Kolumne 66

4.10.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Ackerbürgerstadt 21

UNSER UNTERMIETER WILL DEN STÄDTISCHEN BAHNHOF KAUFEN. NUN KOMMEN AUCH WASSERWERFER UND PFEFFER ZUM EINSATZ

Auch in unserer kleinen Ackerbürgerstadt im Brandenburgischen gibt es einen Bahnhof. Einmal in der Stunde fährt der dieselbetriebene Bauern-TGV in Richtung Berlin, bloß das eigentliche Bahnhofsgebäude ist schon lange nicht mehr in Betrieb. Als Reisender muss man bei Herbststürmen mit einem kleinen Wartehäuschen vorliebnehmen, dessen Scheiben jedoch regelmäßig von der hier ansässigen Generation Porno entfernt werden.

Das Bahnhofsgebäude selbst gehörte bis vor kurzem dem Chinesen. Die Investoren selbst hatten jedoch nie auch nur einen Fuß in das eigentlich recht charmante Gebäude gesetzt, sondern stattdessen irgendwann beschlossen, ihr Kapital lieber nach Afrika zu transferieren, als es in nicht mehr genutzten Liegenschaften der Deutschen Bahn AG verotten zu lassen.

Seit irgendeinem verregneten Mittwoch gehörte der Bahnhof wieder der Sadt. Und nun hat unser Untermieter Siegfried dort einen offiziellen Antrag gestellt – mit dem Anliegen, den Bahnhof von Ackerbürgerstadt zu erwerben. Daraufhin hatte sich sogar die mit Feuerwehrfesten überlastete Lokalpresse eingeschaltet: „Stadtbekannter Ackerbürger will Ackerbürgerstadts Bahnhof erwerben“ stand dort zu lesen. „Stadtbekannt“ war nicht weiter ausgeführt. Aber Eingeweihte konnten daraus lesen, dass es sich nur um Siegfried handeln konnte.

Also jenen Siegfried, der gerade aus seiner ebenfalls in Stadtbesitz befindlichen Wohnung geflogen ist und nun in einer uns gehörenden Ruine haust, weil er in seinem freundlich-derangierten Zustand nie wieder eine Wohnung bekommen wird. Ohne übrigens dass sich jemand in Ackerbürgerstadt für ihn zuständig fühlen würde.

Um den Bahnhof macht man sich schon eher Sorgen. Seit Tagen nun schon versammeln sich Mitarbeiter der Verwaltung, der Bürgermeister, die Feuerwehr und zwei Polizeibeamte in Freizeitdress vor der Ruine und skandieren: „Der Bahnhof bleibt.“ Etwas konsterniert standen mein Mann und ich in Siegfriedes Zimmer. Überall lagen Bahnhofs-Baupläne, Antragsformulare und Drohbriefe der unteren Baubehörde sowie des Denkmalschutzamts. Unser Untermieter hatte alle formalen Antragswege korrekt beschritten, die Behörden mussten also auch mit entsprechenden Papierbergen reagieren. „Sag mal, Siegfried, willst du denn wirklich den Bahnhof kaufen und dann darin wohnen?“, fragte ich. „Ich lebe von Hartz IV, das wären doch viel zu viele Quadratmeter. Aber ich denke, dass man den Bahnhof unter die Erde legen könnte, dann hätte man oben mehr Platz“, antwortete er.

Unten auf der Straße skandierten nun zwei oder drei Verwaltungsmitarbeiter die Nationalhymne. Siegfried sagte daraufhin nur: „Das mit dem Geld ist kein Problem. Ich besorge mir das auf dem Hypothekenmarkt, und falls es dann durch negative Ratingänderungen Probleme geben sollte – also im Sinne von Risikoaversionen von Investoren gegenüber kreditrisikobehafteten Anlageinstrumenten –, dann gibt es eben einen Liquidiätsengpass und das zahlen dann die da unten. Oder irgendjemand.“

So richtig verstanden hatte ich das nicht, aber wir unterstützen sein Projekt Ackerbürgerstadt 21, weshalb mein Mann nach unten lief, um den Gartenschlauch zu holen und ich den Pfefferstreuer. Unser Siegfried, der ist nämlich der Hauptmann von Ackerbürgerstadt.

Kolumne 65

6.9.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Rostige Raben nach Polen tragen

EIN NACHBARSCHAFTLICHER BESUCH ANLÄSSLICH DES 30-JÄHRIGEN SOLIDARNOSC-JUBILÄUMS

Nach Polen fährt man am besten mit leerem Tank und vollem Kofferraum. Unsere Freunde jenseits der Grenze sind sehr gastfreundlich; unfreundlich ist es daher, kein Gastgeschenk bei sich zu haben.

Im Vorfeld der Reise fuhren mein Mann und ich also zum Baumarkt. Sogleich fand ich für Agatha ein Paar Arbeitshandschuhe in Laura-Ashley-Optik. Und dann wussten wir erst mal nicht weiter. Es sollte ja etwas Nützliches sein, das zugleich einen verheißungsvollen Touch von Überflüssigkeit beinhaltet. Also ein Geschenk, das den Bedürfnissen des derzeitigen Wohlstand-Standards von Mirek und Agatha entspricht – sie zum Beispiel arbeitet in einer Fabrik und verdient im Monat 300 Euro.

