Kolumne 76

31.10.2011

Martin Reichert über Landmänner

Die Menschheit stinkt nicht

Der Kiez riecht, wenn das Dumpfe dröhnen im Kopf wieder freien Atemwegen gewichen ist

Zwei Wochen lang konnte ich die Menschheit nicht riechen. Nein, nicht weil sie den Planeten an die Wand fährt oder lieblos, egoistisch und sowieso verkommen ist. Es war einfach nur eine hartnäckige Erkältung.

In den Nebenhöhlen ging es so farbenprächtig zu wie in jenen weltberühmten Grotten des Vézère-Tals im Perigord, Unesco-Weltkulturerbe dank steinzeitlichem Gestaltungswillen.

Und dort, wo früher der ein oder andere Gedanke wohnte, Hoffnungen schimmerten und Erinnerungen an die Oberfläche gelangten, war nur noch Sekretstau. Ein dumpfes Dröhnen im Kopf also.

Das Essen wurde zu Dämmstoff in verschiedenen Aggregatzuständen, das Leben der Anderen zum Hintergrundgeräusch und das Bett zum Lebensmittelpunkt. Was war eigentlich los in den letzten beiden Wochen? Wie geht es dem Euro? Und riecht die Menschheit noch?

Um das herauszufinden, bedurfte es eines Spaziergangs im herbstlichen Kiez. Und siehe ja: die Menschheit riecht, dünstet, verströmt Odeur und duftet. Die Dame zum Beispiel, die bräsig flanierend ein Vorbeikommen unmöglich macht, scheint eine Patchouli-Spülung zu benutzen – es ist, als würde plötzlich eine Studienfreundin aus vergangenen Tagen dort gehen, deren Haar stets genau diesen Geruch in sich trug. Sogar ihr vertrautes Lachen scheint zu erklingen. Der schwerstangetrunkene Handwerker in weißen Latzhosen, der am helllichten Samstagmittag wirklich Feierabend hat, trägt eine frische Bierfahne spazieren, die sich mit Lack- und Farbverdunstungen mischt. So riecht es, wenn man mit Freunden zusammen die Wohnung renoviert und alle nach getaner Arbeit einen Sechserpack aufreißen.

Drei picklige Teenager-Jungs mit riesigen Sporttaschen kommen entgegen, sie riechen nach Chlor und Duschgel „For Men“ – zu Hause warten ihre Mütter und Väter mit dem Mittagessen. Nach dem Sport schmeckt alles dreimal so gut. Die alte Dame im Supermarkt riecht nach Alter, das man nicht riechen soll. Nach Handcreme und Kölnisch Wasser. Und ihr Mann nach Nikotin, Haarwasser und Alter. Sie kaufen Kartoffeln, Gemüse und Speck, es wird wohl heute Suppe geben.

Der Obdachlose im EC-Automaten-Raum nimmt einem den Atem und es dräut der Gedanke „Es stimmt doch irgendwas nicht mit dieser Gesellschaft“, während der Fünfziger aus dem Automaten sirrt und entsprechend kein Kleingeld vorhanden ist für den Bettelnden, „Tut mir leid!“.

Der türkische Mann in der Schlange beim Gemüsehändler riecht süßlich nach Haarwachs – er arbeitet im Zigarettengeschäft um die Ecke, „Merhaba!“, alle in seiner Familie haben das gleiche freundliche Lächeln.

Die junge fränkische Studentin vor ihm in der Schlange müffelt nach ungelüfteter Kleidung, talgigen Rasta-Locken und altem Hund – und strahlt die ganze Welt an, als sei sie eine Königin und die Sonne ihr Gemahl. Die Welt gehört ihr.

Der Humpelnde an der Bushaltestelle verströmt den Geruch von Armut, sie riecht nach Alkohol, Schimmel und Zwiebeln. Die Proll-Prinzessinnen daneben stinken dagegen an – mit Puder, Haarspray, Deodorant, Discounter-Parfum, Fruchtkaugummi und Limonade.

Was ist nun mit dem Euro? Wer weiß. Aber nach zwei Wochen Abwesenheit durch Krankheit kann ich verbindlich mitteilen: Die Menschheit stinkt nicht. Sie duftet nach Leben.

 

Kolumne 75

8.8.2011

Martin Reichert über Landmänner

Ein jeder kehre unter seinem eigenen Sling

Formulare, Formulierungen und formelles: zehn Jahre eingetragene Lebenspartnerschaft

Dosenpfand und Homoehe, mehr war nicht. So heißt es im schmallippigen Volksmund, wenn matt beschienen von Energiesparlampen Rot-Grün bilanziert wird. „Gedöns“, um es mit den Worten des seinerzeit amtierenden SPD-Kanzlers Gerhard Schröder zu sagen.

Seit zehn Jahren schon gibt es nun die sogenannte Homoehe, die eigentlich „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ heißt und ein eigenes Rechtsstatut darstellt, damit Konservative wie Norbert Geis von der CSU nachts besser schlafen können. Geis hat zwar noch immer Angst vor der „planmäßigen Zerstörung der Ehekultur“, meint es aber im Gegensatz zu vielen seiner konservativen Mitstreiter, die sich allein aus Gründen des Partei-Marketings ein wenig in Diskriminierung üben, wenigstens ernst.

