Kolumne 86

3.9.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Torte, mitten ins Gesicht

Katherina Reiche (CDU) sieht in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften eine Bedrohung für den Deutschen Wohlstand

Eines der Beliebtesten YouTube-Videos von Hape Kerkeling heißt „Schwule im Café“ – darin schlüpft er in die Rolle einer bösartigen, frauenfeindlichen Tunte („Das war ein Sche-herz!“), die im Café Korten Torte einkaufen möchte. Gibt es solche Schwule?

Es gibt sie, so wie es auch Frauen gibt, die Homosexuelle ablehnen. In den späten Siebzigern zum Beispiel stand die amerikanische Sängerin Anita Bryant – ehemalige „Miss Oklahoma“, Werbeträgerin für Orangensaft aus Florida und gläubige Baptistin – an vorderster Front.

Sie erreichte, dass eine 1977 in Florida erlassene Menschenrechtsverordnung, die eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität verbot, zurückgenommen wurde: „Wenn Schwulen Rechte gegeben werden, werden wir als Nächstes Rechte an Prostituierte und an Menschen, die mit Bernhardinern schlafen, geben müssen“, sagte sie seinerzeit. Zudem gründete sie die dem Kindeswohl gewidmete Organisation „Save our Children“, weil sie zu wissen glaubte, „dass Homosexuelle biologisch nicht in der Lage sind, Kinder zu erzeugen; deshalb müssen sie unsere Kinder rekrutieren.“

Daraufhin wurde sie zu einem der ersten Opfer politischer „Tortung“: Während einer Pressekonferenz in Des Moines am 14. Oktober 1977 landete durch die Hand eines Schwulen-Aktivisten eine Bananencremetorte in ihrem Gesicht. „At least it’s a cream iie“, sagte sie noch, bevor sie unter Tränen um Vergebung für den Täter mit dem „teuflischen Lebensstil“ betete. Ebenfalls ein YouTube-Klassiker.

35 Jahre später setzt sich Katherina Reiche, CDU, evangelische Brandenburgerin, bekennende Atomkraftfreundin und Parlamentarische Staatssekretärin in Peter Altmaiers Umweltministerium, in die ZDF-Talkshow „Maybrit Illner“, um ihre zuvor bereits der Bildanvertrauten Argumente auszubreiten: „Unsere Zukunft liegt in der Hand der Familien, nicht in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Neben der Eurokrise ist die demografische Entwicklung die größte Bedrohung unseres Wohlstands.“ Kein „cream pie“ flog in ihr Gesicht, dafür aber ein Facebook-Shitstorm um die Ohren – obwohl sie eigentlich nur Dinge sagte, die auf der Linie ihrer Partei liegen, die sich erst vor Kurzem mehrheitlich gegen die Gleichstellung von Homosexuellen ausgesprochen hat.

35 Jahre später werden in den USA Homosexuelle für den Wahlkampf instrumentalisiert – so wie sie von der CDU/CSU zu Marketingzwecken in Geiselhaft genommen wurden. Doch diese Zeiten scheinen nun vorbei zu sein: Die Schwulen und Lesben in der Union begehren endlich auf. Fraktionskollege Jens Spahn, Mitglied jener „Wilden 13“, die sich für die steuerliche Gleichstellung homosexueller Partnerschaften einsetzen, twitterte, dass er sich von Frau Reiche als „Bedrohung unseres Wohlstands diffamiert“ fühle. Und die Junge Union von Frau Reiches eigenem Wahlkreises in Potsdam attestiert ihr ein mittelalterliches Weltbild.

Frau Reiche braucht keine Torte ins Gesicht, sondern mehr Gespräche über die Relevanz des Grundgesetzes bei Kaffee und Kuchen. Und zwar zusammen mit jenen (konservativen?) Homosexuellen, die sie laut Bild-Interview in ihrem Freundeskreis hat. Breisgauer Boskop-Batzen, Warschauer Granatbrocken-Mürbeteig, tasmanische Tollkirschen-Törtchen …

 

Kolumne 85

6.8.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Zwischen Penetration und Tischgebet

Haben Heterosexuelle auch Sex? Oder machen sie nur Liebe?

Wer weiß schon wirklich, wie er auf andere Menschen wirkt? Man kann in den Spiegel schauen, man kann sich selbst fotografieren oder fotografieren lassen – aber die Bilder, die man in den Köpfen der anderen erzeugt, man wird sie nie zu fassen bekommen. Mann kann sie nur bedingt gestalten, gar manipulieren.

So geht es auch den Homosexuellen: Sie können sich auf den Kopf stellen, eingetragene Lebenspartnerschaften eingehen, kilometerlang im Rahmen von Paraden durch Innenstädte laufen und mit Schlagbohrmaschinen hantieren: Am Ende bleiben meist die Bilder in den Köpfen der Menschen hängen, die den Stereotypen entsprechen.

