Kolumne 56

30.11.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Der Feind in seinem Bett

MEIN MANN IST NEBEN DER STAATSSICHERHEIT AUFGEWACHT

Mein Mann war mit der Stasi im Bett. Das ist schon lange her und es war keine Absicht. Es ist nicht so, dass er „sich nicht mehr erinnern“ kann. Er wusste es anfangs schlicht nicht. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte ihm einen „Gay Romeo“ auf den Hals gehetzt, um Licht in das oft nur von Kerzen beschienene Dunkel der Schwulen-, Künstler- und Intellektuellenszene in Prenzlauer Berg zu bringen. Dass es sich bei dem jungen Mann, in den er sich verliebt hatte, um einen Stasimann gehandelt hatte, erfuhr er erst, als dieser seine Dienstanweisung überschritt. Der „Gay Romeo“ hatte sich in das auszuhorchende Objekt verliebt.

Und schwupps hatte die Liebe der Staatsmacht ein Schnippchen geschlagen, aus war es mit Konspiration und Überwachung. Fortan erzählten beide jedem, egal ob er es wissen wollte oder nicht, dass die Firma Horch & Guck bei ihnen auf der Matte rumstünde, wie ein Staubsaugervertreter im Westen.

Das ist nun auch schon über zwanzig Jahre her, und ich überwache meinen Mann höchstens, indem ich ab und zu mal eine freundliche Drohmail an seine „Gay Romeo“-Adresse schicke, jener schwulen Web-Community, die man auch das „Schwule Einwohnermeldeamt“ nennt. Doch während ehemalige Stasimitarbeiter mit Gedächtnisstörungen – die womöglich der allgemeinen „Informationsüberflutung durch die neuen Medien“ geschuldet sind – weiterhin politisch aktiv sind, hat sich das mit der aufwendigen Überwachung und Ausschnüffelung der Bürger im Prinzip erledigt.

Die geben auch ohne Aufforderung alles preis. „Ja Wahnsinn, komm mal schnell gucken“, rief mein Mann aus dem Wohnzimmer. Er war mal wieder im Netz. Allerdings leuchtete die Seite nicht „Gay Romeo“-blau, stattdessen sah man ein Filmchen laufen. Ein optisch etwas verzerrt wirkender Herr saß auf einem Sofa, das er ordentlich mit einem Mond-&-Sterne- Handtuch bedeckt hatte und bearbeitete liebevoll seinen Schwellkörper „Ach Gott, schaust du Schwulen-Pornos?“, fragte ich. „Von wegen, das sind Heten, die live vor der Web-Cam onanieren und sich dafür beklatschen lassen.“ Potzblitz, dachte ich und setzte mich vor den Rechner. Und in der Tat, er hatte Recht: auf cam4.com werden alle Forderungen von „Transparency International“ zur knallharten Tatsache. Ein junger Mann mit voluminösem sekundärem Geschlechtsmerkmal aus Ohio, zappelte nervös auf seinem Stuhl und wurde in der rechten Bildleiste von zahlreichen Community-Mitgliedern, Männlein wie Weiblein, genötigt, doch endlich mal den Blick frei zu geben, indem er sich seiner Unterhose entledige. Er zierte sich ein wenig, versicherte per Message mehrmals, dass er „totally str8“ sei, aber dann traute er sich. Woraufhin die rechte Bildleiste rotierte wie die Anzeige einer Slot-Maschine „Yeah“ (bi-interested); „Great, Man!“ (gay), „Cute Guy“ (female) etc.

Als wir dann abends noch einen Spaziergang im nahen Luch machten, glühte der brandenburgische Himmel so Rot in Rot, dass man hätte meinen können, das Abendland ginge unter. Aber Potsam war weit und wir waren offline. Wir winkten einem Schwarm Kraniche, der über uns hinwegzog, und freuten uns, dass die jungen Leute von heute so offenherzig sind, dass ihre Überwachung am Ende viel zu personalintensiv wäre. Und wir freuten uns über all die jungen Menschen, die gerade weltweit und mit großer Selbstverständlichkeit Freude an ihren Geschlechtsorganen haben. Ernste Probleme gibt es ja schon genug.

Kolumne 55

5.11.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Schmetterlinge im Schrank

NOVEMBER? SCHNEEREGEN? DEPRESSIONEN? KEIN GRUND, DURCHZUDREHEN. SIE BRAUCHEN BLOSS WINTERREIFEN

Jörg Schönbohm geht. Die Kraniche auch. Die Blätter fallen ab. In Brandenburg wird es winterlich. Weshalb das Auto neue Winterschuhe braucht, Allwetterreifen.

