. Danke.“

Dieser Ort ist keine Klinik und das Personal misst keinen Puls. Es säuselt vielmehr freundlich um einen herum, reicht Frotteehandtücher, die nach Lotusblüte riechen und so groß sind wie ein Jollensegel. In den Fluren singen sacht die Wale, Panflöten tirilieren sogar in der Tiefgarage – und Krach macht nur die Hoteldirektorin, die High Heels trägt und dem Gast ein Glas Sekt reicht mit den Worten: „Gegen Abend soll die Sonne scheinen.“ Ja dann.

Liegt man am Rande des auf 28 Grad geheizten Pools, blickt man in die Dünen. Zu hören ist nur das Gluckern des Wassers, denn niemand käme hier auf die Idee, eine Arschbombe zu machen: Der Informationsschrift des Hotels ist zu entnehmen, dass das Betreten des SPA-Bereichs erst ab 16 Jahren erlaubt ist. Sollte jemand doch auf die Idee kommen, seine Kinder mitzubringen, werden diese in das benachbarte Hotel deportiert, das über einen eigenen Kinderbespaßungsbereich verfügt. Hunde sind ebenfalls nicht erlaubt und müssen auf dem Zimmer verbleiben. „Des Weiteren möchten wir Sie bitten, vom Gebrauch ihrer Mobiltelefone Abstand zu nehmen und möglichst nicht zu rauchen.“

Des Nachts, begraben unter Daunen im King-Size-Bett, stört eigentlich nur die Ostsee, die durch das geöffnete Fenster jahreszeitbedingt etwas lauter rauscht, brandet und dünt als im Sommer. Sicher wird in diesen stürmischen Nächten der Bernstein angeschwemmt, aus dem die Hotel-Alchimisten das heiße Öl bereiten, mit dem man zuvor ausgiebig massiert worden war.

Statt salzarmen Haferschleims wartet am Abend ein Fünf-Gänge-Menü auf die Mühseligen und Beladenen, die nun ihre Bademäntel gegen hochwertige Freizeitkleidung getauscht haben. Man grüßt einander dezent – schließlich saß man eben noch nebeneinander in der Dampfsauna. Das Wellness-Schweigegelübde darf nicht gebrochen werden. Der Hotelpianist gibt erlesene Fahrstuhlmusik zum Besten, während die „Feuilles von der Jakobsmuschel gereicht werden“.

Und dann ertönt der Schrei: „Aaaaaaahhhhhhhhhhhhhhh“. Plötzlich zerreißt der hauchdünne Firniss des Wohlbefindens. Die schmerzerfüllte Klage eines Menschen ist wie ein dunkler Fleck auf dem hellbeigen Klangteppich der postesoterischen Entspannungskultur. Die Gäste sehen einander erschrocken an.

Der Barmann hatte sich bloß einen Korkenzieher in die Hand gerammt. Aber eigentlich war allen sofort klar, dass es Mord gewesen sein musste. Wo, wenn nicht hier? Hoffentlich wird der arme Junge nicht entlassen.

Kolumne 105

4.12.2013

Martin Reichert Erwachsen

Der Weihnachtsmarkt ist wüster

EKSTASE-TOURISTEN IN DER KIEZ-HOMOBAR, AN EINEM STINKLANGWEILIGEN MONTAGABEND

Er kam zielgerichtet auf mich zu, quer durch die Bar, ein Etablissement, das früher zumindest ausschließlich Homosexuellen zugedacht war. Mit Türklingel und Guckloch. Er baute sich vor mir auf – nun gut, er war höchstens 1,70 Meter groß – nahm all seinen Mut zusammen und sagte seinen Satz auf: „Guten Abend. Ich bin Hetero. Und ich brauche Ecstasy.“

Das war nun in jeder Hinsicht beeindruckend. Zunächst fühlte ich mich an einen Ralf-König-Comic aus den Achtzigern erinnert, in dem ein Polit-Homo an einen Eisstand tritt mit den Worten: „Guten Tag, ich bin schwul und hätte gerne zwei Kugeln Vanilleeis.“ Jedenfalls so ähnlich.

Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich diese Droge zuletzt in den Neunzigern konsumiert hätte und ich auch nicht wüsste, ob es in diesem Etablissement jemanden gab, der einen diesbezüglichen Bauchladen mit sich führte – signalisierte aber freundlich, mich zu erkundigen. Fragte das ein oder andere bekannte Gesicht. „Ecstasy? Ach, du liebe Güte.“ Derweil war ein anderer junger Mann aus dem Umfeld des Ekstase-Touristen in Bedrängnis geraten: „Entschuldigung, wo ist hier bitte die Toilette? Ich bin eben aus Versehen im Darkroom gelandet.“

Man hilft natürlich gerne, insbesondere Fremden, die zu Besuch in der Stadt sind. Allmählich fragte ich mich jedoch, warum sich diese Menschen alle ausgerechnet an mich wandten? Entweder ich wirkte auf sie wie ein Drogendealer – oder schlimmer: Wie ein Herbergsvater?