Wenn Heterosexuelle mit dem Begriff Homosexualität konfrontiert werden, leuchtet in irgendeinem Hirnareal scheinbar automatisch der Begriff Analverkehr auf, gleich im Anschluss werden große Dosen von Stress- und sonstigen Hormonen und körpereigenen Drogen durch die Blutbahn gejagt und lassen den Heterosexuellen in Ambivalenz erschauern: Penetrationen an dunklen, verbotenen Orten. Verschwitzte Leiber winden sich in Orgienkellern. Stöhnen, Schreie. Unsägliches, Verbotenes, Finsteres und Schmutziges findet hinter verschlossenen Türen statt – faszinierend und beängstigend zugleich, doch wer auf Nummer sicher gehen will – weiterhin sicher sein will, das Richtige und Gebotene zu tun, wird nun höchstens kurz erröten und sich dann schamvoll abwenden. In Abwehrhaltung gehen: Diese Türen sollen bitte verschlossen bleiben, denn gleich hinter ihnen könnte sich ein Abgrund auftun, der einen auf direktem Weg in die Hölle führt.

Aber wie ist das eigentlich, wenn Homosexuelle mit Heterosexualität konfrontiert werden? Ich versuche einen kleinen Bilderdurchlauf: Kinder, Kombi und Reihenhaus. Männer, die über Ytong-Steine debattieren, sich mit Sportverletzungen rühmen und im Haushalt helfen, indem sie staubsaugen. Frauen, die liebevoll und nachhaltig im Risotto rühren und stets darauf achten, dass die Blumen im Garten genug Wasser bekommen. Urlaube im vollgedrängten Family-Resort. Bausparverträge und Kita-Rallye. Funktionskleidung und Tischgebete. Vorort-Gartenfeste, bei denen jeder einen Salat mitbringt.

Bei diesen Bildern schlafen einem ja die Füße ein. Null Hormonkick, keine Schweißausbrüche. Fehlt was? Da fehlt was, aber was? Ach ja, klar: Sex! Warum kommen da jetzt überhaupt keine Sex-Bilder? Hallo! Wo kommen denn die Kinder eigentlich her? Ich frage einen heterosexuellen Kollegen. Er sagt: „Wenn man Kinder erzeugt, hat man keinen Geschlechtsverkehr, man macht Liebe.“

Ach so, klar.

Aber in dem Wort Heterosexualität versteckt sich doch auch das Wort Sexualität? Ich versuche es noch einmal mit Gefühl, irgendwas muss da sein: Zwangsprostitution, Vergewaltigung, Blow-Jobs, Swinger-Clubs, Bordelle, Genitalbeschneidung, Gang-Bang. Reeperbahn, Wohnwagen an Ausfallstraßen.

Geht doch.

Aber trotzdem: Irgendwas ist hier verrutscht mit den Bildern. Ich habe nichts gegen Analverkehr, aber ich habe auch eine Regenjacke von Jack Wolfskin im Schrank, gieße regelmäßig meine Blumen auf dem Balkon und kann gut Risotto kochen. Ob die Zeugung von Kindern nicht doch auch mit ungeschütztem Vaginalverkehr zu tun hat?

Kolumne 84

9.7.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Menschen, relativ statisch

Freitagabend einfach nur auf ein Bier treffen? Von wegen einfach – gibt es da doch noch all diese prinzipiellen Fragen

Mit zunehmender Reife wird der Mensch selbstbewusster. Leider, denn aus genau diesem Grunde ist es fast unmöglich, einfach mal nur zusammen ein Bier trinken zu gehen in einer deutschen Großstadt. Freitagabend in Berlin: „Wollen wir wirklich in diesen Laden gehen? Das willst du doch nur hin, weil er genau bei dir um die Ecke ist“, sagt ein reifer, selbstbewusster Herr aus meinem sozialen Umfeld, der sich dann aber doch einen Ruck gibt und mit seiner Freundin in besagtem Laden antanzt – nicht ohne dass wir den von mir ausgewählten Sitzplatz mit einem anderen seiner Wahl tauschen. Es ist wie in der Politik, man muss Kompromisse machen.

„Trinkt ihr Bier? Ich will aber lieber Weißwein“, sagt er. Sagt sie: „Dann bestell dir doch einfach einen Weißwein.“ Sage ich: „Wir können auch in einen anderen Laden gehen, in der Weichselstraße ist auch nicht so ein Durchgangsverkehr“. Sagt sie: „Nein, da gibt es nur Flaschenbier und das tue ich mir nicht an.“ Sagt er: „Ich will lieber kiffen – können wir uns nicht in den Park setzten?“

Es wurde dann kein Park, sondern das Ufer des Landwehrkanals. „Ich finde, wir sollten an der Brücke rechts gehen, da ist der Blick am schönsten“. Sage ich: „Aber auf der linken Seite sitze ich immer, und dort findet man auch noch Sitzplätze.“ Nachdem wir also einmal in die eine und dann in die andere Richtung paradierten, mit schweren Sechserträgern Bier unter dem Arm, stellte sich heraus, das es um weitaus prinzipiellere Fragen als rechts oder links ging. Es ging nämlich um die Entscheidung zwischen steinerner Uferböschung und Parkbank. Wie man sich bettet, so ruht man.