Ein paar Hürden bis zur endgültigen Gleichstellung sind noch zu nehmen – Einkommensteuer, Adoptionsrecht – der Rest ist Kampf im Alltag. Bei den Formularen fängt es an: Für das Finanzamt ist man entweder „ledig“ oder „verheiratet“, das Feld „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ gibt es nicht. Bei der LBS Nord haben mein Mann und ich diese Kategorie in Absprache mit dem Gebietsleiter einfach mit Kugelschreiber hinzugefügt. Es ging um einen BAUSPARVERTRAG.

Bei den Formulierungen geht es weiter. Wenn ich sage „mein Mann“, gucken alle komisch, aber „mein eingetragener Lebenspartner“ hört sich an, als würde ich meinen Betreuer vom sozialpsychiatrischen Dienst vorstellen.

Dann noch die Fragen des Formellen: Ist, wer eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingeht, am Ende nur ein armseliger, hyperangepasster Kopist des heteronormativen, geschlechter-binäristischen und neomonotheistischen MAINSTREAMS?

Zugegeben, ein bisschen spießig war das neulich schon, als ich mitten in die Dunkelheit eines Berliner Orgienkellers laut und vernehmlich formulierte, dass ich jetzt gerne NACH HAUSE gehen würde, aber es war schon drei Uhr morgens und mein Mann hatte keinen Schlüssel mit. Aber andererseits denke ich, dass die Leute doch unter ihrem eigenen Sling kehren soll. Muss man als Schwuler automatisch die Amy Winehouse machen und in jungen Jahren dramatisch verglühen, während es bei den meisten am Ende bloß zu einem vierstrahligen Gasgrill Modell „Outdoorchef Ambri 480“ reicht?

Bei einer rechtlichen Gleichstellung geht es ja eben darum, dass man überhaupt eine Wahl hat, aussuchen kann, ob man sich in einem offiziellen Rahmen bindet oder nicht. Die meisten Heteros heiraten der Kinder wegen oder aus fiskalischen Gründen. Wir sind diesen Schritt gegangen, damit uns das, was wir uns zusammen aufgebaut haben, nicht nach einem eventuellen Ableben des ein oder anderen Partners von der Verwandtschaft unter dem Arsch weggerissen wird, ganz einfach. Staus auf der Autobahn und schlechte Fernsehprogramme sind auf jeden Fall bedrohlicher für die deutsche Ehekultur.

Im Jahr 2010 gab es in Deutschland 23.000 Eingetragene Lebenspartnerschaften – im Vergleich zu 18 Millionen verschiedengeschlechtlichen Ehepaaren. Was für ein Lärm wegen der paar Hanseln. Was für ein Theater um einen BEHÖRDLICHEN AKT.

Neulich schickte meine Mutter eine SMS: „Alles Gute für Euch zum zweiten Hochzeitstag.“ Wir hatten es vergessen.

Kolumne 74

11.7.2011

Martin Reichert über Landmänner

Brandenburg, digital bearbeitet

Unsere Heimat als Filmstandort: wenn die wiesen nicht Grün genug sind, muss man nachhelfen

Ich brauche dringend einen Bauernhof mit Scheune, eine Wiese, einen Berg, eine Gaststätte und einen Fußballplatz, meldet Euch“, so schepperte es aus der Mailbox.

Was sich zunächst anhörte wie das dringende Gesuch eines obdachlos gewordenen Gutsherrn, entpuppte sich als Bitte um Unterstützung von einem befreundeten Location-Scout. Das sind Menschen, die für Film, Fernsehen und Werbung Örtlichkeiten casten, an denen dann Actimel-Werbespots in Sichtbetonästhetik gedreht werden. Oder eben Filme, die auf dem Land spielen.

Unser Freund operiert normalerweise in Berlin und hat daher auch keine Probleme, geeignete Örtlichkeiten zu finden. Die ganze Hauptstadt ist eine einzige Kulisse, und ihre Bewohner sind Darsteller ihrer selbst oder was sie dafür halten.

Das flache Land aber überfordert ihn völlig. Als er schließlich, bewaffnet mit Drehbüchern, Blackberry und Digitalkamera bei uns ankam, berichtete er völlig außer Atem von seiner letzten Exkursion nach Teltow-Fläming: „Ich hatte kein Netz. Mein GPS funktionierte nicht, und ich stand plötzlich mitten in einem dunklen Wald.“

Aufgrund seiner Notsituation erklärten wir uns bereit, all diese Landschaften, die wir sonst am Wochenende hauptsächlich privat zu unserer Ergötzung nutzen, für Filmaufnahmen zur Verfügung zu stellen. Und schon waren wir „Local Scouts“, Buschführer also.

Gott sei Dank hatte er schon einen Berg im Kasten, denn solche sind in Brandenburg rar. Er hatte einfach den Berliner Teufelsberg, der eigentlich aus Trümmern des Zweiten Weltkrieges besteht, als Brandenburger Anhöhe verkauft. Aber auch einen idyllischen Bauernhof zu finden ist nicht ganz einfach in Zeiten der Agrochemie mit ihren monströsen Großbetrieben.