Als ich ihm nicht weiterhelfen konnte, wurde der junge Mann ungehalten: „DAS kannst du mir nicht erzählen. Das IHR hier in diesem Laden abhängt, ohne Drogen zu nehmen. DAS kannst du mir nicht erzählen!!!“ Er ging beleidigt zu seiner Gruppe. Die Homos um uns herum guckten unschuldig. Starrten in in ihre konventionell-alkoholischen Getränke, rauchten. Und schauten wieder gelangweilt zu dem Monitor mit den Pornofilmen. Ein ganz normaler, stinklangweiliger Montagabend in einer Kiez-Homobar.

Aber die Ekstase-Touristen waren wild entschlossen. Wenn man schon mal in Sodom und Gomorrha vorbeischaut, dann muss es doch auch irgendwie krachen? Eine junge Frau aus der Gruppe war in einen goldglänzenden Umhang gewandet, versehen mit einer voluminösen Kapuze. Sie entschied sich für eine Tanzperformance im Stil von Grace Jones, Achtziger. Doch weil sie während des Tanzes ein iPad in den Händen balancierte, auf dem sie herumwischte, wirkte das Ganze irgendwie aktuell. Niemand beachtete sie.

In der Ecke hinten links saß die exilpersische LGBTI-Gruppe und spielte müde Halma. Die Discokugeln drehten sich wie in Zeitlupe. Irgendjemand sollte vielleicht jetzt mal eine wüste Fisting-Session auf dem Tresen veranstalten. Eine Flasche Poppers anzünden. Jemand müsste ausgepeitscht werden. Oder wenigstens Ausdruckstanz zu Marianne Rosenberg aufführen. Herrje, auf jedem Weihnachtsmarkt ist mehr los.

„DAS kannst du mir nicht erzählen!!“, drohte der junge Mann wieder von seinem Tisch herüber. Ich hatte den Eindruck, dass WIR die Reisegruppe irgendwie enttäuscht hatten.

Kolumne 104

20.11.2013

Martin Reichert Erwachsen

Die Tiefkühlwaren der Kindheit

HEIMAT: FÜR DEN EINEN IST SIE EIN AKW, FÜR DEN ANDEREN EINE KLOAKE, ÜBER DER US-KAMPFJETS KREISEN

Wenn jemand Heimweh hat und, sagen wir, ursprünglich aus Bad Segeberg stammt, dann kann er sich einen Beistelltisch von Möbel Kraft kaufen. Ein ziemlich kostspieliger Akt, um ein in der Regel nur kurzzeitig aufwallendes Gefühl zu befrieden. Stammt ein von solchen Emotionen geplagter Mensch aus Bayern und lebt, sagen wir, in Berlin, dann wird er ohne viel Federlesen eines der zahlreichen hauptstädtischen Lokale mit bayerischer Küche aufsuchen. Fischköpfe gehen ins Nordseerestaurant – und so weiter: Fast alle Migranten, ob innerdeutscher oder internationaler Provenienz, verfügen über eine kulinarische Infrastruktur, die ihren Bedarf nach dem Geschmack ihrer Kindheit zu stillen vermag.

Bei mir ist das die Tiefkühlpizza von Dr. Oetker. Das arme Kind, mag nun mancher denken. Richtig ist jedoch, dass sich in meiner Heimatstadt tief im Südwesten der Republik, fast schon in Frankreich, Europas größte „Pizzastraße“ befand und noch immer befindet. Wenn man von einem der umliegenden Berge in die Stadt im Tal hinabschaut, erscheint der Gebäudekomplex gar als architektonisches Zentrum der Region. Heimat, bei anderen ist sie eben ein AKW oder ein Braunkohlekraftwerk.