Sagt sie: „Ich bin relativ statisch“, worauf hin wir uns auf eine Bankgruppe in der Nähe des Bouleplatzes einigen, auf Augenhöhe mit lokalem Prekariat, ebenfalls Bier trinkend. Alle reden, wenn auch nicht miteinander, über das Gleiche, steigende Mieten.

Der Sommerabend ist nicht lau, sondern drückend schwül. Gewitter dräuen – und es stellt sich heraus, dass die Bankgruppe nicht adäquat ausgerichtet ist. Sagt er: „So können wir nicht sitzen, die Krümmung der Bank-Gruppe verhindert ein Gespräch.“ Sagt sie: „Auf der Mauer dort kann ich nicht sitzen. Und wenn, dann nicht mit den Beinen in Richtung Kanal baumelnd, sondern so, dass ich Boden unter den Füßen habe.“

Auf der Mauer sitzend, mit Boden unter den Füßen, betrachten wir die paradierenden Menschen aus der Eurozone. Alle sind verdächtig, an den steigenden Mieten in Berlin irgendwie mitschuldig zu sein. Eine junge Studentin geht mit ihren die große Stadt bestaunenden Eltern vorbei – schon morgen werden sie ihrer Tochter eine Eigentumswohnung kaufen.

Sagt er: „Wir werden hier nicht bleiben können. Es ist vorbei.“ Sage ich: „Dann bleibt doch einfach in eurer Wohnung, krallt euch fest.“ Sagt sie: „Man muss eine Wohnung kaufen, außerhalb des S-Bahn-Rings.“ Sagt er: „Nein, man muss ein ganzes Haus kaufen, mit mehreren.“ Sage ich: „Man muss ein Haus auf dem Land kaufen und in der Stadt bescheiden wohnen.“ Sagt sie: „Man braucht was im Süden, am Meer.“ Sage ich: „Wir haben doch überhaupt kein Geld.“

Was sollen wir überhaupt machen in der zweiten Lebenshälfte? Noch ein Bier trinken?

Sagt er: „Ich will Tannenzäpfle.“ Sagt sie: „Ich will aber ein Jever.“

Kolumne 83

11.6.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Liebe aus tausendundeiner Kehle

Als Georgette Dee mit der Fanmeile im Chor sang und ich fast glaubte, dazuzugehören

Man kann auch mal einfach nicht Fußball gucken. Und zwar so, dass es einfach nichts bedeutet. Ein Nichtgucken, das weder als politischer Protest gemeint ist noch als Distanzierung von den „Massen“ oder gar als Ausdruck einer gesondert nobilierten Geisteshaltung. Ein Nichtgucken vielmehr, das einfach damit zu tun hat, dass man etwas Besseres vorhat. Wenn sich nämlich die Diseuse Georgette Dee aufrafft, doch mal wieder ein Konzert zu geben – nur ein einziges –, dann muss man auch hingehen. Ins Tipi, dem großen Zirkuszelt neben dem gigantischen Kanzleramt in Berlins Mitte, das vor genau zehn Jahren der „Kleinkunst“ wegen aufgespannt wurde.

„Ich bin nicht jeden Tag dein Sonnenschein, dann lieber gar nicht“, singt Georgette Dee einen ihrer heiter-melancholischen Klassiker, und es ist alles wie immer, allein es fehlen ihr volles Wodkaglas in der Hand und die brennende Zigarette. Sie ist älter geworden und es steht ihr gut. Das Zelt ist bis auf den letzten Platz ausverkauft an diesem EM-Abend, Deutschland gegen Portugal, und alle sind froh, dass Georgette Dee noch lebt und singt. Wann habe ich sie zum ersten Mal auf der Bühne gesehen? Es muss 15 Jahre her sein, ungefähr. Das Kanzleramt gab es noch nicht, der Potsdamer Platz war eine riesige Baustelle und das Wort „Public Viewing“ kannte kein Mensch.

Georgette singt von der Unmöglichkeit der Liebe und der wunderbar verschrobenen menschlichen Angewohnheit, doch an sie zu glauben. „Ich will nicht morgen schon dein Gestern sein, dann lieber gar nicht“, und je mehr ich ihr zuhöre, mich fallen lasse, desto mehr Wärme breitet sich in mir aus. Natürlich gibt es die Liebe. Natürlich lohnt es sich, immer wieder Mut zu fassen und sich anschließend voll auf die Schnauze zu legen. Von der Fanmeile am unweit gelegenen Brandenburger Tor ertönt der Backgroundchor der Begeisterung, Tausende jubilieren, es steht 1:0 für Deutschland. Die Wände des Zeltes vibrieren, drinnen wie draußen ist Energie, die nun ineinanderfließt, statt sich in einem Gewitter zu entladen.