Solarbetriebene Gartenleuchten hatten sie ja schon. Wir entschieden uns schließlich für ein riesiges Metallgestänge, das zwei rostige Raben auf einer Wippe trägt und zur Dekoration dient – nicht ohne vorher fachlichen Rat zu erbeten, ob meiner Bedenken: „Ist es denn angebracht, seinen polnischen Freunden verrostete Metallgegenstände zu schenken?“ Der Baumarkt-Fachmann für Dekorationselemente antwortete: „Klar, ditt is jetzt doch allet EU. Ditt is Standard.“ Aus dem gleichen Grund bekommt man übrigens auch kein Unkrautvernichtungsgift mehr für den Privatgebrauch, wie wir nebenbei erfuhren: „Ick kann Ihnen ditt nur verkaufen, wenn Sie danach nachweislich Thymian zwischen Ihren Bürgersteig-Ritzen anpflanzen wollen.“

Der Sinn all dessen erschloss sich mir erst auf der anschließenden Überlandfahrt in Richtung polnischer Grenze. Traktoren groß wie die Queen Mary sprühten tonnenweise Unkrautgift auf die Felder – die dürfen das, weil sie danach ja wieder Raps anbauen wollen. Ganz legal wird hier gesprüht, bis der Maulwurf kotzt.

Hustend röchelnd und erleichtert überschritten wir die polnische Grenze bei Küstrin, dort auf Werbetafeln als „Preisgrenze“ bezeichnet, und tankten erst mal voll. Fuhren anschließend über endlose Alleen und an der fast überlaufenden Oder entlang. Mein Mann bekam ganz feuchte Augen, weil es hinter der Oder noch immer genauso aussieht wie im Brandenburgischen zu Zeiten der DDR. Verwinkelte, nicht modernisierte und pittoresk klapprige Häuschen. Verwitterte Babuschkas mit Kopftüchern und – Achtung, Achtung – jungeMenschen.

Zur Begrüßung gab es erst mal Krautwickel mit Tomatensoße. Ein bisschen nervös präsentierten wir unsere rostigen Raben. Und waren erleichtert, als wir in die leuchtenden Augen von Mirek und Agatha sahen, die sogleich einen Platz für die Raben in ihrem Garten suchten. Erleichtert auch, weil Mirek nicht gleich in die Garage ging, um Entrostungsmittel zu holen.

Als es schon dunkel war, gingen wir noch ein wenig spazieren, um dann hinter dem Haus plötzlich völlig aus dem Häuschen zu geraten. Ein gleißendes Licht blendete uns. Es war, als ob ein UFO gelandet sei oder der Flughafen Berlin-Brandenburg aus Versehen in einem kleinen Dörfchen jenseits der Oder eröffnet hätte. Auf dem Feld hinter Mirek und Agathas Anwesen wurde ein riesiger Gasförderturm in die Erde gerammt.

Als wir dann am Ende des Tages in der Eheleute rosa gestrichenem Schlafzimmer lagen, ohne dass irgendwo in Polen ein Papst-Bild von der Wand gefallen wäre, sagte mein Mann halb im Schlaf: „Polen ist ja so was von EU.“

Kolumne 64

9.8.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Nazis kann man einfach abknibbeln

UNSER BRANDENBURGISCHES ACKERBÜRGERSTÄDTCHEN IST KLEIN. DAHER WIRD HIER UM JEDEN QUADRATZENTIMETER GEKÄMPFT

Die Nazis sind schon wieder da. Die letzten hatte das LKA Brandenburg weggeräumt, nachdem sie ein Haus zwei Straßen weiter in Beschlag genommen hatten. Bei unseren neuen Nazis handelt es sich jedoch vom Alter her um Debütanten, weder sind sie trocken hinter den Ohren noch haben sie die Mittel, sich ein eigenes Haus anzueignen. So versuchen sie es nun mit dem öffentlichen Raum. Als Erstes verschwand das Plexiglasschild, das an der Außenmauer des ehemaligen Kleinstadtkinos angebracht war: „Hier sprach einst der Arbeiterführer Karl Liebknecht zu den Bürgern von Ackerbürgerstadt“. Schade um dieses Kleinod, das den Niedergang des öffentlichen Lebens in dieser Stadt ohne Kino, Arbeitsplätze und Zukunft beschilderte.

Die Jungnazis huben nun an, ihrerseits Botschaften anzubringen, nämlich in Form von allerlei NPD-Aufklebern an Regenrinnen, Rollläden, Laternenpfählen, Tisch und Wänden. „Können die ihre Message nicht einfach ins Internet kotzen wie alle anderen auch?“, fragte ich meinen Mann genervt, während ich die Leiter festhielt, auf die er geklettert war, um den Fenstersturz zu reparieren, „und wer ist bitte auf die Idee gekommen, sich Plastestörche auf den Dachsims zu stellen, drehen die jetzt hier total durch?“ Unsere kleine Stadt ist mir manchmal unheimlich, aber ich ihr womöglich auch – dachte ich in dem Moment, als einer der beiden Störche auf dem Sims einfach wegflog. Unsere Nachbarin kam dazu, um die Leiter zusätzlich zu beschweren. Sie erläuterte mir die lokale Lichterkettenstrategie: Abknibbeln. Die Bürgerschaft ist rund um die Uhr damit beschäftigt, die Aufkleber der Jungmänner wieder zu entfernen, was manchmal fummelig ist.