Als ich den Wagen bei meinem aus Polen stammenden Schrauber in Berlin-Kreuzberg abholte, hoffnungsvoll neu bereift, rauchten wir noch eine Zigarette zusammen, „Hallo, mein Freund“, begrüßte er mich wie immer, und das bezieht sich mittlerweile nicht mehr nur auf die vielen Geldscheine, die ich ihm regelmäßig in seine kleine Hinterhofwerkstatt bringe.

Er saß ganz alleine auf seinem alten ledernen Chefsessel in der leeren Werkstatt, ich war an diesem Tag sein einziger Kunde gewesen. Während aus dem kleinen Kofferradio Cooljazz ertönte, sannen wir über das Ende des automobilen Zeitalters nach. „Die Leute verkaufen alle ihre Autos, weil sie sie nicht mehr finanzieren können. Sie fahren lieber Rad.“ Ich schlug vor, dass er doch eine Fahrradwerkstatt eröffnen könne – und mit einem verschmitzten Grinsen deutete er auf zwei Fahrräder, die neben einem großen Stapel Winterreifen standen, „kann man versuchen. Noch zwei Jahre habe ich den Vertrag für die Werkstatt, solange werde ich versuchen, durchzuhalten. Nicht mal der Winter spielt mehr mit, früher gab es spätestens im November jede Menge Unfälle wegen Glatteis, da war immer was zu tun“.

Ich versuchte ihn damit zu trösten, dass es Probleme mit meinem Drosselklappenventil gibt – und dass die Stoßdämpfer ja auch bald fällig würden. „Ja, die können wir machen, im Frühjahr“, antwortete er melancholisch, während von draußen ein kalter Luftzug in die Werkstatt gelangte und ein Windstoß kurz, aber bestimmt am hölzernen Tor rüttelte. November. Nun heißt es, durchzuhalten. Man muss Kerzen und Kissen bei Ikea kaufen, die Selbstmordgedanken in Leitz-Ordner abheften und in der hintersten Ecke des Regals deponieren, so dass sie in Vergessenheit geraten wie die Steuererklärung aus dem Vorjahr. Nun heißt es, sich im Inneren einen bunten, klimpernden Jahrmarkt aus positiven Gedanken zu errichten, der einen aufrecht hält, bis man im Vorweihnachtstrubel gar keine Zeit mehr hat, dunklen Gedanken nachzuhängen.

Als ich mit dem neu bereiften Auto endlich in unserem brandenburgischen Straßendorf ankam, waren die kleinen Sprossenfenster hell erleuchtet – mein Mann war also doch schon zu Hause. Als ich hineinkam, schlug mir Wärme entgegen, alle Öfen waren beheizt. Er saß im Wohnzimmer in seinem Sessel, die Katzen auf dem Schoß und hörte Fontanes „Stechlin“, gelesen von einem Herrn mit angenehm brummender Stimme. Ein Schmetterling, ein Pfauenauge, flatterte unruhig zwischen Fenster und Stehlampe hin und her, stets beäugt von den Katzen, die bereit gewesen wären, ihm den Rest zu geben, wenn er nur nicht so weit oben herumfliegen würde. „Was macht der denn hier – im November?“, fragte ich ungläubig.

„Er ist aufgewacht aus seinem Winterschlaf, weil es so warm ist im Haus“ sagte mein Mann. Er stand auf und nahm den Schmetterling vorsichtig in seine Faust, trug ihn zum Wandschrank und sperrte die Tür hinter ihm zu. „Dort drin ist er direkt an der Außenwand, da ist es kühler und er kann wieder schlafen. Wir dürfen nur nicht vergessen, ihn im Frühjahr wieder herauszulassen.“ Halten Schmetterlinge wirklich Winterschlaf? Ich weiß so was gar nicht. Aber ich war in diesem Moment auf jeden Fall bereit, es zu glauben.

Aber wie dem auch sei: Ich bin im Wandschrank, wecken Sie mich bitte im Mai. Nicht vergessen! Danke.

Kolumne 54

6.10.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Zwanzig Jahre Achtziger

WENN DIE EIGENE JUGEND IM DEUTSCHEN HISTORISCHEN MUSEUM ARCHIVIERT WIRD, HAT MAN ES GESCHAFFT UND KANN SICH ENTSPANNEN

Muss es denn wirklich sein, dass er heute schon wieder diese Achtziger-Lederjacke trägt. Wie oft schon habe ich im Lauf unserer Beziehung versucht, meinen Mann davon zu überzeugen, dass diese auf Taille geschnittene, extrem kurze schwarze Lederjacke mit der ausladenden Schulterpartie nun wirklich gar nicht geht. Als ich mir irgendwann gar keinen Rat mehr wusste, wurde ich sogar brutal: „Sie macht dich alt“, habe ich gesagt. Da er runde zehn Jahre älter ist als ich, hatte das ganz schön gesessen. Nicht so, dass er die Jacke danach zur Altkleidersammlung gegeben hätte, aber immerhin so, dass es mir danach leidtat.