Der Nachhauseweg wird zum Sommermärchen. Die Luft ist noch immer warm und erfüllt von fröhlichem Getröte und „Deutschland“-Rufen, die nicht wie Marschstiefel klingen, sondern eher wie Flipflops. Junges Volk, in Fahnen gehüllt und mit schwarz-rot-goldener Gesichtsbemalung ist auf dem Weg von der Fanmeile zum Hauptbahnhof. Ich gehe einfach mit, werde Teil der großen, weltweiten Fußballverschwörung. Niemand weiß ja, dass ich den Abend mit Liebesliedern verbracht habe, es ist auch egal, denn gute Laune haben wir alle. Deutschland hat gewonnen, die Liebe gibt es doch, und der Ball ist rund.

Sogar der Berliner Hauptbahnhof wirkt heute nicht überdimensioniert und klotzig. Er leuchtet vielmehr anmutig und ist gerade groß genug für die strömenden Massen. Dicht an dicht drängt sich das Volk und riecht nicht nach Schweiß und Aggression, sondern nach Weichspüler und Sommernacht. Berlin, Berlin, wir fahren durch Berlin! Was für eine Sause, und dann geht’s richtig los. „Du Schwuchtel.“ „Du bist ja ein 1-a-Homo“, quillt es plötzlich aus Männermündern. Wie immer zucke ich zusammen, obwohl ich gar nicht gemeint bin. Es geht ja nur darum, Kumpels freundschaftlich runterzumachen, indem man sie mit einem abwertenden Begriff belegt.

Nach Hause gehe ich alleine.

Kolumne 82

4.4.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Auf du und du mit Seeräuber-Jenny

Wäre es nicht Grossartig, wenn keine Kränkung ungesühnt bliebe?

Man mag es kaum glauben, wenn man gerade in einer Gay Bar mit schlechter Musik sitzt, aber der Homo ist immer auch ein Homo politicus; man sieht es derzeit im US-Wahlkampf: Während Barack Obama am Ende seiner Amtszeit plötzlich die gleichgeschlechtliche Ehe preist, sieht sich sein republikanischer Gegner zeitgleich mit dem Vorwurf konfrontiert, in den sechziger Jahren (!) einen homosexuellen Mitschüler gemobbt zu haben. Er und seine Kumpane sollen seinerzeit in der Schule einem Jungen, der sich die Haare blond gefärbt hatte, die selbige gewaltsam abgeschnitten haben. Unter anderem.

Wieder mal nur eine Instrumentalisierung von Minderheiten im Rahmen politischer Machtkämpfe? Wie dem auch sei: Toll daran ist die Idee, dass man seinen Mitschülern Jahrzehnte später endlich die Hammelbeine dafür langziehen könnte für das, was sie einem seinerzeit angetan haben. Volker P., einst Sportheld und Großmaul aus der zehnten Klasse, will Oberstaatsanwalt in Oldenburg werden? Ha! Zur Aktenlage: Da war noch dieser Vorfall im Jahr 1987, jungen Mann einfach zu Boden getreten und als „Milchgesicht“ beschimpft? Sie erinnern sich nicht? Tja, das nützt Ihnen gar nichts, das war’s dann mit der Oberstaatsanwaltschaft, zurück in die Müllstelle oder sonst irgendetwas Beschämendes verwalten.

Rache! Seien wir ehrlich: Es ist doch immer wieder schön zu sehen, wenn gewisse ungeliebte Menschen über ihre eigenen Trampelfüße stolpern und in der Pfütze landen. Zum Beispiel politisch aktiv gewordene Juristen, die ihren Doktortitel zurückgeben müssen – und bei denen es sich genau um die Leute handelt, die seinerzeit an der Universität in grüne Barbour-Jacken gewandet Bücher aus dem „Handapparat“ hinter der Manitoba Review of Literature versteckten, Kommentare schwärzten oder gleich ganze Seiten herausrissen, um sich einen „Informationsvorsprung zu sichern“.

Wen könnte man noch aufs Schafott schicken? Vielleicht Dieter mit den Gelhaaren, der mir Anfang der Neunziger beharrlich „Schwuchtel“ hinterherzischte und hoffentlich auch so noch immer unter den niemals verschwundenen Narben seiner seinerzeitigen Akne leidet. Holger B., dafür, dass er mir mit voller Absicht einen Ball ins Gesicht geworfen hat, weil er mich nicht in seiner Fußballmannschaft haben wollte. Ganze Klassenverbände der Mittelstufe für Hänseleien auf dem Schulhof. Eine komplette Kleinstadt für Unduldsamkeit gegenüber allem und jedem, der oder die anders ist. Es würde ein Blutbad: „Und ein Schiff mit acht Segeln / Und mit fünfzig Kanonen / Wird liegen am Kai!“

Das alles geht mir durch den Kopf, als ich allein auf einem Barhocker sitze, ein Bier vor mir auf dem Tresen. Schön, mit sich allein auszugehen – ab durch die Berliner Nacht, die Bedrängnisse aus Jugendzeiten, sie liegen weit zurück. Die Welt, sie gehört mir, und ich bin inmitten von ganz, ganz vielen anderen Homos, seien sie nun politisch oder nicht.