Um die Ecke schwankte nun ein alkoholisierter älterer Ackerbürger; Hartz IV. Er hielt sich an der Leiter fest, auf der noch immer mein Mann stand, um zu hämmern. „Die Scheißschwulen da von der Regierung in Berlin“, lallte er, „die machen uns alle fertig.“ Ich sagte erst mal nichts, weil ich nach dem Erlebnis mit den Störchen dachte, dass ich mir diesen Satz bestimmt bloß einbilde. Der betrunkene Bürger flog dann auch einfach weiter. „Hat der das wirklich gesagt?“, fragte mein Mann vom oberen Ende der Leiter. „Hat er“, sagte die Nachbarin.

Später gingen wir noch ums Karree, um unseren Beitrag zur politischen Hygiene zu leisten. Der Mond schien helle und die Straße war erfüllt von Mozart. Ich knibbelte einen Aufkleber von einem Stromkasten und erblickte am Fenster jenes Hauses, aus dem die Musik erklang, ein von innen angeklebtes Poster mit einem halbnackten Modelmann darauf, der auf diese Weise direkt in unseren Garten blickte. Der Störche wegen sagte ich erst mal gar nichts dazu.

„Hat Siegfried uns zuliebe hingehängt, er sagt, wir sollen auch mal was Schönes zum Anschauen haben“, erklärte mein Mann, der nun einfach in das Haus ging. Siegfrieds Türen stehen immer offen, bei ihm gibt es nichts zu stehlen, und den Verstand hat er auch verloren. Er deckte Siegfried zu, der völlig betrunken auf seiner Couch lag, und breitete per On-/Off-Taste einen Mantel der Stille auf die Stadt. „Siegfried hatte heute Geburtstag, und wir waren eingeladen. Verdammt“, sagte mein Mann. Vor lauter Abknibbeln hatten wir nicht ernst genommen, dass uns ein ganzes Fenster im öffentlichen Raum geschenkt war, hundertmal so groß wie ein Nazi-Aufkleber.

Kolumne 63

12.7.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Die ganze Welt bloß eine Bühne

GERADE AUF REISEN MUSS MAN IN SO VIELE ROLLEN SCHLÜPFEN, DASS MAN MIT DEM WECHSELN KAUM HINTERHERKOMMT

In meinem alten Jugendzimmer sieht es aus wie früher. Pressspan aus den Achtzigern, und an der Wand hängt noch die Maske aus der Grundschule, schwarz-weiß angemalt und „selbst gebastelt“ seinerzeit, mit feuchten Gipslappen. Sie ist ein Abdruck meines Gesichts im Alter von 6 Jahren – sie passt mit 37 nicht mehr.

Eine Reise durch den Südwesten hat mich hergeführt, zu meinen Eltern, die in der Nähe der Mosel leben. Die Maske passt nicht mehr, aber ich bin nun wieder Kind. Die Rolle: Sohn. Sie ist ungewohnt, aber macht auch vorübergehend frei von Verantwortung, Finanzamt, Konferenzwesen und was sonst noch so als „Ernst des Lebens“ beschrieben wird. Was kann schon passieren, wenn Mutters Kartoffelsalat wie immer schmeckt und das Feuer im Grill genauso prasselt, als hätte es die letzten 30 Jahre nicht gegeben, und Vaters Jacke einen wärmt, nachdem es kühl geworden ist am Abend.

Noch zwei Tage zuvor, in Freiburg, war die Rollenzuschreibung eine andere: Autor bei einer Lesung. Man kann diese Rolle gestalten, auch wenn man gewisse Anforderungen erfüllen muss, wenn Menschen Geld dafür bezahlen, um einem zuzuhören. Man muss keine kunstreligiöse „Krawehl Krawehl“-Performance daraus machen, aber die Grundsituation ist immer gleich: Ein Autor setzt sich an ein Tischchen und hat ein Mikrofon vor dem Gesicht. Das Publikum hört zu, und man ist vorübergehend frei von der Verunsicherung, nicht verstanden zu werden, fremd zu bleiben. Das Lachen, die Reaktionen, all das vermittelt Geborgenheit. Aber nur, wenn es klappt und man nicht ausgebuht wird. Ist aber gut gegangen, sogar ein Text über „Darkrooms“ wurde beklatscht.

Gestern dann wartete eine ganz andere Rolle auf mich, in Stuttgart: Onkel. War das toll, als mein vierjähriger Neffe außer sich vor Freude war, als er endlich seinen Onkel begrüßen konnte, nach so langer Zeit. Und dann sind wir schwimmen gegangen, und ich war sein Held, der ihm zeigt, wie man unter Wasser Handstand machen kann, und ihn auf dem Rücken quer durch das Becken chauffiert. Alles, was man sich so wünscht von einem Onkel, hat er bekommen. Sogar Pommes mit Ketchup und Eis mit Banane und Schoko. 2 Stunden lang nur der nette Onkel sein, das ist die beste aller Rollen: „Ich hab dich lieb, Onkel Martin!“ Dass Onkel Martin schwul ist, ist ihm total egal.

Aber war da nicht noch eine andere Rolle? Aber ja, die des liebenden und sorgenden Ehemanns. Mein Mann sitzt gerade allein im Lehnsessel auf seiner brandenburgischen Scholle, er konnte leider gar nicht mitfahren. Ich werde nun also alles tun, um auch dieser Rolle gerecht zu werden. Spießbraten aus der Heimat mitbringen, den er so gern isst. Wein kaufen an der Mosel und Mutters Marmeladenregale abräumen.