Die Kindheitserinnerung geht so: An bestimmten Tagen wurden auf dem Firmengelände sogenannte Bruchpizzen verkauft. Einige waren in der Mitte durchgebrochen, bei anderen fehlte ein Eckchen, aber ansonsten war die Qualität uneingeschränkt. Eine Pizza kostete nur 30 Pfennig – und sie schmeckte meinen Brüdern und mir ganz wunderbar, wenn wir abends vom Sport kamen, erschöpft und mit Bärenhunger. Natürlich bedrängten wir unsere Mutter, stets für Nachschub zu sorgen. Und natürlich war die Verabreichung der Bruchpizza kontingentiert, denn Kinder neigen nun mal zum Dauerjunken, wenn man sie nur lässt. Und doch ist diese TK-Pizza eine schöne Trash-Erinnerung, die ich in eine Reihe stellen kann mit der Erfahrung, dass die Wiese mit den vielen Büschen, auf der ich als Kind immer gespielt hatte, früher einmal eine Müllkippe gewesen war. Und der Bach, an dem wir fleißig Dämme bauten, eine Kloake. US-Kampfjets holten mich regelmäßig im Tiefflug von meinem gelben Fahrrad, weil ich so erschrocken war vom plötzlichen Krach. Und im Sommer hatte ich immer schlimme Verbrennungen, weil kleine blonde Jungs gnadenlos „raus an die frische Luft“ sollten, um „Sonne an die Haut zu lassen“.

Heute, als Erwachsener, muss ich also nur zur nächsten Tankstelle gehen, um mir für circa vier Euro ein rundes Stück Kindheit zurückzukaufen, am liebsten in der Version „Salami“. Es ist ein bisschen störend, dass die hier verkauften Produkte unversehrt sind – aber ich könnte ja zur Not einmal mit der Faust darauf schlagen, schon wäre das Ding in der Mitte entzwei. Die Pizza ist noch immer in der gleichen Plastikfolie eingeschweißt – und dann, beim Verzehr vor der Glotze, ist es wieder da: das tolle Gefühl, wenn man sich den Gaumen mit der zu heißen Tomatensoße verbrennt. Früher konnte man sich allerdings keine Kochsendungen mit Sterneköchen dazu anschauen.

Kolumne 103

6.11.2013

Martin Reichert Erwachsen

Die Natur ist nackt

WENN DAS WETTER SCHLECHTER WIRD, MÜSSEN DIE MENSCHEN UM IHR LEBEN SPAZIEREN

Was machen Singles an einem Sonntag, wenn jahreszeitenbedingt auch noch eine „Seasonal Affective Disorder“ ins Haus steht? Am besten das Haus verlassen und in den nächstbesten Park gehen. Mein Lieblingspark in meinem geliebten Berliner Problembezirk bietet allerhand Möglichkeiten, um den eigenen Gemütszustand zu überprüfen – und zu stimulieren.

Fangen wir mit dem Positiven an: Am Hindu-Tempel im Eingangsbereich des Parks tut sich etwas. Seit Jahren steht dort auf einem Schild zu lesen, dass an dieser Stelle ein Tempel errichtet werden soll, doch stets sah man nur vier Betonstelen, eine Art überdimensionierter Carport. Am Sonntag waren zwei oder drei Arbeiter zu sehen, die dort Ytong-Steine stapelten – und wenn man weiß, dass hier Deutschlands zweitgrößter Hindu-Tempel entstehen soll und es sich bei dem Carport lediglich um das Portal dieses Tempels handelt, dann kennt die Hoffnung einen Ort: eine Baustelle.

Geht man die Anhöhe hinauf, passiert man zunächst den arabischstämmigen Dealer-Ring, um sich dann langsam in die schwarzafrikanische Abteilung vorzuarbeiten. „Psst?“. „Tssss-Tsss?“ – „Nein, danke“. Ein verlässliches Ritual.

Melancholisch stimmt das langsam vergilbende Plakat am nahenden Freiluftkino, „Auf Wiedersehen im Sommer 2014“, auf den Holzbänken liegt Laub, die Leinwand ist abmontiert.

Am Kiosk wurde gerade die Glühweinsaison eröffnet. Man erhält ihn in Plastikbechern. Wie immer im Angebot jedoch Krautwurst und Knacker, Torten von der Firma Coppenrath & Wiese sowie diverse preisgünstige Alkoholika, die von den Stammgästen auf den Plastikstühlen vor dem Kiosk konsumiert werden. Einer von ihnen sitzt im Rollstuhl. „Keine Beine und kein Geld, was für ein beschissenes Leben“, sagt er und lächelt dazu. Ein Lächeln, das richtig verstanden sogar Mut machen könnte. Und der Bonus zum Winter, das sind die Sitzkissen, die am Kiosk nun zum Kaffee gereicht werden – niemand soll sich den Arsch abfrieren.

Geht man weiter in Richtung Moschee, passiert man rechter Seite das Revier der Schwulen. In einem kleinen Wäldchen haben sie Trampelpfade angelegt und gehen spazieren. Immer im Kreis. Noch vor Kurzem haben sie hier auf der Wiese in der Sonne gelegen und ihre Studio-Körper präsentiert. Vorbei. Auch sie sind nun dick verpackt und eingeschnürt. Wo werden sie im kalten Winter sein? Ziehen sie wie die Störche in den Süden? Nehmt mich mit.