Einer von ihnen guckt freundlich herüber, sodass ich mich irgendwann traue, ihn anzusprechen. Ich gehe zu ihm an den Tisch, „Lust auf ein Bier“, frage ich? Sagt er mit hochmütiger Herablassung und so, dass es alle hören können: „Heute nicht.“ Also, wenn dieser Typ mal Bundespräsident werden will, dann werde ich das zu verhindern wissen.

Kolumne 81

16.4.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Kuscheln hinterm Eisernen Vorhang

Liebe Russen, liebe Serben, liebe Kroaten! Wenn ihr Spass haben wollt, dann lest das! Das ist Propaganda

Nach einem langen Irrlauf durch dunkle Gassen und Hinterhöfe stößt man auf eine verschlossene Stahltür … So beginnen die meisten Geschichten, die von Schwulen und Lesben im ehemaligen Ostblock handeln. In Russland gibt es vielleicht bald gar keine Geschichten mehr über dieses Thema, weil jegliche Thematisierung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen bestraft werden soll. Man will eine solche Propaganda verhindern, zum Schutz des russischen Volkes.

Was soll man tun? Am besten Propaganda machen: Liebe Russen, wenn ihr mal wirklich Spaß haben wollt, dann geht in die schwul-lesbischen Clubs von Moskau. Dort sind die Getränke viel billiger als in irgendwelchen Oligarchen-Dissen, die Männer sehen besser aus und tanzen manchmal mit wunderschönen entblößten Oberkörpern. Die Mädchen sind trinkfest, lebenslustig und üben interessante Berufe aus. An einem der schönsten schwul-lesbischen Veranstaltungsorte gibt es zudem den besten Ceasar’s Salad in ganz Moskau, zu erschwinglichen Preisen. Die Lokalität heißt Propaganda, nicht weit vom Moskauer Rathaus entfernt. Hier kann man sich wie in einer richtigen Weltstadt fühlen, ganz ohne Popen mit Bärten und Nationalisten mit Glatzen.

Liebe Serben, wenn ihr mal ausnahmsweise keine Lust haben solltet auf Bier, Rockgeschrammel, stiernackige Typen und Stöckelschuhfrauen, dann geht in den Club Apartman, er ist gleich bei der Brankobrücke. Altes Abrisshaus, dritter Stock rechts. Elektronische Musik, queeres Künstler- und Kreativvolk, geile Atmosphäre, irgendwo zwischen Berlin, London, New York. Willkommen in Europa! Zur Vorbereitung einfach den Film „Parada“ von Srdjan Dragojevic anschauen, er ist extra für Schwulenhasser gemacht und wirkt ausgesprochen therapeutisch, weil ihr über euch selbst und euren nationalen Männlichkeitswahn lachen könnt.

Liebe Kroaten, wenn ihr gerade keine Zeit haben solltet, Schwule und Lesben zusammenzuschlagen – zum Beispiel in eurer angeblich so weltoffenen Küstenstadt Split –, dann fahrt mal in eure Hauptstadt Zagreb. Ihr könnt zum Beispiel das Queer Arts Festival besuchen, es beginnt am 23. April. Ikonen, Knüppel und alte Kriegswaffen bitte zu Hause lassen und stattdessen einfach mal ein paar entspannte Tage mit internationalen Gästen genießen, die nicht nur darauf aus sind, am Steinstrand herumzuliegen und Rotwein mit Cola und Eis zu saufen. Es gibt Filme zu sehen und Performances, Ausstellungen – und hinterher wird schön zusammen gefeiert. Heilige Maria!

Liebe Polen, in eurer wunderschönen Hafenstadt Danzig gibt es leider nur einen Gayclub, also kommt rechtzeitig, damit ihr noch einen Platz bekommt. Der Laden heißt Kogiel-Mogiel und befindet sich in der Nähe des Hafens. Hinter dem Tresen stehen supernette Lesben („In Poland you have to drink vodka“),während auf ihm halbnackte Jünglinge tanzen. Ist mal was anderes, als immer nur Papstbilder anzugucken und Bigosch zu essen. Irgendwie schmeckt an diesem Ort sogar das notorische Schädelbräu Danziger Goldwasser gut.

Viel Spaß euch Völkern, verlauft euch bitte nicht bei den Gängen durch dunkle Gassen und Hinterhöfe, und habt keine Angst. Ihr seid willkommen hinter all den geschlossenen Eisentüren. Dort trinken, lachen und feiern bloß Landsleute.

Kolumne 80

19.3.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Mit drei Bieren um die Welt

Ungleichzeitigkeit schützt vor Ohnmacht nicht – Gespräche mit Glaubensbrüdern

Mein Eltern haben mich nur nicht umgebracht, weil ich der einzige Sohn bin.“ Wer rechnet mit so einem Satz morgens um halb drei, beim dritten großen Bier in einer Homo-Bar? Im Jahr 2012? Schwule Läden ohne Fenster und mit verschlossenen, schwarzen Türen, an denen man erst klingeln muss – sie gelten einigen längst als Auslaufmodell. Wer braucht noch Bunker, wenn der Krieg vorbei ist? Für nicht wenige sind aber genau diese Läden noch immer ein Schutzraum. Ein Ort, an dem man endlich mal offen reden kann. Mit Fremden. Cem ist vielleicht Mitte 30, seine Eltern stammen aus der Türkei, doch er ist hier geboren. Dass er schwul ist, darf niemand wissen – als er versucht hatte, mit seinen Eltern darüber zu sprechen, wurde er zunächst mit Todesdrohungen und dann mit dem Gebot einer baldigen Heirat bedacht.