Und wenn ich wieder nach Hause fahre, zurück in mein richtiges Leben, dann werde ich alles mit ihm teilen. Vor allem die schönen Erlebnisse, die ich auf der Reise hatte – vielleicht ziehe ich dazu einfach eines seiner Hemden an, weil sich das immer so gut anfühlt und auch weil das eben geht, wenn zwei Männer verheiratet sind und die gleiche Größe haben.

Mag auch die Maske aus Kindertagen lange nicht mehr passen – ich brauche ja gar keine. Wer alle seine Rollen gut spielt, der braucht sich nicht zu verstecken. Auch völlig nackt ist man am Ende nur man selbst.

Kolumne 62

14.6.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Auf den Hund gekommen

DA RINGT MAN JAHRELANG UM DIE HOMOEHE – UND AM ENDE WOLLEN ALLE DOCH BLOSS EINE HUNDESTEUERMARKE HABEN …

Es gibt Menschen, die sagen, der Grand Prix sei in Deutschland seit Lena eine heterosexuelle Veranstaltung. Ich kann aber zunächst nur erklären, warum mein Mann und ich einer eigentlich rein homosexuellen Eurovisions-Public-Viewing-Party in Berlin fernblieben: Der Gastgeber hatte die Veranstaltung kurzfristig abgesagt, weil sein gerade angeschaffter Hund mit so vielen Gästen überfordert gewesen wäre. Den Hund wiederum hat er sich bloß angeschafft, weil es mit der künstlichen Insemination bei einem befreundeten lesbischen Paar nun schon zum fünften Mal nicht geklappt hat.

Die Party, an der wir nicht teilnahmen, wurde nun wegen des jungen Hundes in einen heterosexuellen Kontext verlegt, was zu ungeahnten Konflikten führte: Die Hetero-Typen auf der Grand-Prix-Party führten sich laut Auskunft unserer Freunde schlimmer auf, als es beim WM-Public-Viewing erlaubt ist, und pöbelten vereinzelt ausgelassen tanzende Homos an, die daraufhin die Party frühzeitig verließen – und das in Berlin-Mitte.

Die vergraulten Homos gingen danach in eine kleine schwule Kellerbar in dem eben genannten Stadtteil, um unter sich zu sein. Was aber nicht möglich war, weil überall überdimensionierte Hunde herumstanden oder lagen. Es ist alles ein Durcheinander und niemand weiß mehr so richtig, wo sein Platz ist.

In meiner Zeitung zum Beispiel schreiben nun die Heteros raumgreifend über den Eurovision-Song-Contest, während die WM-taz von einem Homo verantwortet wird. Eine Zunahme von Hunden in der Redaktion konnte ich jedoch bislang nicht feststellen.

Das mit der Eurovision hat ja nun bei meinem Mann und mir nicht geklappt, doch Gott sei Dank hat die schwule Saison gerade erst begonnen. Als es aber um einen gemeinsamen Termin für den Besuch des schwul-lesbischen Stadtfestes in Berlin-Schöneberg ging, erhielt ich aus dem Freundeskreis die Ansage, dass man an diesem Wochenende zu Peter fahre, der mit seinem neuen Hund (!) auf dem Lande eine Party gäbe. Mit WM-Public-Viewing. Was kommt denn bitte als Nächstes? Fällt der CSD aus, weil Deutschland gegen Litauen spielt?

Das wäre übertrieben. Eher kommt niemand zum CSD, weil die laut wummernde Musik nichts für empfindliche Hundeohren ist und man auch nicht möchte, dass sich einer der vierbeinigen Gefährten während der Parade einen Glassplitter in die Pfoten läuft. Wenn das so weiter geht, verpassen mein Mann und ich in diesem Jahr sämtliche Großveranstaltungen und verlieren zudem den Anschluss in Fragen zeitgemäßen Tierbesitzes. Das würde bedeuten, das wir einsam auf dem Land hocken und unleidlich unsere Katzen streicheln. Den Heteros gehört der Grand Prix, die Homos gucken stattdessen WM und sind dermaßen auf den Hund gekommen, dass man auf Facebook glaubt, einen Online-Versandhandel für Welpen betreten zu haben.

Man ringt jahrelang um die Homoehe, und am Ende wollen sie bloß eine Hundesteuermarke. Und machen einen größeren Bohei um ihren Hundenachwuchs als drei Spätgebärende aus dem Frühförderungskurs.

Rettend war da nur die Party-Einladung eines Freundes, der als Modeschöpfer arbeitet, einen Papagei hat und sich zum Geburtstag keine Fußballschuhe wünscht, sondern solche aus Krokolederimitat. Das hat etwas Verlässliches.

Kolumne 61

17.5.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Kevin der Frühblüher

AUCH WENN JETZT JA FRÜHLING IST: DAS KLIMA FÜR JUNGE SCHWULE IST GERADE UNGÜNSTIG. NICHT NUR, WEIL ES STÄNDIG REGNET

Neulich sahen mein Mann und ich einen überständigen Frühblüher im brandenburgischen Supermarkt, der noch nicht umgetopft war. Ein junger Mann, der seine Freundin umso heftiger um die Taille fasste, je mehr er mit uns flirtete. Mal sehen, wie lange diese junge Pflanze noch braucht, bis sie dann doch mal aus ihrem Topf herauskommt, dachten wir grinsend.