Man kann in diesem Park einen richtigen kleinen Berg erklimmen, natürlich ist er aus Trümmern errichtet. Während des Aufstiegs kann man sehr gut sehen, wie der Sommer verrottet. Wie sich das leuchtende Grün in welkendes Braun verwandelt. Dürre, wie vertrocknet wirkende Büsche säumen den Weg, und alles was die letzten Monate gnädig den Unrat bedeckte, ist verschwunden.

Oben auf dem Gipfel angekommen, bleibt nur die Erkenntnis: Die Natur ist nackt! Aber was soll’s, ohne die verdammten Blätter an den Bäumen hat man hier oben jetzt wenigstens Fernsicht. Think positive.

Kolumne 102

23.10.2013

Martin Reichert Erwachsen

Penis an der Wand, rote Tische im Café

NICHT NUR BERLIN-TOURISTEN WOLLEN FREILEBENDE SCHWULE GERNE EINFACH, SCHNELL UND SAUBER ALS SOLCHE IDENTIFIZIEREN

Gestern kam es zu einer etwas schrägen Verwechslung im öffentlichen Raum. Ich saß bei schönem Herbstwetter vor dem taz-Café in der Berliner Rudi-Dutschke-Straße. Weil die Redaktion unweit des ehemaligen Grenzübergangs „Checkpoint Charlie“ gelegen ist, promenieren allerhand Touristen vorbei – manche wollen sogar gezielt das taz-Gebäude inspizieren. Es sind „Pimmel-Touristen“, also solche, die das Penis-Relief von Peter Lenk („Pimmel über Berlin“) an der Fassade sehen wollen. Es kann sehr amüsant sein, diese Touristen zu beobachten – besonders drollig: das unbewusste, verunsicherte Sich-in-den-Schritt-Fassen mancher Jungmänner.

Eine solche Gruppe Jungmänner passierte nun das zur Abendzeit recht leere taz-Café, wobei der Anführer mit großer Geste hineinzeigte und erklärte: „Schaut her, Leute, hier sind sie, die Schwulen!“. Mich selbst nahmen sie gar nicht wahr – und drinnen war ja nun niemand. Ich fand keine Erklärung. Lag es daran, dass das taz-Café über rotes Mobiliar verfügt? Kombiniere: Penis an der Wand und rote Tische in der guten Stube = homosexuell?

Nun muss man ja als Angehöriger einer Minderheit stets verständnisvoll mit der Mehrheit umgehen. Die Menschen sind verunsichert. Womöglich haben sie in einem Reiseführer gelesen, dass es in Berlin sehr viele „bekennende Homosexuelle“ gibt, die sich hier in freier Wildbahn bewegen. Die will man dann halt auch mal sehen. Aber wie soll man sie erkennen? Dieses Problem haben nicht nur Touristen, sondern auch Staaten: In Kuwait wird diskutiert, ob man in Zukunft mit Hilfe von medizinischen Untersuchungen feststellen will, ob Einreisende homosexuell sind – um dann deren Einreise zu verhindern. Medizinische Untersuchung? In Nordafrika üblich sind Untersuchungen des Anus, die zwar von der Kenntnis zeugen, dass man selbigen aktiv sexuell nutzen kann, und doch die passive Erkenntnis ignorieren, dass solcherlei Gebrauch keineswegs messbare Spuren hinterlässt.

In Europa ist es nun genau andersherum. Wer einreisen will, muss erst mal beweisen, dasser homosexuell ist. Zumindest wenn man aufgrund seiner Homosexualität Asyl beantragen möchte. In Tschechien konzentriert man sich diesbezüglich auf den Penis. Beim „phallografischen Test“ wird ein Messgerät am Penis des Asylbewerbers befestigt, das während der Vorlage entsprechender Bilder die Anschwellung des Organs misst. In Großbritannien wiederum wird in Zweifelsfällen nach Bild- und Videomaterial gefragt, das eine homosexuelle Orientierung beweisen soll, dem Vorbild der türkischen Armee folgend, die von Wehrdienstverweigerern Aufnahmen fordert, auf denen eindeutig erkennbar wird, dass sie sich penetrieren lassen.

Gut nur, dass man es als „bekennender Homosexueller“ in dieser Hinsicht etwas leichter hat. Wenn unsereins bei jeder Kontaktaufnahme auf aufwendige medizinische Rektaluntersuchungen oder DVD-Austausch angewiesen wäre – oder gar auf stetige Mitnahme phallografischer Elektrogeräte –, wären wir nie so weit gekommen, wie wir heute sind. Wie weit eigentlich?