„Wenn es in der Scheune keine Tiere gibt – kein Problem, die können wir ja organisieren“, sagte unser Freund. Aber erst einmal mussten wir ja überhaupt eine „freistehende Scheune“ finden.

Nach fast hundert Kilometern Fahrt durch Buschwerk, Ödland und Steppen, an denen Cechov seine Freude gehabt hätte, fanden wir schließlich einen einsam gelegenen Aussiedlerhof, der so pittoresk war, dass es sogar für den deutschen Film schon wieder zu viel gewesen wäre. Und die Besitzerin erst! Eindeutig Bette Davis in „What Ever Happened to Baby Jane“, die aber dann leider den grandiosen Satz von sich gab: „Film? Aus dem Alter sind wir raus.“

Auf der Suche nach dem nächsten Bauernhof casteten wir wie nebenbei „weite Flächen“, „einen Bach umgeben von Bäumen“ und „endlose Wiesen“ („Wenn ich die digital nachbearbeite, bekommen wir die auch in Grün.“) Einen nicht mehr bewirtschafteten Bauernhof fanden wir schließlich – der Eigentümer: ein Filmfan. Gaststätte schafften wir mit links, unsere beiden Lieblingswirtinnen erklärten sich bereit mitzumachen, und die Stammgäste sind ja sowieso immer da.

Die Überraschung des Tages war dann der Fußballplatz von Ackerbürgerstadt: „Kein Problem, hier wurde schon öfter gedreht“, so beschied man uns vonseiten der Vereinsleitung. Alles Medienprofis bei uns in Ackerbürgerstadt.

In diesem Sinne habe ich diese Scouting-Geschichte jetzt einfach mal als Landmänner-Kolumne verwertet. Mehrfachnutzung, bei den Medien wird ja überall gespart.

Kolumne 73

16.5.2011

Martin Reichert über Landmänner

Vier Heten auf einen Streich

Nachbarschaftliche Solidaritätät in Ackerbürgerstadt und Brandts Ostpolitik

Manchmal braucht man einfach einen Kerl. Und manchmal sind vier sogar besser. Die beiden Wirtinnen aus unserer Stammkneipe in Ackerbürgerstadt hatten sie uns zugeführt. Und nun betrat einer nach dem anderen nach lautem Klopfen unser Haus, gab artig und knochenkrachend die Hand. Ein Untersetzter mit braunen Knopfaugen. Ein Hüne so breit wie ein Wäscheschrank und hoch wie ein solcher. Ein Mittelalter mit Pranken wie Knut und ein Hübscher mit Augen so blau wie das Eismeer.

Nun standen Sie in der Küche und schauten uns an, wollten wissen, was nun zu tun sei? „Wir brauchen ein Seil und zwei Balken“ sagte mein Mann. Und die Männer nickten. Mein Mann ging voran, und die Männer folgten. Und ich fragte unsere Nachbarin, was ich denn nun machen solle? „Am besten nicht im Weg rumstehen, Bier kalt stellen“, sagte sie lebensklug. Und mir ward ein wenig bang.

Es ging um Rut Brandts Klavier, das in den ersten Stock sollte. Ein kleiner Schimmel aus den Fünfzigern, der lange auf einen Käufer in einem Klaviergeschäft gewartet hatte. Filigran und ein bisschen verloren stand er nun da – unsere Männer blickten ratlos drein ob seiner Geschichte. Rut Brandts Klavier? Mit Margot Honeckers Nähmaschine hätten sie mehr anfangen können.

Sie wäre auch leichter gewesen. Unsere Männer huben nun an, das Klavier zu wuchten. Mit Gurten um die Hüften, Geächze und Gestöhn. Und mit viel gutem Willen. Als sie mit der Gerätschaft durch die Tür kamen, blieben der Untersetzte und der Beprankte stecken – „Mensch, so haben wir ja noch nie gekuschelt“ – sagte der Beprankte zum Untersetzten. Und ich wusste nicht, wo ich hingucken sollte.

Der Hüne ging als Erster die Treppe hoch und trug die größte Last. Er zog und zerrte, der Beprankte, der Untersetzte und der Hübsche drückten und schoben. Der Hüne wurde ganz rot im Gesicht, und ich traute mich nicht zu schieben, des Hübschen wegen und des Kuschelns in der Enge des Treppenhauses. Stand im Weg rum und störte. Dachte an das Bier, das noch nicht kalt war.

Dachte an Rut Brandts Depressionen, dachte an den Westen und das Früher. Dachte daran, wie fremd ich mich oft unter solchen Männern wie diesen gefühlt hatte und wie außenstehend als Westler im Osten.

Und dann, endlich, stand Rut Brandts Klavier mit einem Rumms im ersten Stock. Ohne einen Kratzer. Die Männer keuchten erleichtert. Nun endlich war Wochenende. „Feuerwehr“, sagte der Hüne und trank einen Schluck lauwarmes Bier. „Landschaftsbau“, sagte der Hübsche und rauchte. Der Beprankte und der Untersetzte sagten „Hartz IV“. Am Abend würde es ein Live-Konzert im Scheunenviertel geben, freute sich der Beprankte, und ordentlich Biere. Der Hübsche zeigte sein Handgelenk her, „Arthrose, dabei bin ich erst 25.“

Wir verabschiedeten uns alle knochenkrachend per Handschlag, als das Bier alle war und die Sonne den Mittagsstand erreicht hatte.