Der Boden, auf dem er gedeihen könnte, ist ja eigentlich ganz gut bestellt. Sagen wir mal, er ist genau 18 Jahre alt. Dann wurde im Jahr seiner Geburt, 1992, Homosexualität erstmals nicht mehr im ICD-Katalog der WHO als Krankheit aufgeführt. Zwei Jahre später wurde der Paragraf 175 endgültig aus dem Gesetzbuch der BRD gestrichen. Zu diesem Zeitpunkt war ich 19 Jahre alt und keineswegs so weit, aus meinem Topf zu kommen. Im Gegenteil: Ich umfasste lieber die Taille meiner Freundin, deren bloße Existenz mir bewies, dass ich am sicheren, nämlich richtigen Ufer stand, und nicht etwa am anderen.

Wir machten uns bei der Heimfahrt Gedanken, warum sich noch immer junge Männer an den Hüften von jungen Frauen festhalten, obwohl wir das Jahr 2010 schreiben. Klar, die Bewusstwerdung der eigenen Sexualität ist ein Prozess, und manchmal dauert es eben, bis man herausgefunden hat, wen man wirklich begehrt. Aber jetzt, wo sich doch sogar Ricky Martin „bekannt“ hat? Der allerdings vom Alter her der Vater des brandenburgischen Frühblühers sein könnte. Auch ganz schön lange im Topf geblieben.

Ob es wirklich Mut macht, wenn man als junger Mensch sieht, wie ein solches Outing einen weltweiten Medienhype auslöst? Es ist zwar nicht wahrscheinlich, dass er der Regionalzeitung einen Aufmacher wert wäre, wenn – nennen wir ihn ruhig Kevin, da es ja auch um Klischees geht – sich mit seinen 18 Jahren zur gleichgeschlechtlichen Liebe bekennen würde. Regionalzeitungen sind familienfreundlich, daher stehen Homosexualität, Pornografie und andere jugendgefährdende Themen dort meist nicht auf der Agenda. So wie es zum Beispiel im Hotspot-Bereich von McDonald’s aus Gründen ebenjener Familienfreundlichkeit nicht möglich ist, die Website der Siegessäule, einer schwul-lesbischen Stadtzeitung, zu öffnen.

Aber gehen wir davon aus, dass Kevins Eltern keinen Schmutz-&-Schund-Filter in ihrem Heimnetzwerk haben und er freien Zugang. Falls nicht, würde sich Kevins derzeitiges Bild von Homosexualität aus den frei ausgestrahlten Medien formen. Außer Ricky Martin, der sich anlässlich seines Coming-outs sogleich bemüßigt fühlte, sich erstmals splitternackt in einem Promo-Video zu zeigen, wären da im Moment bloß: Kleriker, die im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sagen dürfen, Homosexualität sei eine Sünde. Ich bin aus diesem Grunde nun „bekennender“ Hans-Ulrich-Jörges-Fan, weil der in einer Talkshow zum Thema Missbrauch einen predigenden CDUler als „klebrig“ bezeichnet hat. „Sie klebriger Mensch!“, das muss man sich merken. Das wäre doch mal ein Wort, das man Leuten entgegnen könnte, die einem ihre Ablehnung so offen ins Gesicht sagen. Eigentlich bräuchte man selbst einen Filter, der den ganzen Schmutz & Schund von einem fernhält. Und Kevin erst recht.

Wir hoffen nun, dass er es trotzdem bald schafft mit der Umtopfung. Die nächste Großstadt ist bloß achtzig Kilometer entfernt. Kevin, du machst das!

Kolumne 60

19.3.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Schwule haben Bälle

HOMOSEXUALITÄT IST KEIN ABENDFÜLLENDES THEMA MEHR, SONDERN ZURZEIT EINES FÜR DEN LIEBEN LANGEN TAG

Ist das eigentlich Homo-feindlich, wenn man als Homo mit Ballsportarten nichts anfangen kann – so wie ich? Tut mir echt leid, ich weiß ja, dass die Nation dringend auf einen schwulen Fußballprofi wartet, weil es ihr gerade langweilig ist und das mit dem Außenminister nun so viel Spaß auch nicht macht. Auf den hatte man aber auch nicht unbedingt gewartet.

Mein Mann kann auch nicht Fußball spielen, dafür baut er zum Beispiel Häuser. Leider interessiert sich jedoch derzeit niemand für Deutschlands „ersten bekennenden schwulen Bauarbeiter“, sonst würde ich ihn ganz groß rausbringen. Exklusive Lebensbeichte im Sternfür 100.000 Euro, mit denen sich danach ein weiteres prima Häuschen hochziehen ließe. Dann Maybritt, Maischberger, Will und vielleicht noch Plasberg, Autobiografie bei Random House, Verhandlungen mit Eichinger wegen der Verfilmung, wenn’s schiefläuft, bloß irgendwas Degetomäßiges. Die Wahrscheinlichkeit, dass er aufgrund seines Bekenntnisses von 30.000 Menschen auf einmal als „schwule Sau“ beschimpft würde, während er einen schweren Balken in den ersten Stock wuchtet, wäre ja eher gering. Vom nächsten Fußballstadion ist der Weg in unser brandenburgisches Dorf auch für hartgesottene Fußballfans zu weit.