Als wir uns kennen lernten, lag die Berliner Mauer schon ein paar Jährchen in Schutt und Asche. Ich war seinerzeit einer von denen, die mit schuld daran sind, dass aus dem Prenzlauer Berg wurde, was er heute ist – also ein jungscher Wessi aus der Provinz, der im wilden Osten Szene spielt und überzeugt ist, mit regelmäßigem Drogenkonsum und dem Tragen von Second-Hand-Stoffhosen gerade das Rad neu zu erfinden. Und er war jemand von denen, die daran schuld waren, dass der Prenzlauer Berg so interessant für uns war – also ein in den Achtzigern knalljungscher Ossi, der in der Kunst-, Schwulen-, Dissidentenszene unterwegs war und in Ost-Berlin versucht hatte, es mit einem anderen Rad als dem staatlich vorgegebenem zu versuchen.

Was mit dem angeblich ganz neuen Rad der Wessis im Prenzlauer Berg geworden ist, weiß man ja nun hinlänglich. Aber sein anderes Rad ist es immerhin wert, im Deutschen Historischen Museum aufbewahrt zu werden – und auf Arte zu bewundern. Als ich am Sonntag vom Lande in die Stadtwohnung zurückgekehrt war, klingelte das Telefon: „Schalt mal schnell den Fernseher ein.“ Ich antwortete: „Aber nicht, dass ich dir schon wieder beim Onanieren zusehen muss“ – er hatte seinerzeit mal als Darsteller bei einem Kunstprojekt mitgewirkt, dass erst Jahre später den Weg ins Fernsehen gefunden hatte, natürlich bei Arte, und mir war fast das Brötchen aus dem Gesicht gefallen.

Doch dieses Mal handelte es sich um einen allgemeinen Film über die Ost-Subkultur der Achtziger: „Guck dir das mal an, so war das damals, und die Leute, die da gezeigt werden, kenne ich fast all“e. Ich glaubte ihm sofort, denn sie hatten auch Achtziger-Lederjacken an.

Mein Mann gehört nun zu jenen Ost-Subkulturpflanzen, die ihr Glück eher auf dem Land suchen, dort ihr Ding durchziehen. Besser im Umland von Berlin als in irgendeinem Ashram, denn sonst hätten wir uns ja nicht kennen gelernt. Den Prenzlauer Berg haben wir beide verlassen – ich finde ihn mittlerweile doof, mein Mann jedoch freut sich, dass er heute so voller Leben ist. Alles bunt. Junge Menschen. Vielleicht hat er ja Recht. Vorbei ist vorbei. Er ist entspannt, bei sich, ganz ohne Schaum vor dem Mund.

Doch leider treiben sich genau diese jetzt in meinem von Gentrifzierung bedrohten Viertel „Kreuzkölln“ rum. Trinken überall laktosefreien Milchkaffee, quaken rum und blockieren die Bürgersteige, so dass die arabischen Großfamilien und die raumgreifenden türkischen Jungmänner-Gruppen nicht mehr durchkommen.

Aber falls ich mich irgendwann erinnern sollte, wo genau dieser Keller in der Nachbarschaft war, in dem Klezmer-Punkrock gespielt wurde und in dem ich schauerlich versackte, dann leihe ich mir die dort bei Jungmännern gerade schwer angesagte schwarze Achtziger-Lederjacke von meinem Mann. Darin würde ich mich gleich zehn Jahre jünger fühlen.

Kolumne 53

21.9.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Ich folge dir bis in die letztePfütze

Wenn der Spätzeitliche Automobilismus im Raum Berlin-Brandenburg an seine Grenzen Stösst, geht es weder vor noch zurück

In regelmäßigen Abständen versenkt mich mein Mann im Schlamm. Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine bizarre sexuelle Spielart, sondern um ein scheinbar nicht vermeidbares Übel, wenn man wie wir zwei in regelmäßigen Abständen mit dem Auto auf Brandenburger Abwegen unterwegs sind.