Am Abend saß ich dann im Sessel und mein Mann spielte zum ersten Mal auf Rut Brandts Klavier. Dachte an das Früher und den Westen. Freute mich über das Neue und den Osten. Der Einzige, der sich verkrampfte Gedanken darüber gemacht hatte, dass vier Handwerker-Heten aus Brandenburg zwei Schwulen ein Klavier schleppen, war ich gewesen. Mehr Demokratie wagen.

 

Kolumne 72

18.4.2011

Martin Reichert über Landmänner

Das kultivierte Verbrennungsgeräusch

Der neue schwarz-grüne Sound in Baden- Württemberg macht nicht alle Männer glücklich

Es ist wahr, dass Schwaben alle einen Kombi fahren – sie brauchen große Autos, damit sie am Samstag ihren vorsortierten Müll zum „Wertstoffhof“ fahren können. Dort bringen sie ihn unter Anleitung von strengen Mitarbeitern in die dafür vorgesehenen Behältnisse – es ist eine Art betreutes Wegwerfen.

In Baden-Württemberg, so heißt es, ist die schwarz-grüne Seele beheimatet. Auf dem Wertstoffhof kann sie sich am besten entfalten, treffen doch hier jene nachhaltige Müllobsession und mehrzylindrige Hubraumstärke aufeinander, die für das Schwabenland charakteristisch sind. Die Müllsäcke werden bevorzugt mit Produkten aus regionalem Anbau, also solchen von Daimler-Benz, transportiert.

Das ist ein bisschen verrückt, weil nämlich der Umwelt zuliebe Woche für Woche unendlich viele schwäbische Verbrennungsmotoren in Gang gesetzt werden, um Individualmüll zu transportieren. Die Schwaben sind entgegen ihrem Ruf keineswegs reine Wesen der Vernunft. Auch sie nennen Obsessionen ihr eigen, doch die größte – neben dem Müll – heißt: Porsche.

Weil nun mein Bruder bei Porsche arbeitet, durfte ich mit zur Porsche Sound-Night, einer Art vorgezogenen Oster-Messe in Stuttgart-Zuffenhausen. Während wir mit dem Kombi dorthin fuhren, dräute aus den Lautsprechern Apokalyptisches, nämlich dass die rheinland-pfälzischen Grünen den „Standort Nürburgring als Rennstrecke in Frage stellen“. Mein Bruder zuckte zusammen und wurde erst ruhiger, als wir in Zuffenhausen ankamen und inmitten von auf Hochglanz polierten Sportwagen standen. Ein Porsche-Rennwagen aus der Frühzeit des Unternehmens wurde auf die Bühne geschoben und unter einigen Mühen angelassen. Er hörte sich verdächtig nach VW-Käfer an, doch schon diese eher kläglichen Geräusche zauberten ein Lächeln in die Gesichter des fast ausschließlich männlichen Publikums. Das Lächeln wurde zum breiten Grinsen, als ein Rennwagen aus den Sechzigern im Leerlauf auf Drehzahl gebracht wurde. Und als dann noch ein 1973er 911 Feuer aus seinen Auspuffrohren spie und durch die Halle brüllte wie ein Ungeheuer aus dem Erdölzeitalter, gab es kein Halten mehr.

Doch wo die Freude schönster Götterfunken nah, ist auch das irdische Jammertal nicht fern. So ließ ich als lutherischer Ketzer beim anschließenden Bier mit Kollegen die Worte „Klima“, „Hybrid“ und „Elektroauto“ fallen und blickte sofort in erloschene Augen. Am traurigsten war ein Akustiker – schließlich ist er für den legendären Porsche-Sound – eine Mischung aus blubbrigem V8 und hochdrehender italienischer Motorenkunst – zuständig. Ich versuchte zu trösten: „Ihr arbeitet doch schon am Elektroantrieb – kann man denn diese Geräusche nicht digital erzeugen?“ Auf dem Rückweg erinnerte ich mich an das rußende Nageln meines ersten Autos, einem alten VW Golf Diesel. Ich erinnerte mich an die Auto-Quartett-Spiele mit meinem Bruder, Hubraum sticht Zylinder. Und daran, wie wir um die Wette Autos an ihrem Motorengeräusch erraten hatten – einen BMW erkenne ich noch heute am besten. Und mir wurde klar, dass der Abschied vom Erdölzeitalter auch Schmerz bedeutet – der speiende 911er hatte das gleiche Baujahr wie ich selbst. Man muss loslassen und darf auch trauern. Und so ergab auch der Veranstaltungsort der Sound-Night einen Sinn: das Porsche-Museum in Stuttgart-Zuffenhausen.