Dabei ist das doch echt ein Knaller, wie mein Mann sich so völlig locker und mit allseits geschätzter und geforderter Selbstverständlichkeit – denn die erfordert ja kein anstrengendes Verstehen – in der knallharten Männerwelt des Bauwesens behauptet. Okay, wenn wir beide zusammen, also „Herr R. und Herr M.“, zum Baumarkt fahren, um Zement zu kaufen, ist das nicht ganz so spannend wie eine Lateinamerika-Reise von „Herrn W. Und Herrn M.“, aber da gäbe es ja vielleicht auch was Interessantes zu gucken.

Typisch zum Beispiel, wie Herr. M. in seiner körperbetonten Kleidung den Sack Zement in den Einkaufswagen schwingt. Mit so einem eleganten Dreh und niemals bloß grob wuchtend, genau! Und ja, Herr R., der Lebensgefährte, treibt sich natürlich bei den Orchideen herum, wahrscheinlich AUCH weil dort ein junger Azubi mit ebenfalls eng anliegendem Overall …– ob der wohl schon 18 ist? Es ist eben super, sich selbst in der eigenen Selbstverständlichkeit zu wiegen, aber auf Dauer ist das einfach zu langweilig und man will mal was anderes.

Der Mensch braucht Erregungen und Anregungen, so wie die Bilder, die im Fernsehen oder in Printmedien immer gezeigt werden, wenn es um schwule Fußballer geht – oder um Schiedsrichter. Man sieht dann Herren, die sich – NUR ZUM SPASS – mal gegenseitig auf den Hintern hauen oder rudelweise in den Arm nehmen. Man sieht sie beim Aufwärmtraining in Positionen, in denen sie den Hintern herausstrecken. Den geouteten Rugby-Profi Gareth Thomas zeigt man gerne in der Pose des Model-Athleten – oder wie er, HEIKEL HEIKEL, mit einem kleinen Jungen an der Hand ins Stadion einläuft.

Vielleicht ist Langeweile überhaupt die Antwort auf die Frage, warum Homosexualität gerade so stark in den Schlagzeilen vertreten ist. Oder doch eher eine tiefe Verunsicherung des doch nicht so selbstverständlichen Eigenen, die das Auge aufgeregt zum Anderen schweifen lässt? Das Fremde, Andere ist stets Zumutung und Anregung zugleich. „Kommt, es tut auch gar nicht weh“, raunt man den vermuteten schwulen Fußballern zu. Aber vielleicht hat ja eher Rudi Assauer recht, der Schwulen rät, sich lieber eine andere Sportart auszusuchen. Außer Guido Westerwelle würde das vielleicht wirklich niemand überleben. Wie wäre es mit Eishockey? Da sind wenigstens keine Bälle im Spiel.

Kolumne 59

3.3.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Gays against Guido

Der Aussenminister hat gerade eine starke Wirkung nach innen. Aber Schicksalsgemeinschaft ist, wenn man trotzdem lacht

Mit Familien verhält es sich so: Der liebe Gott schaut im Telefonbuch nach und würfelt wahllos einige Leute zusammen, die dann für den Rest ihres Lebens zusammenhalten müssen. Dieses schöne, leider geklaute Bild beschreibt das Prinzip Schicksalsgemeinschaft: Man kann es sich nicht aussuchen, wer zur Familie gehört. Das gilt auch für Guido Westerwelle, der nun – ob es einem passt oder nicht – zur gesellschaftlichen Minderheit der Homosexuellen gehört. Und ja, es gibt Momente, da treibt es einem die Schamesröte ins Gesicht: „Das fällt wieder auf uns alle zurück“, stöhnte ich, als wir zugedeckt mit unseren beiden Katzen vor dem Fernseher lagerten und der Außenminister, anstatt sich um das doch recht große Ausland zu kümmern, brandschatzend ins Innere des Landes vordrang mit seinem Hartz-IV-Dekadenzverdikt.

Ich hörte geradezu, wie in den Köpfen die Zuordnungsmechanik einrastete: Dekadenz – da ruckt ja gerade die richtige Kommode. Bashing von sozial Schwachen – Rechtspopulismus à la Haider. Und überhaupt typisch: diese Geländewagen fahrenden Yuppie-Schwulen. Das Problem ist einfach, dass Westerwelles Homosexualität am Ende stets alles überstrahlt, was er sagt und tut. Auch wenn dies nicht explizit ausgesprochen oder geschrieben wird.

So wie neulich an einer Berliner Bushaltestelle im Falle eines anderen Politikers: Ein Hartz-IV-Empfänger sprach mich an, um mir sein Leid zu klagen. So was kommt vor an grauen Wintertagen in Berlin-Neukölln. Ich war auch emphatischst bei ihm und seinen Nöten. Bis zu dem Punkt, als er den Schuldigen ausgemacht hatte: Den Wowereit, die „schwule Sau“. Als ich nun entgegnete, dass es sich bei meiner Person ebenfalls um eine solche handele, wurde das Gespräch irgendwie traurig: „Ich habe doch nichts gegen Schwule, das ist mir doch egal, was jemand im Bett macht!“, erwiderte er erzürnt, wohl auch ein wenig beschämt. Ich hatte ihn beschämt. Er wusste ja nicht, dass ich auch ein solcher war, und hatte angenommen, frei von der Leber reden zu können. Wie ja sonst auch.