Cem hat sich gefügt, wusste keine Alternative: „Meine Frau weiß von nichts. Jetzt habe ich zwei Kinder. Das Einzige, was mir bleibt, ist, ab und an in solche Läden zu gehen, nachts. Aber das nützt auch nichts, ich kann mich einfach nicht entspannen. Ich kann mich gar nicht richtig auf Männer einlassen, es ist alles ein Krampf.“

Auf einer Podiumsveranstaltung zum Thema „Islam und Homosexualität“ hatte ich vor kurzem erst von einer Teilnehmerin den guten Rat vernommen, dass man doch seiner Familie nicht alles sagen müsse – ein Rat, der, eingebettet in die Geschichte der Bundesrepublik, ungefähr auf das Jahr 1972 verweist. Ich gebe ihn nicht weiter.

Ohnmacht erfasst mich, während rundherum gefeiert wird. Laute, fröhliche Musik erklingt. Die kleinen Junghomos nebenan, sie sind vielleicht 21, total niedlich und total betrunken, versuchen sich im Scherz als Go-go-Boys und tauschen altersgerechte Sätze aus: „Gehen wir jetzt ins Silberzukunft oder ins Sexwerk?“ Die Antwort: „Ach, nee, im Silberzukunft quatschen dann alle wieder nur über Heteronormativität – aber im Sexwerk? Ich bin mir nicht sicher, ob ich meine Zukunft mit Sex-Partys zubringen will – und die Musik ist doch geil hier.“

Genau. Sie können sich aussuchen, wie sie leben und wer sie sein wollen: schwul, queer, bi, Staatsbürger, Student, Ehemann. Es ist das Jahr 2012 und wir sind in Berlin.

Zeitgleich werden genau solche jungen Männer in engen Hosen, die ihr Haar länger tragen und gerne Alternative hören, im Irak abgeschlachtet. „Emos“ gelten dort als erstens schwul und zweitens satanistisch, weshalb sie von Islamisten gesteinigt werden – über hundert Opfer soll es in den letzten Wochen gegeben haben, genaue Zahlen gibt es nicht. Sie werden grausam zu Tode gequält und auf Müllkippen entsorgt, weil sie nicht dem traditionellen Männerbild entsprechen.

Ein aus Pakistan stammender Freund, Kasim, schneit nun herein, bestellt ein Ginger Ale. Er ist Muslim und will sich seinen Glauben nicht wegnehmen lassen: „Ich versuche erst mal, das für mich persönlich ein Einklang zu bringen – auch über das Studium der Schriften. Ich bin mir sicher, dass es eines Tages einen Weg geben wird, aber diese Entwicklung darf nicht vom Westen ausgehen. Es muss in den Ländern selbst geschehen.“

Es ist das Jahr 2012, es ist schon spät. Und für so viele leider schon zu spät.

Kolumne 79

20.2.2012

Martin Reichert Back on the Scene

Mit Saddam im Orgienkeller

Warum es manchem Mulmig wird, wenn die Klischees nicht ordnungsgemäss bedient werden

Wer sich in das nächtliche Leben stürzt, muss oft genug mit künstlichen Substanzen selbst dafür Sorge tragen, dass die Welt endlich mal ein bisschen kopfsteht. Angestelltenfreizeitkultur ist ja nicht per se aufregend, nur weil die Beleuchtung schummerig ist und Musik zu hören ist. So ist das auch im schwulen Nachtleben, da weiß man in der Regel auch schon vorher, was auf einen zukommt. Dachte ich.

Nts-Nts-Nts, Kirmes-House und gekühlte Getränke, Nts-Nts-Nts. Eine Bar in Berlin-Schöneberg, man kommt ins Gespräch. Ein junger Mann setzt sich mit an den Tisch, ein Bekannter eines Bekannten. Alles gezupft, bisschen überpflegt, zu enge Klamotten, und wieder ein freundlicher kleiner Friseur, der sich in seiner Freizeit für Orchideen interessiert und Musicals und so weiter. Dachte ich. Dann nämlich erzählt mein Bekannter, dass er neulich Zeuge wurde, wie dieser kleine flamboyante Hüpfer zwei Jugendlichen, die ihn als Tunte gehänselt und bedroht hatten, ruck-zuck die Nasenbeine gebrochen hatte. Zack, Kleingeld gespart, das für den Anruf beim schwulen Überfalltelefon fällig gewesen wäre. Es stellte sich heraus, dass der junge Mann kein Friseur ist und mit Orchideen nichts am Hut hat. Und ich fasse mir rasch mal an meine eigene Nase, sogar das Nts-Nts-Nts entpuppt sich bei näherem Hinhören als Latest Hottest Shit aus New York oder so.