Kolumne 71

21.2.2011

Martin Reichert über Landmänner

Wenn Heteros Homosexuelle spielen

Jetzt im Kino: schwule Brandenburger, die auch noch was mit Landwirtschaft machen

Nach Brandenburg zu fahren ist das letzte Abenteuer für die in westdeutschen Käffern aufgewachsenen Weltstädter aus Berlin. Bücher werden zu diesem Thema verfasst, Kolumnen geschrieben – und jetzt gibt es sogar einen Kinofilm, der vom richtigen Landleben in Brandenburg handelt. Der Clou: Es kommen zwei Schwule darin vor. Das ist so verrückt – ich musste einfach zur Berlinale-Premiere.

Die Hütte war voll – über 1.000 Plätze –, alle wollten sehen, wie sich zwei Landwirtschaftslehrlinge aus der Agrargenossenschaft EG „Der Märker“ im Baruther Urstromtal küssen – bis zu diesem Kuss allerdings hat der Film „Stadt Land Fluss“ des Regisseurs Benjamin Cantu Längen, wie sie auch das auch das richtige Leben in Brandenburg zu bieten hat. In sommerschwerer Hitze wird wacker industrielle Landwirtschaft betrieben, die Kühe auf der Weide werden von entschlossenen Melkerinnen mit Toyoto-Funcruisern gejagt.

Die wenigen halbwegs schwülen Szenen mit nackter Bauernhaut führen während der Vorstellung fast zum Kollaps in den Reihen hinter mir. Dort sitzen quiekende Teenager, die von ihren Lehrern in die Vorstellung verschleppt worden waren.

Was ist eigentlich exotischer – dass es Menschen gibt, die wirklich in der Landwirtschaft arbeiten, anstatt vor einem Rechner zu sitzen? Oder dass es Menschen gibt, die in der Landwirtschaft arbeiten und schwul sind? Das wirklich Verrückte an „Stadt Land Fluss“ ist, das in diesem Film – genau wie bei „Brokeback Mountain“ – ausschließlich Heterosexuelle mitspielen. Die beiden Hauptdarsteller beteuerten im Anschluss an die Filmvorführung, das sie hetero seien und die Kussszene wirklich nur mit Unterstützung von Jack Daniels bewerkstelligen konnten. Bei allen anderen Darstellern des Films handelt es sich um Menschen aus dem richtigen Leben, also um Lehrlinge und Mitarbeiter der Agrargenossenschaft „Der Märker“. Sie alle sind auf der Bühne versammelt, Hände in den Hosentaschen und sprechen auf Nachfrage Brandenburgisches: „War interessant jewesen“, oder „ja“ bzw. „nee“. Doch einer von ihnen ermannt sich: „Ick muss sagen, ditt ick Schwule ja nisch leidn kann. Aber jetzt muss ick sagen: Ditt iss ja numal so, ditt ditt Emotionale sich dann eben ooch körperlich ausdrückt.“

So ist es wohl. Der Regisseur übrigens ist dann doch schwul, nach eigener Aussage, doch er wollte „das schwule Thema nicht so konfrontativ“ angehen, weshalb dann am Ende auch irgendwie nicht klar ist, ob die beiden schwulen Landwirtschaftslehrlinge in ihrer Heimat bleiben können oder, wie die meisten ihrer Schicksalsgenossen, in die nahegelegene Großstadt Berlin flüchten werden, um ein offenes, unbehelligtes Leben führen zu können. Quiekende Teenager können zu Bestien werden, wenn sie ausgewachsen sind.

Erst, wer sich in der Stadt befreit hat, kann danach selbstbewusst in die Enge der Provinz zurückkehren – so ist es immer noch. Doch als ich nach Hause kam an diesem Abend, lag mein Mann schon im Bett – in der Berliner Stadtwohnung. „Was machst DU denn hier mitten in der Woche?“, fragte ich. „Mir war so langweilig im Brandenburgischen, und einsam fühlte ich mich auch“, antwortete er. Als ich ihm dann von „Stadt Land Fluss“ erzählte, murmelte er bloß noch im Halbschlaf: „Die spinnen, die Heteros.Ja, man müsste wirklich mal einen Film über sie machen.

Kolumne 70

24.1.2011

 

Martin Reichert über Landmänner

Alles kein Thema

Keine Selbstbespiegelung mehr. Es sei denn, sie findet im Ausland statt. Dann lieber den babybauch von Kristina Schröder

Neulich kam ein Leserbrief, der mich in freundlich-strengem Ton darauf hinwies, dass nun mal endlich Schluss sein solle mit dem Gewese, das die Homosexuellen in eigener Sache betreiben: „Gleich ist gleich“. Wohl aber dürfe ich mich auch in Zukunft um unterdrückte Selbige im Ausland kümmern und entsprechenden Lärm machen, wenn es dort beklagenswerte Missstände gäbe.

Im Sinne der Leser-Blatt-Bindung schließe ich jetzt immer Fenster und Türen, wenn ich mich mit meinem Mann über Gleichgeschlechtliches unterhalte. Es ist schon exhibitionistisch genug, dass wir keine Vorhänge in unserer Erdgeschoss-Küche haben.