Es sind diese kleinen Verwechslungsmomente der sogenannten heterosexuellen Vorannahme, die jene Wahrheiten zu Tage befördern, die einem dank der politischen Korrektheit meist erspart bleiben. Aber zugegeben: Ich war mit dieser Wahrheit überfordert. Ich war sauer, verletzt. Das Gespräch war beendet. Was dieser Mann wohl gedacht hat anlässlich Westerwelles eher wenig emphatischen Auslassungen zu Hartz IV?

Wahr ist jedoch, dass für diese Unbill all jene Wählerinnen und Wähler verantwortlich sind, die FDP gewählt haben – und ja, darunter waren auch Schwule und Lesben, denn die sind weder automatisch links, noch fahren sie alle Geländewagen, noch sind sie bessere Menschen. Wegen des göttlichen Telefonbuchs handelt es sich bei dieser Minderheit um ein queer zusammengewürfeltes Häufchen, das sich strukturell quer durch die Gesellschaft zieht, von oben nach unten von links bis rechts.

In unserem brandenburgischen Straßendorf wohnen wir auf der linken Seite ganz oben, und wenn die Dorfbewohner Besuch von auswärts haben, ist unser Haus eine kleine Attraktion: „Und hier wohnen die Schwulen“ – so vernahmen wir es schon des Öfteren durch die Hecke. Und damit es nicht heißt, „und hier wohnen die Westerwelle-Typen“, bin ich gerade der Facebook-Gruppe „Gays against Guido“ beigetreten. Man kann auch gelbe Buttons kaufen und sich ans Revers heften, aber das erscheint mir nun aufgrund des schriftlichen identitären Bekenntnisses zu riskant. Lieber „heterosexuelle Vorannahme“ als Sippenhaft.

Kolumne 58

4.2.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Sterben geht besser ohne Glauben

WARUM DIE GÜTIGE MARIA AUS UNSERER SCHEUNE VERBANNT WURDE UND GLAXO-SMITH-KLINE BESSER IST ALS WEIHWASSER

So lange ist das noch nicht her, der Rausschmiss aus dem „Katholischen Krankenhaus“. Ein guter Freund war an Aids erkrankt, Vollbild, und hatte solche Todesangst, dass ich über Nacht einfach bei ihm geblieben bin. Und zwar in seinem Bett, an ihn gekuschelt, denn nur körperliche Nähe konnte ihn beruhigen.

Am nächsten Morgen erschien dann der katholische Chefarzt und hielt dem zu diesem Zeitpunkt Sterbenden eine moralische Standpauke ob dieses skandalösen nächtlichen Vorgangs. Ich hatte danach sofort Himmel & Hölle zugleich in Bewegung gesetzt, und schon am übernächsten Tag konnte er den Ort christlicher Barmherzigkeit verlassen. Wir nahmen Abschied von der gütigen Maria aus Stein, die im Innenhof des Krankenhauses auf einem Brunnen thronte. Anschließend wurde er in die glücklicherweise gottlose Charité in Berlin-Mitte überführt. Er lebt dank GlaxoSmithKline bis heute, ganz ohne Gebete, Weihwasser & Rosenkranz.

Die gütige Maria aus Gips flog dann am folgenden Wochenende aus der Scheune. Mein Mann ist mit dem Künstler befreundet, der die Skulptur für das Krankenhaus angefertigt hatte. Wir wollten die bei uns zwischengelagerte Gipskopie irgendwie nicht mehr haben.

Wenn es im Leben bloß immer so einfach wäre, sich die Dinge vom Halse zu halten. Wenn man zum Beispiel einfach nur eine Kopie von Ratzingers roten Pantöffelchen in den Ofen werfen könnte, um fürderhin nicht mehr hören zu müssen, dass der „Heilige Vater“ mit dem „Naturrecht“ gegen die europäische Gleichbehandlungs-Gesetzgebung argumentiert. Und mit der Nummer sogar ernst genommen wird, anstatt unter der Rubrik „Buntes aus aller Welt“ zu landen, wie es noch in den Neunzigern üblich war.

Noch bescheuerter ist nur, dass der Slogan „Wir sind Papst!“ eigentlich das Motto des nächsten CSD sein könnte, womit ich jetzt elegant eine direkte, zitierfähige Aussage vermeide. Religiöse Gefühle zu beleidigen ist ja mittlerweile lebensgefährlich.

Gefährlich ist es laut dem renommierten Sportsoziologen Gunter A. Pilz auch, sich als schwuler Fußball-Profi zu outen: „Die Konsequenzen wären glasklar. Der Fußballer sähe sich einem Spießrutenlauf ausgesetzt.“ Und ja, alle sind ganz furchtbar neugierig, wer es denn bitte sein könnte? Das ist die nationale Variante des beliebten Party-Spiels „Wer von den Gästen ist denn wohl schwul“. Das macht ja so viel Spaß. Und wenn sich dann Gareth Thomas nach (!) dem Ende seiner Karriere als Rugby-Spieler outet, zeigt man ihn im Fernsehen immer bloß im hautengen Shirt – und noch besser: wie er einen kleinen Jungen an der Hand hält und mit ihm ins Stadion läuft.