Kolumne 101

25.9.2013

Martin Reichert Erwachsen

Die Hölle, das sind nicht die anderen

ENDLICH MAL RAUS, ENDLICH MAL RUHE. ABER AUCH IN SCHWEDEN GIBT ES HOCHPROZENTIGES UND HORRORFILME

Du bist noch viel zu jung, um deinen Urlaub in einem Haus im Wald zu verbringen“, beschied mir jüngst die Mutter eines guten Freundes, mit dem ich gerade eine Woche Urlaub gemacht habe. Wir, vier Vierzigjährige, hatten eine Woche in Småland verbracht. In Schweden, dem Sehnsuchtsland der Regressiven und Repressiven. Repressiven? Nun ja: Streng überwachte Tempolimits auf den Straßen. „System Bollagets“, von uns stets als „Alkoholikerfachgeschäft“ bezeichnete Spezial-Stores für Hochprozentiges, also aus schwedischer Sicht alles, was jenseits von 3,5 Prozent Alkohol liegt. Und daneben hyperteurer Tabak natürlich.

Und regressiv? Nun: Bullerbü, Michel aus Lönneberga, Pipi Langstrumpf oder Ronja Räubertochter. In dieser Gegend Schwedens sieht es aus wie im Kinderbuch. Nicht umsonst heißt der Kinderbetreuungsbereich beim Einrichtungshaus Ikea „Småland“.

Ein idealer Ort also für großstadtgeschädigte Vierzigjährige mit Tinnitus. Ewig rauschen in Südschweden nur die Wälder. Und es gibt so wenige Menschen, dass sie einander stets grüßen, wenn sie sich irgendwo in der Einsamkeit begegnen. „Hey, hey“, rufen sie und winken. Schwule gibt es auch keine, oder genauer: Nur einen einzigen im Umkreis von fünfzig Kilometern, wenn das Dating-Portal Grindr recht hat – in der Türkei wurde Grindr gerade von Staats wegen abgeschaltet, um den schändlichen Umtrieben der Bevölkerung Einhalt zu gebieten. In Småland ist das mangels Masse gar nicht nötig.

Ruhe also, nichts als Ruhe. Bäume, Pilze und theoretisch auch Elche. Ansonsten absolute Übersichtlichkeit der Verhältnisse. Die Häuser sind entweder rot oder gelb, man fährt entweder Volvo oder Saab. Herrlich. Und was haben wir aus dem Paradies gemacht?

Nachdem wir die mitgebrachten Alkoholvorräte aufgebracht hatten, also gleich nach dem ersten Abend, landeten wir jeden Tag bei „System Bollaget“, um Unmengen überteuerten Wein zu kaufen. Und Tabakbeutel für zwanzig Euro. In dem von der Welt abgeschiedenen gemieteten Bullerbü-Haus mit den bunten Wänden und den vielen Lampen gab es WLAN, also wurde rund um die Uhr gedaddelt, gefacebooked und gestreamt. Überall Endgeräte, in der Küche, im Wohnzimmer, in den Schlafzimmern. Pling, klick, schwusch, plög, klick, pling.

Auf den einsamen, nicht überwachten Waldstraßen wurde mit dem BMW gerast wie auf der A 2. Einmal, man traut es sich kaum zu sagen, fuhren wir mit dem Auto sogar Pilze suchen. Im Schritttempo über den Waldweg, Fenster runter und stoppten, sobald ein Steinpilz in Sicht war.

Und Pipi Langstrumpf? Von wegen. Allerabends wurden nach dem gemeinsamen Essen die finstersten DVDs angeschaut. Horrorfilme, blutige Krimis, melodramatisch-tragische Homo-Opern mit garantiert unglücklichem Ausgang. Danach kann kein Mensch mehr ruhig schlafen und der dunkle Wald dort draußen vor dem Fenster wird zu einem Hort von Axtmördern und Psychopathen.

Vielleicht waren wir für einen erholsamen Schwedenurlaub noch nicht reif genug.

Kolumne 100

28.8.2013

Martin Reichert Erwachsen

Für immer und Twix

KEINER HAT FÜR NIX GEKÄMPFT – DAS ENDE DER GENERATIONSBRÄSIGKEIT?

Ab wann ist eigentlich der Punkt erreicht, an dem man als Mitglied einer „Generation“ wirklich Verantwortung übernehmen muss für Formen des kollektiven Handelns? „Generationen“, das sind ja, grob gesagt, gesellschaftliche Formationen, die bestimmte kollektive Erlebnisse teilen – in „my Generation“ war das zum Beispiel der Mauerfall. Und das Ende des Kalten Krieges, mit dem ich qua Gnade später Geburt nichts zu tun hatte.