Sollen sich doch andere aufregen und Krach schlagen, weil evangelische Bischöfe Front gegen gleichgeschlechtlich Liebende in deutschen Pfarrhäusern machen. Wir flüstern, murmeln, tuscheln und nuscheln nur noch so leise vor uns hin, dass sogar die Katzenohren erschlafft darniederliegen wie bei einer Sonntagspredigt. „Das alle den Westerwelle zum Teufel jagen wollen, hat nur mit seiner schlechten Haut zu tun“, schreibe ich auf einen Zettel und schiebe ihn über den Tisch. Mein Mann schreibt mir daraufhin eine SMS: „Ja, und wenn der Blatter von der Fifa sagt, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen bei der WM in Katar besser auf jegliche Sexualität verzichten solle und alle rumkichern, dann meint er bestimmt bloß Schweinsteiger und Poldi.“ Ich nicke zustimmend mit dem Kopf. Hätte man das jetzt auch bei geöffnetem Fenster sagen können? Katar ist doch Ausland? Aber bei der Fifa ist der DFB Mitglied, und der sitzt ja nun mal in Deutschland.

Mit Gebärdensprache formuliere ich den Satz: „In Litauen sollen jetzt Menschen, die ‚Werbung für Homosexualität‘ machen, 3.000 Euro Strafe zahlen. Das ist aber auch nicht schlimm, weil Werbung an sich ist ja auch doof.“ Mein Mann antwortet, indem er mit Kreide auf den Fußboden malt: „Aber Litauen ist doch EU? Darf man das dann nicht laut sagen?“ Als Nächstes mache ich das Fenster auf und schreie auf die Straße: „Im Irak werden Homosexuelle umgebracht.“ Das ist auf jeden Fall vertretbar.

Es wurde uns irgendwann zu anstrengend, weil man einfach nie weiß, wann etwas angebracht ist und wann nicht. Ich sprach von nun in an in normaler Lautstärke: „Hast du gesehen, Kristina Schröder ist schwanger – war bei Bildauf Seite eins.“ Mein Mann fragte bloß: „Ach, und warum ist das ein Thema? Eine Ministerin hatte ungeschützten Geschlechtsverkehr und jetzt hat sie einen dicken Bauch, na und?“ Entrüstet sprach ich: „Also bitte, natürlich ist das ein Riesenthema. Da geht es um die Selbstbestimmung der Frau, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, solche Sachen. Geschlechtsverkehr!“

Mein Mann verstand jetzt langsam die Welt nicht mehr. „Okay, aber das mit dieser Ministerin hat doch nichts mit dem Ausland zu tun. Das ist doch eine deutsche Ministerin, und im Grundgesetz steht, dass Frauen die gleichen Rechte haben. Die Bundeskanzlerin ist auch eine Frau. Gleich ist gleich. Also mach bitte das Fenster wieder zu.“

Er hat ja recht. Wer will schon ständig mit diesem nervigen Untenrum-Schmuddelkram zu tun haben. Es sei denn, er findet im Ausland statt. Schicken Sie mir bitte eine Mail, falls Ihnen dortige Missstände zu Ohren

Kolumne 69

27.12.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Wer hat die Parkkralle an meinem Konto befestigt?

WER EIN GUTES FINANZAMT HAT, MUSS SICH VOR DEN TAGEN NICHT MIT GESCHENKEKAUFEN PLAGEN

Dieses Jahr kam vom Finanzamt keine Weihnachtskarte. Stattdessen war plötzlich die EC-Karte gesperrt – einen Tag vor Heiligabend. Noch nicht ein Geschenk gekauft. Keine Kartoffeln im Keller, keine Würstchen im Eisschrank, kein Wein im Regal.

Herauszufinden, wer die Sperrung veranlasst hatte, bedurfte schon einigen Geschicks. Bei der Bankfiliale weiß niemand von nichts, das Pfändungswesen wurde outgesourct. Wer sich bei den Outgesourcten erkundigen möchte, braucht eine Telefon-PIN. Hat man eine erlangt und einen Outgesourcten an der Strippe, darf dieser keine Auskunft erteilen, wer die Parkkralle am Konto befestigt hat: „Ach wie, Sie dürfen mir nicht sagen, wer mein Konto gepfändet hat … hm … fängt der oder diejenige mit dem Buchstaben F an?“. Es folgte ein bedeutungsvolles Schweigen, und dann ahnt man, wo die Reise hingeht.

Mein Finanzamt liegt abseits herkömmlicher Verkehrswege. Durch Eis und Schnee muss man stapfen bis zu einem Gebäudekomplex, groß wie das Pentagon oder Ceaucescus Palast. Durch endlose Flure muss man wandeln, Treppen erklimmen, Gebäudeteile erlangen. An unzähligen Türen muss man klopfen, mal sind sie verschlossen, mal wird man ver-, mal abgewiesen. Doch endlich hatte ich Frau Klabauter gefunden, meine Sachbearbeiterin, die zu bearbeiten ich gekommen war. „Das sieht nicht gut aus“ sagte sie nur, „das sieht nicht gut aus“, während sie meine Akte studierte, „Sie haben zwei Quartale lang keine Vorsteuer gezahlt“. Vorsteuer, das ist eine Steuer, die man für Geld bezahlt, das man noch gar nicht verdient hat. Und die Summe, die man für Geld bezahlt, das man vor zwei Jahren noch nicht verdient hat, kann nachträglich erhöht werden oder so ähnlich.