Unser ebenfalls schwuler Nachbar auf dem Dorfe lebt aus genau diesen Gründen in ständiger Angst davor, dass irgendwo in der Umgebung ein kleiner Junge verschwinden könnte. Dann nämlich, so fürchtet er, stünde der brandschatzende Mob in null Komma nix vor der Tür. Ob er recht hat? Ich will es lieber nicht ausprobieren.

Mein Mann und ich waren neulich mal wieder in der Charité in Berlin-Mitte. Ein anderer Freund liegt dort, weil seine HIV-Medikamente gerade ihren Dienst versagen. Er ist seit Anfang der Achtziger positiv. Er erzählte, wie es als ehemaliger Schauspieler seine Art ist, mit gestützter, raumgreifender Stimme von Aids und seiner MUTTTER – mit diesen drei T, die nur Schwule draufhaben. Währenddessen beobachtete ich nervös den heterosexuellen, bildungsfern anmutenden Zimmernachbarn. Aber es war – Gott sei Dank – ein richtiger Berliner. Ich liebe diese Stadt.

Kolumne 57

15.1.2010

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Drei Nüsse für unseren Schutzengel

Ein Wintermärchen mit Daisy, Frau Hippe und Frau Holle, gelben Engeln und dem Tischlein-Deck-Dich aus Brandenburg

Wir wollten nur nachsehen, ob im Ort Kuhflecke in Sachsen-Anhalt jene Märchenburg noch steht, die mein Mann als Vierzehnjähriger bei einem Ausflug ins DDR-Grenzgebiet entdeckt und die zu bewohnen er sich damals erträumt hatte. Doch als wir bei bereits eingebrochener Dunkelheit den Ort erreicht hatten, war die Burg nicht mehr zu finden und der Traum somit endgültig geplatzt.

Auf der Rückfahrt verwandelten allerdings kleine Kobolde die Straße von einer Sekunde zur anderen in eine Eisbahn, so dass wir uns drehten und drehten und drehten – und dann mit einem Rumms in eine Leitplanke knallten, die zuvor ein Schutzengelchen dort platziert hat. Wir blickten uns an. Der Motor röchelte ersterbend, nur Agnetha Fältskogg besang unbeirrt die elfenhafte „Dancing Queen“.

Wir stiegen aus, unversehrt, und draußen erwartete uns schon ein guter Geist. Ein alter Herr aus dem nahe gelegenen Dorf hatte sofort angehalten, kümmerte sich, stellte Warndreiecke auf, verständigte über Telefon Hilfe. Wir standen in der Kälte und blickten auf die großen Bäume und den dunklen Fluss hinter der Leitplanke, der unser Schicksal hätte werden können.

Ein Samariter mit Blaulicht kam, um uns zu retten. Wir schickten ihn freundlich wieder nach Hause. Trolle mit blauen Uniformen näherten sich und stibitzten unser letztes Bargeld gegen Ausgabe einer Quittung, auf der „Ordnungswidrigkeit“ stand. Zuletzt erschien ein gelber Engel, der uns und unser demoliertes Gefährt auf seinen schweren Wagen lud.

Eine Kutsche mit gelbem „Taxi“-Schild brachte uns später zum Geisterbahnhof Wittenberge, gelegen zwischen Nirgendwo und der Prignitz. Der Droschker erzählte von Techno und betrunkenen jungen Mädchen, die nicht mehr wissen, wo sie wohnen. Wir standen ganz alleine und verfroren in der verlassenen, längst nicht mehr benutzten Bahnhofshalle und lauschten den Türen, die von Frau Holle sanft angepustet in ihren Scharnieren quietschten.

Wie von Zauberhand gesandt hielt der letzte ICE Hamburg–Berlin auf dem Gleis 9 3/4 des Bahnhofs Wittenberge. Und als wir endlich im Warmen saßen, mundeten das „Fitness-Sandwich“ für 4,95 Euro und der Bordtreff-Kaffee wie durch ein Wunder, als ob Wolfram Siebeck aus Versehen sein Tischleindeckdich im Großraumabteil zweiter Klasse hätte liegen lassen. Alles schmeckte nach Leben, und als ich den Unterarm meines Mannes an dem meinen auf der Sitzlehne spürte, wurde mir klar, dass wir gerade Frau Hippe mit Hilfe der Deutschen Bahn AG abgehängt hatten.

Aber gestern hatte sie ein Ticket nachgelöst und es schon wieder versucht. In Berlin, das von „Daisy“ mit einem riesigen weißen Tuch überzogen wurde. Auf dem Nachhauseweg flog mir mit einem lauten Wumms ein Golf vor die Füße, der von der gegenüberliegenden Fahrbahn herübergesegelt kam. Auf seiner Flugbahn hatte er am Zaun des Mittelstreifens einen Reifen samt Aufhängung verloren, landete dann aber sauber auf den verbliebenen dreien. Eine junge Frau stieg aus und schrie die Gaffenden an, dass es hier nichts zu sehen gebe. Frau Hippe verkrümelte sich daraufhin rasch zu McDonald’s am Hermannplatz, das Schutzengelchen flatterte erschreckt davon. Und aus dem Auto kletterten noch drei junge Männer, alle waren unversehrt geblieben.

Ein Heinzelmännchen repariert nun unser Auto, und es ist am Ende gar nicht schlimm, dass es die Burg in Kuhflecke nicht mehr gibt. Wichtig ist, dass es im Leben wie im Märchen zugeht. Und am Ende alles gut wird.