Mein Mann ist als Eingeborener und gelernter DDR-Bürger in Infrastrukturfragen völlig unerschrocken. Gleich ob es sich um halb im Sumpf versunkene LPG-Plattenwege, märkische Sandpisten, friderizianische Kopfsteinpflaster oder historische Knüppeldämme handelt – immer heißt es: „Fahr, das geht schon.“

Und das mit dem schönen Westwagen! Er will einfach nicht einsehen, dass Aufhängung, Stoßdämpfer, Fahrwerk und was es da noch so alles am Automobil gibt (Ölwannen, die abreißen könnten, solche Sachen), bei solchen Expeditionen in Mitleidenschaft gezogen werden können. Und das, obwohl er als junger Mann gezwungen wurde, eine Kfz-Mechaniker-Lehre zu machen: „Das hier ist kein Trabbi!“, sage ich immer streng. Und ins Nichts. Man bräuchte eigentlich einen Geländewagen – wenn es nicht so albern wäre.

Zugegeben: Dieses Mal war er nicht allein schuld. Wir waren zum spätnachmittäglichen Essen ins Nachbardorf geladen, von einem sehr netten älteren Ehepaar. Im Nachbardorf wird allerdings gerade die Straße saniert, was einige der älteren Anwohner noch ganz schön in finanzielle Schwierigkeiten bringen wird, der Anrainerkosten wegen.

Dieses Mal versenkte mich also eine nette ältere Dame im Schlamm. Sie wies mir von der Haustür aus einen „Parkplatz“ zu, eine Schlammkuhle mit integrierter Pfütze, die ich misstrauisch beäugte, aber man kann sich schon denken, was mein Mann dazu sagte: „Fahr, das geht schon.“

Und schon saßen wir im Dreck fest. Es ging nicht mehr vor und nicht mehr zurück. Nur seitwärts, und zwar von ganz allein, der Wagen rutschte in Zeitlupe in Richtung Straßenbaustellenloch. Kennen Sie auch solche Momente, in denen Sie bedauern, weder Vorurteile zu haben noch beratungsresistent zu sein?

Die Beratungslage in dieser ausweglosen Situation war jedenfalls opulent. So setzte vom Haus der Gastgeber aus ein reges Winken und Rufen ein, mein Mann wiederum versuchte es mit Physik: „Wenn du rückwärts fährst und gleichzeitig nach rechts einlenkst, entsteht zu viel Widerstand, das schaffst du nicht“. Er hat nicht mal einen Führerschein.

Außer dem von den Rädern aufgewühlten Schlamm bewegte sich jedenfalls gar nichts, bis ich mir dachte, dass es an der Zeit sei, die Physis zum Einsatz zu bringen – die Muskeln des Herrn Gemahls sind ja nicht nur zu Deko da: „Schieb, das geht schon“, sagte ich.

Was soll ich sagen: Er hat es geschafft, im Schweiße seines Angesichts, „geht doch“.

Der Westwagen sah danach natürlich aus, als hätte ich an der Rallye Paris–Perleberg teilgenommen, was mir jedoch nach meiner Rückkehr nach Berlin einen völlig unerwarteten Punktgewinn an den Ampelanlagen Neuköllns einbrachte. Anerkennende bis neidvolle Blicke von oben, nämlich von den Fahrersitzen jener großstädtischen Geländewagen, die es höchstens bis zum Parkplatz einer Parkanlage schaffen, streiften Automobil und Fahrer, und ich fühlte mich mindestens wie Heidi Hetzer.

Und irgendwie von gestern mit meiner schlammverkrusteten, alten Dampfmaschine aus Westproduktion. Von nun an warten wir auf unseren Trabbi. Mit Elektroantrieb.

Kolumne 52

28.8.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Jenseits der Friedensgrenze lockt das Obst

POLEN IST GEÖFFNET: ZU BESUCH BEI MIREK, AGATHA UND DER GANZEN GROSSFAMILIE

In Bälde nähert sich der Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen. Mein Mann und ich sind allerdings vor kurzem nur rübergefahren, um Freunde – Mirek und Agatha – zu besuchen.

Schon kurz hinter der Grenze war deutlich zu erkennen, was die Deutschen von den Polen wollen. Ihr Begehr richtet sich nicht auf Territoriales, sondern auf preiswerten Sprit, Zigaretten, Frisuren, schön manikürte Hände, Blumenampeln und käufliche Liebe – so und in dieser Reihenfolge spiegeln es zumindest die Geschäfte an den Grenzorten gleich hinter der Oder, also jenseits der „Friedensgrenze“, wie man die Grenze zu Polen in der DDR nannte, meist ohne selbige jemals übertreten zu können oder zu wollen.