Frau Klabauter und ich diskutierten nun anhand meiner Kontoauszüge der letzten drei Monate meine Lebenshaltungskosten im Detail, dabei wuchs in mir die Ahnung, dass mein Mann keine Weihnachtsgeschenke bekommen würde. Doch so schnell darf man nicht aufgeben.

Nach einer Stunde hatte ich eine Bescheinigung in der Hand, die mir eine vorläufige Aufhebung der Pfändung meines Kontos attestierte. Marschierte weiter durch Eis und Schnee, um eine Bank zu suchen. In der Bank wusste niemand von nichts, man faxte die mehrfach bestempelte Bescheinigung stattdessen an die Outgesourcten, „dauert zwei bis drei Tage“. Ob man denn etwas Bargeld abheben könne? Es ist ja Weihnachten? Geschenke? Kartoffeln? Wein? „Da muss ich erst mal schauen, ob schon Sozialleistungen bei Ihnen angekommen sind.“ Am Schalter rechts brach eine alte Dame in Tränen aus, ein mittelalter Herr mit Migrationshintergrund zur Linken bekam mündlichen Bescheid: „Nix Geld“.

Nix Geld. Nix Weihnachten.

Oder doch? Gut nur, dass mein Mann einen Rettungsschirm über mich spannte. Er hatte schon Kartoffeln gekauft und Würstchen und Wein. Den Weihnachtsbaum klaubten wir kostenlos aus dem Wald – abgebrochene Kiefernzweige, die mit Kugeln und Lametta behangen echt was hermachen. Und Geschenke gab es auch – für mich.

Mich kann in diesem Jahr wirklich niemand des Konsumterrorismus bezichtigen. Stattdessen habe ich mitgeholfen, Griechenland zu retten, das Bankensystem und sogar Portugal, wo mein Mann so gern mal wieder hinfahren würde. „Danke dafür“, sagte er und nahm mich in den Arm. Jeder, wie er kann.

Kolumne 68

29.11.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Für mehr Sicherheit und Sauberkeit

WENN ES IN ACKERBÜRGERSTADT EINEN WEIHNACHTSMARKT GÄBE – WIR GINGEN NICHT HIN. VIEL ZU GEFÄHRLICH

An dieser Stelle weiterzulesen ist völlig ungefährlich, denn diese Zeilen sind in einem Panic-Room verfasst. Es handelt sich um die Dachkammer unseres Häuschens. Von hier aus kann man über die Dächer Ackerbürgerstadts blicken und den Scharfschützen der GSG 9 zuwinken, die sich auf dem Kirchturm verschanzt haben. Zuvor hat mein Mann sämtliche Türen des Hauses zwei- bis dreimal verriegelt. Zusätzlich habe ich die Bodenklappe geschlossen und eine schwere Truhe aus abendländischem Eichenholz, das sich gut zur Herstellung von Särgen und Kruzifixen eignet, über sie geschoben. Hier kommt niemand hinauf, schon gar nicht mit Gepäck unbekannten Inhalts.

Es kann wirklich nichts mehr passieren. Wir haben eine neue Firewall um unser drahtloses Netzwerk gezogen. Unsere Datenvorratspeicher sind bis an die Oberkante der Festplatte gefüllt. In tönernen Krügen lagert Mehl und Zucker, sauer Kraut ruht in Gläsern und süßes Obst in Konserven. Das Auto wurde mit regelkonformen Allwetterreifen ausgerüstet und ist vollgetankt mit leider explosiver Flüssigkeit. Ich habe mir neue Schnürsenkel gekauft, weil mir die alten nicht nachhaltig erschienen und es ein schlechter Treppenwitz wäre, würde einem ausgerechnet ein offener Schuh das Genick brechen in solchen Zeiten der Bedrohung.

Wir haben Lebensversicherungen abgeschlossen, irische Butter gekauft und griechischen Wein, weil Kapitalismus ja auch viel mit Psychologie zu tun hat. Die Barschaft lagert im Kopfkissen, mit Naphtalin versetzt, der Motten wegen. Die Katzen haben wir prophylaktisch mit Antibiotika vollgepumpt, auf unserer Haut tragen wir einen Schutzschild mit Lichtschutzfaktor 30. Geraucht wird nur noch mit Aktivkohlefilter-Spitze, Anrufe werden auschließlich mit unterdrückter Rufnummer getätigt.

Ausflüge, Bahn-, Bus- und Aeroplanreisen sind abgesagt. Dank gezielten Einkaufs in einem Fachgeschäft für gleichgeschlechtliche Lebensweisen konnte die Wandstärke der Präservative verdoppelt werden. Sekt kommt nicht mehr ins Haus, der knallenden Korken wegen. Ich habe einen Termin zur Zahnreinigung gemacht und das Badezimmer mit Fungiziden eingesprüht.

Der Luftraum über unserem Haus ist gesperrt, der Gashahn zugedreht. Die Profile in sämtlichen Internetcommunitys sind gelöscht sowieso alle Spuren verwischt. Sogar unsere eigenen Gepäckbehältnisse haben wir im Garten in die Luft gejagt. Doch nun klopft es an der Tür.