Meine Generation, benannt nach einem Kompaktwagen mit Heckklappe, hat dann zum Beispiel erlebt, dass Raider in Twix umbenannt wurde, und nichts dagegen unternommen. Ist aber ansonsten dabei ganz gut über die Runden gekommen. Sie sitzt nun quasi am Ruder. Die um die 40-Jährigen haben größtenteils Familien gegründet und sitzen mindestens im mittleren Management oder so. Das Land haben sie insofern verändert, als dass es nun überall guten Kaffee gibt, mit Schaum obendrauf. Die Imbiss- und Esskultur ist abwechslungsreicher geworden, und es gibt überall WLAN.

Aber könnte man jetzt behaupten, dass „wir dafür gekämpft“ haben? Wir? Und was ist mit mir, was habe ich so getrieben außer Kaffee trinken? Was zum Beispiel die Homosexuellen angeht, können mir nachfolgende Generationen vorwerfen, dass ich die Homo-Ehe befürwortet habe – allerdings war das nur ein längst auf das Gleis gesetzter Zug, auf den ich draufgesprungen bin, so wie überhaupt fast alle Betten, in denen ich mich herumgelümmelt habe, irgendwie schon gemacht waren. Zumindest kommt es mir so vor.

Wie schafft man es eigentlich, so ein richtig bräsiges, stolzes Generationsbewusstsein zu designen? Was ist los mit „my Generation“, dass sie so gar nicht hagestolz durchs Leben schreitet? Liegt es daran, dass sie die nachfolgenden Generationen mit allgegenwärtigem Epigonentum und Retrowahn so gut in Schach halten kann, dass die erst recht nicht auf die Beine kommen? Es also gar nicht notwendig erscheint, die Nachfolgenden zu maßregeln oder sich gar über sie zu erheben? Zumindest dachte ich das neulich, als ich einer Musikveranstaltung beiwohnte, bei der knalljunge Hipster enthusiasmiert genau jenen Klängen lauschten, die in meiner Abiturzeit hip waren; ganz abgesehen davon, dass mich die Klamotten irgendwie an etwas erinnerten …

Vielleicht muss man das umgekehrt denken. Was haben „uns“ die Jüngeren vorzuwerfen? Den Klimawandel verpennt? Zu viel mit Easy Jet um die Welt gebrettert? Oder, eigentlich noch viel besser als Generalanklage: Neoliberalismus mit tatsächlicher Freiheit verwechselt?

Gut, es liegt natürlich auch daran, das es sich bei den Nachwachsenden noch nicht um die eigenen Kinder handelt – aufgrund des generationell bedingten Spätgebärens gibt es da noch eine Gnadenfrist.

Aber eines fernen Tages wird der Moment kommen, an dem auch WIR merken, dass wir oll und bräsig geworden sind. Dann nämlich, wenn uns folgender Satz über die Lippen kommt: „IHR könnt da gar nicht mitreden, denn IHR wart ja nicht dabei.“

Kolumne 99

14.8.2013

Martin Reichert Erwachsen

Angst. Scham. Ohnmacht

IM KAMPF GEGEN HOMOPHOBIE FÜHREN VERZWEIFLUNG UND RESIGNATION NICHT WEITER – WUT SCHON EHER

Seitdem in Russland von Staats wegen die Treibjagd auf Homosexuelle eröffnet ist, kursieren im Netz Videos, in denen zu sehen ist, wie junge Schwule von Rechtsradikalen gefoltert und gedemütigt werden – und ich bin kaum in der Lage, mir diese Bilder anzuschauen. Nach all den Jahren, in denen ich mich mit dem Thema Homophobie auseinandergesetzt habe, nach all den Geschichten, die ich über schwierige Lebensumstände von Schwulen und Lesben geschrieben habe, fühle ich ich mich ohnmächtiger denn je.

Vielleicht liegt es daran, dass ich vor gut vier Jahren in Moskau war, um eine Reportage über Homosexuelle zu schreiben – und ich damals den Eindruck gewonnen hatte, dass es in Russland eigentlich nur besser werden könne und nicht schlechter. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich den Ausdruck in den Augen der jungen gequälten Männer in den Videos nicht ertrage. Angst und Scham. Ohnmacht.

Sicher. Man könnte sich auf die Plattform der Rationalität zurückziehen und kühl konstatieren, dass sich die psychologischen Zusammenhänge der Homophobie anhand dieses Videomaterials sehr gut darstellen lassen: junge Männer, die anscheinend gemeinsam in eine Flasche urinieren, um diese danach lustvoll über einem anderen jungen Mann ausleeren. Junge Männer, die Jünglingen mit gewaltsamem Analverkehr drohen. Und so weiter.