Im nächsten Laden sollte die Welt wieder in Ordnung sein. Whitney-Houston-Gedenk-Playlist, vereinzelte Herren an vereinzelten Tischen, rauchend, Bier trinkend. Eine sich mühende, bisschen dabei quietschende Discokugel. Großartiges, latent tragisches Großstadt-Homomilieu-Kino mit Achtziger-Retro-Touch. An der Bar sitzt ein Daddy, der aussieht wie Saddam Hussein auf der Suche nach ein bisschen Druckabbau im Dunkeln. Nun betreten die Transen das Feld. Groß gewachsen, High Heels, Big Hair. Der Kinofilm geht weiter, schön. Fehlen nur noch der zitternde Jungmann im Coming-out, ein Gay-Skinhead, zwei Leder-Trinen und und drei vier bis vier Hobos mit Bärten, um den Stereotype-Zoo zu komplettieren, „Ja, da sind wir wieder in Berlin“, pfeife ich mir innerlich ein Liedchen von Christiane Rösinger. Die Welt war wieder in Ordnung.

Dann allerdings packte eine der beiden Transen ihre Brüste aus, die geradezu frappierend echt wirkten. Entblößte sich auch untenrum, und das, was das von schwarzen Korsagen gehaltene Mieder umrahmte brachte nun Saddam Hussein völlig aus dem Häuschen. „Watt denn, watt denn, ich dachte, das ist hier ein Schwulenladen?“ sagte die Dame. Dachte ich auch.

„Na, wen ditt so ist, dann können wir ja auch schön f…“, sprachs und schritt die Treppe hinunter in den finsteren Orgienkeller, Saddam nichts wie hinterher. Und dort unten kam es nun zum Äußersten. Zwischen Mann und Frau!

llig überfordert von der ganzen Situation waren allerdings die anwesenden Homosexuellen. „Das ist aber jetzt nicht orthodox“, sprach der eine, ein anderer konnte nur „ich brauche jetzt dringend noch ein Bier“ sagen. Niemand traute sich mehr in den Keller hinunter, aber wenigstens hat an diesem Abend die Welt mal so richtig schön kopfgestanden. Bekommt man gleich klarere Gedanken.

Kolumne 78

23.1.2012

Martin Reichert über Back on the Scene

Willkommen im Club – Stößchen!

Diese Unterzeile ist Suchmaschinenoptimiert: Homosexualität, Fashion, Champagner, Berlin

Wenn man nach langen Jahren einer Beziehung – oder einer Ehe – wieder an den Strand gespült wird, ist es tröstend, wenn dort gerade eine Beach-Party veranstaltet wird und einem jemand sogleich einen Cocktail in die Hand drückt: Stößchen! Homosexualität ist ja auch völlig SINNLOS, wenn man sich nicht in die Gesellschaft anderer Homosexueller begibt. Alleine ist man bloß anders und einsam und das interessiert keinen Menschen. Man muss AUSGEHEN.

Back on the Scene“ in Berlin statt „Landmänner“ in Brandenburg – es ist ja nicht so, als ob man während der letzten zehn Jahre nicht mal hier gewesen wäre, aber nun, als Single, kann man sich nicht mehr auf den Besucherstatus zurückziehen. Es gilt topaktuell jener Spruch, der einst das Coming-out markierte: Willkommen im Club! Wenn nur nicht all die Jahre dazwischen lägen – aber hat sich wirklich etwas verändert? Man darf nicht mehr überall rauchen und alle tragen Bärte.

Sonst alles wie immer: Mein bester Freund holt mich ab, wir glühen ein bisschen vor – Stößchen – und dann geht es zu einem BEDEUTENDEN Berliner Mode-Event. Gut, früher wären wir hier nur hereingekommen, weil wir die Jungs hinter der Bar/am Empfang gekannt hätten, und heute sind wir AKKREDITIERT. Das klingt erst mal professionell, aber dann finden wir die Raucher-Lounge nicht und sind am Rande einer Panik: „Werden wir doch alt, verlassen uns am Ende die Instinkte?“, fragt mein bester Freund bang. Er sah aber super aus und total jung, wie hier überhaupt alle total super aussehen und jung.

„Hey, hallo, du siehst ja super aus“, komme ich ins Gespräch mit einer Frau, die oben Carla-Frisur und unten Prada trägt und auch schon fast vierzig ist wie wir. So, und nur so kommt man hier nämlich ins Gespräch und das ist auch nicht schlimm, solange die Leute einem dann ebenfalls auch sagen, dass man ja total super aussieht. HERRGOTT, es nun ist mal ein Mode-Event, bedeutend, aber die Sache wird nicht besser, als mir mein bester Freund „Alles bloß Jeanshalle Nürtingen“ ins Ohr raunt. Wenn nur ein Satz nötig ist, um ein hochsubventioniertes Event aussehen zu lassen wie ein brandenburgisches Feld, dann braucht man mehr Alkohol.