Nicht leise und auch nicht zaghaft. Im Gegenteil höre ich das Wummern bis in den dritten Stock. Mein Mann schläft – Ruhe ist erste Bürgerpflicht – zugedröhnt mit Beruhigungsmitteln in der eichenen Kiste, die ich über die bloß kieferne Bodenklappe geschoben habe. Mit klopfendem Herzen schiebe ich die Kiste zur Seite und öffne vorsichtig die Klappe. Langsam schreite ich die Treppe hinab. Wer mag das sein dort unten? Die Bundeswehr im Inneren? Der Sensemann? Die Gleichstellungsbeauftragte des Landes Brandenburg? McKinsey?

Nachdem ich die Sandsäcke zur Seite gewuchtet und den Schlüssel dreimal umgedreht hatte, erblickte ich das Gesicht der geliebten Schwiegermutter: „Kinder, heute ist der 1. Advent! Wollnwa nich zum Weihnachtsmarkt?“ Gegen eine asymmetrische Bedrohungslage ist man eben letztendlich machtlos.

Kolumne 67

1.11.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Nicht über unserem Garten

ZWECKLOS? SINNLOS? KEINESWEGS: AUCH EINE ZWEIMANNBÜRGERBEWEGUNG KANN ERFOLGREICH GEGEN HIMMELSVERSCHMUTZUNG VORGEHEN

Unsereins kennt aus Berufung überproportional viele Flugbegleiter – in homosexuellen Kreisen werden sie liebevoll „Saftschubsen“ genannt. Es sind meist freundliche, ein wenig überpflegte Gesellen mit allerlei überraschenden Kenntnissen. Sie wissen zum Beispiel, wo genau in Bangkok EU-Führerscheine erhältlich sind und in welcher New Yorker Filiale von Abercrombie & Fitch eine bestimmte Socke am billigsten ist. Besucht man sie in ihren nur selten genutzten, aber dafür umso aufwendiger gestalteten Wohnungen, bekommt man an der Haustür meist tuffige One-Way-Pantoffeln aus Frottee gereicht, in die mit güldener Wolle die Inschrift „Kempinski Dubai“ gewirkt wurde.

Das alles tut niemandem weh. Aber so wenig man täglich Tomatensaft trinken möchte, so wenig möchte man, dass diese Leute jeden Tag mit irrem Krach über einen hinwegfliegen. So empfinden es zumindest die Bürger im Süden der Hauptstadt Berlin, deren Volkszorn nun aufwallt ob der neuen Landeanflugsrouten des noch im Bau befindlichen Berlin-Brandenburg-Airports.

Während es nun im Süden wallt, knallen in anderen Teilen der Stadt schon mal die Sektkorken – in Vorfreude auf Stille und Besinnlichkeit. Ein befreundetes lesbisches Paar zum Beispiel lebt seit Jahren in Angst vor Ostwind. Dann nämlich düsen die Jets im Anflug auf Berlin-Tegel in gefühlten drei Metern Abstand über die Rattenschwanz-Radieschenbeete ihres Schrebergartens.

Ein befreundetes schwules Paar aus der die Landebahn vorwegnehmenden Florastraße in Pankow hatte sich schon längst damit abgefunden, dass die Butter immer nach Kerosin schmeckt. Und ein Freund aus dem Wedding wäre nie auf die Idee gekommen, sich bei Facebook anzumelden, weil die Welt sowieso täglich in seine Küche glotzt – im Landeanflug.

Auf dem Tempelhofer Feld, ehemals Revier der Turbopropmaschinen, wiegt sich derweil die Langgraswiese im Winde während das Volk lustwandelt statt wallt. Des einen Leid, des anderen Freud.

Nur bei uns in Ackerbürgerstadt bleibt alles beim Alten: Zu uns kommt der Jetset nämlich stets zuerst. In 1.000 Metern Höhe nähern sie sich, und möchte man in den stahlblauen Himmel schauen, um sich zu erquicken, blickt er stets zerfurcht zurück. Weiße Kondensstreifen mäandern und verknoten sich, dass es ein Graus ist. Die weit tiefer als die Metallvögel fliegenden – ach was: majestätisch gleitenden – Kraniche werden so ihres hübsch anzuschauenden Himmelszelt-Passepartouts beraubt.

Die Wahrheit ist, dass das unseren shoppenden, Sicherheitsballett aufführenden Flugbegleiterfreunden völlig egal ist. Ungefähr so wumpe wie bislang den Südberlinern, denen vielmehr die kurzen Wege zu den innerstädtischen Berliner Flughäfen wohlige Schauer über den Rücken jagten.

Meinem Mann und mir bleibt nun wohl nichts anderes übrig, als eine Zweimannbürgerbewegung gegen Himmelsverschmutzung in Ackerbürgerstadt zu gründen. Zwecklos? Sinnlos? Keineswegs: Damit wären wir ja Teil der größten Bewegung der Welt. Einer Bewegung, die weit größer ist als jene der Schwulen, die Anti-AKW-Bewegung und die kassenärztliche Vereinigung zusammen: Der „Not in my Backyard“-Bewegung nämlich. Damit wären wir dann wirklich in der Mitte der Gesellschaft angekommen.