Auf der holperigen Landstraße versuchte ich sogleich das nationalkatholische „Radio Maria“ zu empfangen, um nicht eventuelle Hassbotschaften zu verpassen, die sich explizit an sexuelle Minderheiten richten. Mangels Empfang und Polnischkenntnissen ließ ich es dann doch bleiben und schob die derzeit obligatorische „Gossip“-CD in den Ansaugschlitz.

Als wir durch die ersten Dörfer fuhren, wurde mein Mann sogleich ostalgisch: „Guck mal, genau so hat die DDR ausgesehen.“ Ich murmelte nur was von Stoßdämpfern und fehlendem Randstreifen, Solidarbeitrag und Bananen.

Das Dorf, in dem Mirek und Agatha wohnen, könnte jedenfalls auch als Kulisse für eine Degeto-Produktion mit Maria Furtwängler als ostpreußischer Landarbeiterin mit höheren Bildungsoptionen und ungewollter Schwangerschaft dienen: Unverputzte Steinmauern, oberirdisch verlaufende Telefonleitungen, malerisch freilaufendes Geflügel, Großmütter mit gebeugtem Rücken und Kopftuch.

Wir staunten, aber die Polen staunten auch nicht schlecht, nämlich über uns. Auch als wir endlich bei Mirek und Agatha in der Küche saßen und mit einem halben Schwein bewirtet wurden, ging das Staunen weiter, beiderseits: Durch eine Zwischentür kam nach und nach die Großfamilie, um mal zu gucken, wie die Deutschen gucken.

Sprechen ist ja auch schwierig, wobei mein Mann und Mirek eine Art Euroesperanto entwickelt haben und sich blind verstehen, weshalb es wiederum mir möglich war, die englischen Aufschriften von geschätzten 123 „Body-Shop“-Produkten, die eine in England bei ebendieser Firma arbeitende Dorfbewohnerin mitgebracht hatte, für unsere Gastgeber zu übersetzen. Ich weiß nicht, wie mein Mann es geschafft hat, „Tea Tree Blackhead Exfoliating Wash“, also Teebaum-Schwarzkopf-Peeling-Waschgel, in Euroesperanto zu übersetzen, aber alle waren glücklich.

Wir sowieso, denn nach dem Kaffee entdeckten wir, dass die Polen uns längst überholt haben ohne einzuholen oder wie das in der DDR hieß: Auf dem Hof der Großfamilie feiert die ökologische Landwirtschaft fröhliche Urständ, allerdings ohne Zertifikat und „Body-Shop“-Öko-Marketing. In Deutschland längst ausgestorbene Obstsorten lockten leuchtend von den Bäumen, Hühner und Enten gackerten ganz besoffen von Freiheit, Licht und Luft. Aus von Pestiziden und Dünger unberührtem Acker gruben wir dicke, fette polnische Kartoffeln und freuten uns wie kleine Kinder in der BioBio-Abteilung von Plus. Nun wuss- ten wir, was wir von Polen wollen.

Und weil in Polen die Tradition, wie man aus den Medien weiß, eine große Rolle spielt, bekamen wir als Eheleute, wie es sich geziemt, das eheliche, in Türkis und Pink gestrichene Schlafzimmer von Mirek und Agatha zur Übernachtung zugewiesen. Polen ist ja so was von offen.

Kolumne 51

31.7.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Verliebt, verlobt und ein bisschen verheiratet

WIR HABEN DAS ABENDLAND, DEN ORIENT, DIE MENSCHLICHE ZIVILISATION INS WANKEN GEBRACHT: MEIN MANN UND ICH SIND ZUM STANDESAMT

Heiraten macht gleich viel mehr Spaß, wenn die Standesbeamtin aussieht wie Evelyn Hamann, das Trauzimmer früher mal eine Krankenhauskapelle war und die Trauzeugen als Erstes nachfragen, ob man die „Location“ denn auch für „Shootings“ mieten könne – und die Standesbeamtin dann tatsächlich antwortet, dass an diesem Ort schon mal eine Folge der RTL-Serie „GZSZ“ gedreht wurde.

Aber mal toternst: Wir haben es getan! Mein Freund ist jetzt mein Mann und wir sind zwar nicht verheiratet, dafür aber eingetragen lebensverpartnert, amtlich beglaubigt vom Standesamt Neukölln. Und das geht? Diese Frage hatte mir mein Bruder im Vorfeld gestellt. Und ja, es geht. Nur wie genau, das wussten wir ja vorher auch nicht.