Und sicher. Wenn sich in Italien ein Vierzehnjähriger aus dem zehnten Stockwerk stürzt, weil er das homophobe Mobbing in der Schule nicht mehr ausgehalten hat – so wie am letzten Wochenende –, dann kann man sich kühlen Kopfes zum hunderttausendsten Mal die Statistik vor Augen halten, dass das Suizidrisiko bei homosexuellen Jugendlichen vier- bis siebenmal so hoch ist wie bei Heterosexuellen, und weiter darauf hoffen, dass schulische Aufklärung irgendwann dafür sorgen wird, das alles besser wird.

Aber müsste man sich als Erwachsener nicht langsam damit abgefunden haben, dass sich bestimmte Dinge nie ändern? Müsste man sich nicht darüber klar werden, dass die Homophobie mit jeder Generation neu erfunden wird und junge Homos es immer und ewig schwerer haben werden als andere? Müsste man nicht einfach mal auf die LeserbriefschreiberInnen hören, die einem ganz ehrlich sagen, dass schwullesbische Themen unwichtig sind und überhaupt „Papierverschwendung“?

Nein, müsste man nicht. Man müsste darauf vertrauen, dass es doch einen gesellschaftlichen Fortschritt gibt. Darauf vertrauen, dass es die Aufgabe der Mehrheit ist, für den Schutz der Minderheiten zu sorgen. Man müsste sich sicher sein, dass Putin diese Schlacht verlieren wird, weil nicht nur Schwule und Lesben selbst gegen staatliche Verfolgung in Russland protestieren werden, sondern auch die internationale Gemeinschaft – Stichwort Olympische Spiele in Sotschi.

Erwachsen ist es wohl, auch Bilder auszuhalten, die einen an die eigenen Ängste und Traumatisierungen der Jugendzeit erinnern. Und zu erkennen, das Verzweiflung und Resignation noch nie weiterführend waren. Wut schon eher.

Kolumne 98

31.7.2013

Martin Reichert Erwachsen

Suche den Herrn, nicht die Herren

PAPST FRANZISKUS UND DIE SCHWULEN

Es steht der Jugend wohlan, am „Weltjugendtag“ zuhauf an die Copacabana zu strömen, um dem heiligen „Papa“ zu huldigen. So wie sie sich auch kreischend vor dem Hotel versammeln, in dem Justin Bieber nächtigt. Begeisterungsfähigkeit gehört zu dieser Phase des Lebens wie straffes Bindegewebe und der Hang zu übersüßten Getränken, die Erwachsenen hingegen – mögen sie auch lediglich der Schotter sein auf den Zukunftspfaden der Jugend – trinken lieber bedacht eine herben Schluck Wein, anstatt mit einem Becher Bubble Tea in der Hand in Euphorie zu versinken.

Genau aus diesem Grund ist nun der Erwachsene gehalten, mit beiden Füßen auf dem Teppich zu bleiben angesichts der neuesten Äußerungen von Papst Franziskus: „Wenn jemand schwul ist und den Herrn sucht und dabei guten Willen beweist, wer bin ich, dass ich richte?“.

Dieser Satz bedeutet nun keineswegs, dass im Vatikan die Regenbogenflagge gehisst wird und Alcopops an Homos verteilt werden, vielmehr bewegt sich auch der jetzige Papst – eigentlich selbstverständlich – auf der ehernen Grundlage des Katechismus.

Nein, Homosexuelle sollen nicht diskriminiert und an den Rand gedrängt werden, auch sie sind ja schließlich Menschen. Nein, nicht die homosexuelle „Neigung“ sei eine Sünde, sondern der homosexuelle Akt an sich. Nichts anderes hatte schon Vorgänger Joseph Ratzinger postuliert, wenn auch in etwas harscherer Form („contra naturam“).

Übersetzt bedeutet dies, dass man sich als Homosexueller nur dann auf der richtigen Seite befindet, wenn man zwar den Herrn sucht, nicht aber Herren, mit denen man sich geschlechtlich auszutauschen wünscht.

Aus der römischen Zentralverwaltung humaner Sexualität also nichts Neues: Geschnackselt werden darf auch zwischen Mann und Frau nur zu Zwecken der Reproduktion. Und selbstverständlich sind, Papst Franziskus erklärte es im selben Atemzug, Frauen auch weiterhin von der Ordination ausgeschlossen. Tür zu, Licht aus.