Eine Performance ist nun an der Reihe, mit viel Rumms und Bumms und Licht und GLITZER. Menschen laufen vertikal auf eine Außenmauer hin und her und es ist alles ganz angenehm sinnfrei und immer noch besser, als zu Hause zu sitzen und Digital-Fotos zu verwalten. „Früher hätten wir alles daran gesetzt, hier zu sein, erinnere dich mal“, sagt mein bester Freund und zeigt auf ein Rudel junger Homos in Röhrenhosen: „Guck mal, die sind ganz erstarrt vor Bedeutung!“

Sie sehen nicht nur jung aus, sie SIND es. Aber erstarrt sind sie nicht, ergriffen eher: In ihren Augen ist ein Leuchten, sie atmen den Moment. Die Musik, die wundersam aufgebrezelten Leute – vielleicht sind sie wirklich aus Nürtingen – MANN, BERLIN! – können einfach nicht fassen, was sie hier gerade erleben. Und dann macht es Plopp: Direkt hinter uns wird die kostenlose Champagner-Bar eröffnet. Unsere Instinkte, sie hatten uns also doch nicht verlassen. Stößchen – auf den Zauber des Hier und Jetzt!

 

Kolumne 77

28.11.2011

Martin Reichert über Landmänner

Show must go on

Wer ordentlche Grölsongs fabriziert, darf auch auf dem Land Schwul sein

Freddie Mercury war auf dem flachen Land der wohl größte Botschafter für die schwule Sache: Selbst der hartgesottenste Fußballfan, der gröbste Proll und der rüpeligste Bauer konnten einem Mann, der der Welt solch wunderbare Grölsongs wie „We are the Champions“ oder „I want to break free“ nicht ernsthaft böse sein, egal was der so im Bett trieb. Der Freddie, der war schon irgendwie in Ordnung, und dass ausgerechnet er an dieser schrecklichen Krankheit sterben musste, das tat ihnen dann schon auch leid. Noch heute bekommt man von solchen Jungs knochenkrachende, freundliche Schläge auf den Rücken: „Der Freddie war doch auch einer von euch.“

Genau zwanzig Jahre ist das jetzt her: Mercury starb an einer Lungenentzündung – einen Tag nachdem er öffentlich gemacht hatte, dass er positiv auf HIV getestet worden war. „Show must go on“, das war sein Schwanengesang. Just zwanzig Jahre später liegt ein anderer Poptitan aus jenen Tagen, in denen „Sound“ noch eine wichtige Kategorie war und der Begriff MP3 noch nicht in aller Munde, mit Lungenentzündung in einem Wiener Krankenhaus: Es handelt sich um den „bekennenden Homosexuellen“ George Michael. Und was schwurbelt, murmelt und raunt die Bild?Etwas von wilden Tagen der Vergangenheit mit Klappen- und Parksex und einer eventuellen Grunderkrankung mit drei oder vier großen Buchstaben, deren mit Sünde-Pest-Schuld kontaminierten Namen man aber lieber nicht ausspricht.

Wahrscheinlich ist George Michael einfach nur erschöpft nach den ersten 45 Konzerten seiner aktuellen Tournee und hat sich was gefangen – so wie derzeit die halbe Republik. Das Verrückte aber ist, das die öffentliche Wahrnehmung von HIV und Aids ungefähr Anfang der Neunziger stehen geblieben zu sein scheint, also bei den Fotos von Freddie Mercury mit roten, entzündeten Augen. Oder gar bei Rock Hudson, der sich 1985 einen kompletten Air-France-Jumbo chartern musste, um von Paris zurück in die USA fliegen zu können – sämtliche Fluggesellschaften hatten sich geweigert, ihn zu transportieren.

Die Betroffenen selbst – zumindest in den westlichen Ländern – leben längst in einer anderen Realität. Seit Einführung der Dreifach-Kombinationstherapie im Jahr 1996 müssen HIV-Positive wieder an ihre Rentenversicherung denken, können in der Regel ihrem Beruf nachgehen, sind, so sie unter Behandlung stehen, auch nicht mehr infektiös. Von einem „neuen Aids“ spricht längst der Sexualforscher Martin Dannecker. „Neues Aids“, schon mal gehört?

Wahrscheinlich nicht, und das liegt auch an dem Schweigen der Betroffenen, die ihre Erkrankung meist verbergen: Zu groß ist das Stigma, die leider total berechtigte Angst vor Ausgrenzung – auch innerhalb der schwulen Szene – und Nachteilen im Beruf.

Überhaupt ist bei vielen Schwulen ein großes Schweigen zu beobachten, denn geschätzt wird in der Mitte der Gesellschaft der nette, irgendwie total normale Homosexuelle, der in einer festen, möglichst monogamen Partnerschaft lebt, eigentlich auch ganz gern Kinder hätte und wie alle anderen auch zwischen Bioladen, Ikea und Caffè-Latte-Geschäft vor sich hin dämmert. Anders sein nervt nämlich, weshalb nächtliche Parks, Pornos, Tunten, HIV, Depressionen, homophobe Übergriffe und Dildos lieber beschwiegen werden. Show must go on.