Der Staatsakt, vorbereitet dereinst von der rot-grünen Bundesregierung, nahm seinen Anfang an einem spätsommerlichen Abend auf dem Lande vor zwei Jahren. Eben noch hatten wir uns über die Gasrechnung unterhalten und im nächsten Moment sagte mein nunmehr Angetrauter: „Eigentlich könnten wir doch auch heiraten.“ Der Satz stand dann erst mal etwas sperrig im Raum wie ein monströses Diskursmöbel, auf dem der Papst, Norbert Geis und Volker Beck herumturnen.

Dann war erst mal keine Zeit. Zwei Jahre lang! Erst als wir gemeinsam Urlaub hatten, konnte es losgehen mit der Dokumentenbeschaffung, deren Höhepunkt eine Fahrt mit der Fähre zum Bürgeramt Caputh bei Potsdam war, in dessen Archiv sich der Beweis für die Existenz meines Mannes befindet. Das Zertifikat meiner selbst konnte ich hingegen problemlos per E-Mail in Westdeutschland anfordern.

Zur Anmeldung im Standesamt Neukölln erschienen wir kurz vor knapp und lasen im Warteraum die behördliche Brautbroschüre, die dank rot-roter Landesregierung sogar ein Unterkapitel „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ enthält, in dem die reichhaltigen Pflichten und die im Vergleich zur „richtigen Ehe“ wenigen Rechte noch einmal aufgelistet sind – dem Finanzamt und der Rentenversicherung ist unser neuer Familienstand egal, aber wenn es um Versorgungspflichten geht, sind wir voll gleichberechtigt, immerhin.

Als wir dann im Amtszimmer den Antrag unterschrieben, wurde mir bewusst, dass wir mit diesem Schritt im Begriff waren, das Abendland, die westliche Welt, den Orient, die menschliche Zivilisation an sich, den Vatikan und Wolfgang Bosbach von der CDU ins Wanken zu bringen. Eine „Homo-Ehe“! Zwischen dem Wohl der Menschheit und Armageddon liegt nur ein hauchdünnes Blatt Papier vom Finanzamt Neukölln: Wenn wir wie verheiratete Heterosexuelle Steuervorteile hätten, würde die bürgerliche Ehe und die Familie als Keimzelle des Staates in sich zusammensacken wie ein Souflée. Man muss als Homo schon aufpassen, was man macht, eine falsche Bewegung und schon bricht die fragile Mehrheitsgesellschaft zusammen.

Als es dann so weit war, machte Evelyn Hamann jedoch einen sehr entspannten Eindruck, hantierte mit ihren Stempeln, die Fernbedienung für die Technics-Stereoanlage stets in Griffweite („Hamse Ringe? Wollnse Musik?“). Die Trauzeugen digitalisierten das Geschehen und walteten ihres Amtes per Unterschrift – mein Freund und ich hatten nichts weiter zu tun, als „Ja“ zu sagen. Fertig.

Am Abend, kurz bevor die Trauzeugen zum rustikalen Essen in unserem brandenburgischen Dorf erschienen, rief ich meinen Bruder an, um ihm mitzuteilen, dass es wirklich geht. Wir tranken zusammen ein Glas Moselwein, den meine Eltern uns geschenkt hatten. Nun ist es also amtlich: Wir halten zusammen, in GZSZ.

Kolumne 50

6.7.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Anna und ich allein zu Haus

EIN AUSFLUG IN EINE FREMDE WELT: ALS SUPERNANNY IN BRANDENBURG UNTERWEGS

Erst ging Mama und die Prinzessin weinte bitterlich. Mama musste zur Arbeit. Dann ging mein Freund, und die Prinzessin weinte bitterlich. Mein Freund musste zu einer Behörde. Nun waren die Prinzessin und ich ganz allein im Haus. Und ich war kurz davor, bitterlich zu weinen – vor Angst.

Die Prinzessin heißt Anna und ist zweieinhalb Jahre alt. Und ich war noch nie ganz allein mit einem kleinen Kind, außer mit meinem Neffen auf dem Spielplatz in jener schwäbischen Vorortsiedlung, in der mein Bruder und seine Frau wohnen. Damals hatte ich dem kleinen Tim einfach „Mr Sandmann“ vorgesungen, während ich schaukelte, denn mein Neffe saß ja noch völlig unbedrohlich festgezurrt in seinem Kinderwagen, da konnte mir nicht viel passieren.

Tim kann längst laufen – und die Prinzessin Anna ebenfalls. Das ist heftig. Sie können weglaufen, umfallen, runterfallen, ins Wasser fallen, an einen Gegenstand/Baum/Menschen rennen. Unser idyllisches Landhäuschen mit dem großen Garten, den schönen rauschenden Bäumen und den vielen Blumen erschien mir daher von einer Minute zur anderen wie ein bedrohlicher Dschungel, das Dörfchen wie ein Kriegsschauplatz. In der Luft kreisten riesige Raubvögel, jederzeit bereit, sich auf die kleine Prinzessin Anna zu stürzen, die mit ihren blonden Locken halbnackt durch den Garten flitzte. Unbarmherzig verbrennend strahlte die Sonne von oben auf ihre bleiche, zarte Haut.