Falls sich die katholische Kirche eines Tages wirklich zu weitgreifenden Anpassungen an die Moderne entschließen wollte, dann bedürfte es der Einberufung eines Konzils anstatt warmer Worte eines freundlichen alten Herrn. Worte, die so warm dann übrigens gar nicht sind in Bezug auf die Homosexuellen. Garstiges, gieriges, schreckliches „Lobbyingwürden diese betreiben. Spätestens ab diesem Punkt wird deutlich, dass es einfach nichts bringt, an den Weihnachtsmann zu glauben: Homosexuelle sollen also nicht nur auf die Ausübung ihrer Sexualität verzichten, sondern bitte schön auch davon absehen, sich politisch zu organisieren, um für ihre Rechte einzutreten.

Angesichts solch kruder Aussagen in Begeisterung auszubrechen ist ungefähr so sinnvoll wie ein Wutausbruch angesichts des neuesten Bushido-Videos. Warum soll man sich darüber aufregen, wenn der Herr reimt, dass Schwule „in den Arsch gefickt“ werden? Diese Praxis gehört ganz normal zum Alltag vieler schwuler Männer. Als Erwachsener kann man der Realität entspannt ins Auge sehen.

 

Kolumne 97

17.7.2013

Martin Reichert Erwachsen

Das Stofftier als moralische Instanz

WAS IST WICHTIGER: EINE PSYCHOANALYSE ODER EIN EIGENHEIM?

Wenn man an einem Sonntagmorgen leicht verkatert aufwacht und der erste Blick besorgt dem Teddybären auf dem Nachttisch gilt, dann stimmt irgendwas nicht.

Aber was?

Irgendwann, nach dem ersten Kaffee, kommt die Erinnerung an das Gespräch aus der letzten Nacht. Ein seriöser Herr, vielleicht Mitte 40, hatte sich am Tresen dazugesellt. Groß und bärtig. Hatte erzählt von seiner Pendelexistenz zwischen London und Berlin; unterwegs in Fragen der Verbandskommunikation. Mal ein Kongress, dann eine Messe. Treffen mit Politkern und Lobbyisten.

Hatte erzählt von seinem Stofftier.

Wirklich? Ja, doch. Er, allein lebend, hat ein Stofftier, das zugleich seine moralische Instanz ist. Es handelt sich um einen Stoffvogel, den er immer dann konsultiert, wenn er sich unsicher ist bei – einsamen – Lebensentscheidungen. Wenn er versucht, sich darüber klar zu werden, welche Dinge er in seinem Leben gerade nicht im Griff hat. Der Vogel blickt streng, seine Augen sind stechend.

Mein Teddybär hingegen sitzt irgendwie schlaff und teilnahmslos auf dem Nachttisch. Seine Augen – es war mir bislang nie aufgefallen – blicken ganz schön unbedarft ins Leere. Etwas Staub hat sich auf seinen Ohren abgesetzt.

Womöglich bin ich irgendwann in meinem Leben falsch abgebogen. Es muss vor über zwanzig Jahren gewesen sein, als ich begonnen hatte, mich emotional von meinem Teddybären abzunabeln. Der kleine Bär mit der eingebauten Spieluhr, den ich mitgenommen hatte in die Welt der Erwachsenen – als halb ironisch gemeintes, regressives Accessoire.

Früher, als Kind, war er wirklich mein Gefährte gewesen, wenn ich nachts im Bett lag. Draußen war das dunkle Nichts der Heimat, und mit etwas Fantasie konnte man sich vorstellen, dass die Abrollgeräusche von der nahen Autobahn eigentlich als Meeresrauschen gemeint waren. Zog ich an dem kleinen Seil am Rücken des Teddybären, ertönte ein leises „Ding, Didi Ding Ding“ – und begleitete mich in den Schlaf.

Sind Stofftiere denn wirklich adäquate Ansprechpartner für erwachsene Herren? Ich versuchte die zaghafte Eröffnung eines Dialogs: „Sag mal, Bär, angeblich braucht man ja Ziele im Leben. Soll ich in den nächsten Jahren in eine Psychoanalyse investieren oder lieber in eine Eigentumswohnung?“ Natürlich schwieg der Bär, aber wie soll er sich auch mit meinen finanziellen Verhältnissen auskennen, wenn er immer nur im Schlafzimmer rumhängt und spätabends fünfzehn Minuten fernsieht – also dann, wenn ich statt an seiner Schnur zu ziehen auf den Knopf der Fernbedienung drücke, um mir noch ein paar Katastrophen und schlechte Nachrichten reinzuziehen, des besseren Tiefschlafs wegen.

Am späteren Nachmittag nahm ich den Bären behutsam auf den Schreibtisch, während ich an meiner Steuererklärung herumfuhrwerkte. Monate zu spät, versteht sich. Säumnisgebühren. Beugehaft. Der Bär, er blickte auf einmal so stechend.