Mit Hilfe eines Wassereimers gelang es mir zumindest, die Gefahr des Abschmiedsschmerzes und die Bedrohung des sich Alleingelassenfühlens abzuwenden: Anna hatte nun ihren eigenen Pool – im Schatten! – und das Erfreuliche an Kindern dieses Alters ist ihre Ausdauer in Begeisterungsfähigkeit. Während ein Erwachsener zum Bungeejumping an die Niagarafälle reisen muss, um sich noch spüren zu können, war Anna mindestens eine halbe Stunde mit Glück erfüllt, weil ich sie immer wieder mit den kleinen Füßchen in den Wassereimer stellte und wieder heraushob.

Die nächste halbe Stunde verbrachten wir mit „Fliegen“. Ein Segeltörn entlang dem Kirschbaum, im Tieflug über das Erdbeerfeld – inklusive Zwischenlandungen im Wassereimer. Es folgten Schmetterlingsbesichtigung, Kletterübungen auf den Gartenmöbeln, Ringelpietz-Tanzen zu dritt – mit dem rosa Teddybären in der Küche – und Wettlaufen entlang der Hausfront.

Ich war total erschöpft und sehnte mich nach jenem Mittagsschlaf, den man mir aufgetragen hatte, Anna ans Herz zu legen. Die aber offensichtlich ganz andere Interessen verfolgte. Ich hatte eigentlich keine Chance und versuchte sie mit Hilfe eines kleinen Mittagessens einzuschläfern – funktioniert bei mir auch immer. Die Tortellini segelten jedoch lautlos in Richtung Fenster, der Salat startete senkrecht wie ein Harrier-Jet in Richtung Decke und die Erdbeeren crashten wie ein Airbus auf den Sitzbezügen.

Völlig am Ende hing ich in den Seilen und wünschte mir Ursula von der Leyen als Supernanny zur Seite. Stattdessen stand die Prinzessin Anna plötzlich auf und ging in die Schlafkammer. Sie zog sich aus – und selbständig eine Windel an! Dann legte sie sich schlafen und schon nach einer halben Minute hörte man nur noch ein ganz leises rhythmisches Atmen. Sie hatte mich in Sicherheit gebracht.

Kolumne 49

3.6.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Ein Besuch in Brandenburgs Area 51

DOCH KEINE BOMBEN AUF DIE FREIE HEIDE? ÜBER DIE VERBINDENDE KRAFT DES GEMEINSAMEN KAMPFES

Sind Sie schon mal auf einer Privatstraße des Bundes unterwegs gewesen? Das ist richtig gefährlich. Nicht weil Wolfgang Schäuble auf einen lauert, um einem Fingerabdrücke abzunehmen. Stattdessen erteilt einem Fidel Castro dringende Ratschläge: „Vorsicht Blindgänger! Das Übungsgelände zu betreten ist streng verboten und wird strafrechtlich verfolgt. Der Kommandant“. Brandenburgs Area 51, das ist der militärische Sperrbezirk der Kyritz-Ruppiner Heide, vormals ein Spielplatz des Warschauer Pakts.

So weit, so politisch, bloß Blindgänger. Und nun hört man auch noch aus Kreisen des Verteidigungsministeriums, dass man noch vor der Bundestagswahl in Erwägung zieht, auf das hier geplante „Bombodrom“ zu verzichten, einen „Luft-Boden-Schießplatz“ nämlich. Während mein Freund und ich vorsichtig über die Privatstraße des Bundes fuhren, entlang der schon ganz schön groß gewordenen Kiefern, die sich dort zu Zwischennutzungszwecken tummeln, war ich zu beschäftigt, um mir über die weitläufigen Konsequenzen dieser über Deutschlandradio verkündeten Botschaft klar zu werden: Ich musste feindliche Tiefergelegt-Flieger mit dreistelligem Umland-Kennzeichen abwehren, die an meinem Kofferraum klebten. Gott sei Dank sind meine Wisch-Wasch-Düsen auf Ackerbewässerungsmodus justiert.

Als der OPR-Opel-Astra dann doch an uns vorbeizog, sah ich einen „Freie Heide“-Aufkleber auf seinem Heck. Ja, eben: Was, wenn nicht der gemeinsame unbewaffnete Kampf gegen das Bombodrom und für die Freie Heide soll uns nun in Zukunft verbinden? „Uns“, das sind all die bellenden Brandenburger in ihren von Bevölkerungsschwund bedrohten Dörfern und Städten sowie die kläffenden Berliner, die sich am Wochenende redlich mühen, die Lücken zu schließen. „Uns“, das sind Menschen, die das Landleben todernst meinen, weil sie es nicht anders kennen, und Menschen, die das Landleben lieben, weil sie es nicht kennen. „Uns“, das sind Menschen aus Ost und West, Jung und Alt, bildungsfern und bildungsnah. Und doch waren wir uns wenigstens in einem einig: Bomben nun lieber nicht.

Mein Freund erzählte nun, wie früher die Scheiben wackelten, wenn die Russen mit ihren MIGs herumschwirrten und die Heide mit Bomben umpflügten – und ich erinnerte mich an die Tiefflieger von den diversen US-Air-Bases in meiner West-Heimat, die ausgerechnet unser Haus als Übungsanflugsziel zu benutzen schienen.

Als der OPR-Opel um die übernächste Ecke verschwunden war, hatte mein Freund die rettende Idee: Opel gehört doch jetzt nicht mehr den Amerikanern, sondern den Russen. Dank des deutschen Bundes, der hier eine Privatstraße hat. Anstatt also weiter in der Kyritzer Heide heimlich an UFOs rumzuschrauben, die vom Spritverbrauch her längst am Markt vorbeigehen, sollte man hier ein Opel-Werk errichten. Nur für Drei-Liter-Corsas mit korrekt justierten Wisch-Wasch-Düsen. Peace!

Kolumne 48

6.5.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Unsre tolle Luise – wo bliebse?

Auf einer Spazierfahrt durch Brandenburg und McPomm begegnet man Blühendem wie Totem

Bleibt man wegen der Schweinegrippe im Allgemeinen und Berlusconi im Besonderen besser zu Hause und lässt alle Türen und Fenster geschlossen? Mitnichten: Wer sich stattdessen entschließt, eine Spazierfahrt durch Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern anzutreten, wird weder Menschen noch Schweine antreffen und statt Pizza & Pasta zu begegnen, Schnitzel mit Mischgemüse antreffen. Gut, Schweine also doch. Und auch an den Tankstellen McPomms werden selbstverständlich lokale Pizza-Varianten mit Analog-Käse gereicht.

Mono sind hingegen weite Teile der Landschaft, die sich seit Eintreffen des Frühlings nicht mehr in Grau-Braun, sondern Grün-Gelb präsentiert: Aller Orten blüht buntest der Raps, was meinen Freund die Nase rümpfen lässt, nicht etwa aufgrund allergener Unbill, sondern weil er verstärkt unter akutem Hass gegen westdeutsche Neo-Großgrundbesitzer leidet: „Die kommen hier mit dem Helikopter aus Bayern angeflogen und reißen sich nach und nach den ganzen ehemaligen LPG-Besitz unter die manikürten Nägel.“ Monokultur ist, wenn man über die Landstraße fährt und in einen Wüstensturm aus Rapsblütenstaub gerät.

Als wir uns da durchgekämpft hatten, trafen wir plötzlich auf Luise von Preußen. Die Gute verstarb im Jahr 1810 aufgrund einer Lungenentzündung – nachdem sie unbemerkt unter einem Herztumor gelitten hatte. Verschieden bereits mit 34 Jahren, was ihrer nachträglichen Verehrung nicht abträglich war. Jung und schön, so blieb die preußische Madonna in Erinnerung. Während unsere heutige, die aus den USA, stets in Angst leben muss, dass ihre Hände fotografiert werden. Luise ist nun also schon lange tot, aber in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern wird sie noch immer verehrt, sogar die Katze von meinem Freund hieß so. Sie ist ebenfalls schon seit längerem verschieden, doch für Luise baute Schinkel in Gransee ein Denkmal aus Eisenguss, bloß weil ihr Sarg dort während der Überführung nach Berlin für eine Nacht aufgebahrt worden war. Gransee ist übrigens mindestens so tot wie Luise.

Wir fuhren weiter und landeten beim Weihnachtsmann. Nämlich in Himmelpfort, das ist der Ort, an dem sich einmal im Jahr die Journalisten auf den Füßen herumstehen, weil am Postamt Himmelpfort die Karten mit den Weihnachtswünschen ankommen und auch beantwortet werden. Es war aber niemand zu Hause, so fuhren wir weiter.

Luise hatten wir schon fast vergessen, doch als wir in Neustrelitz ankamen, der ehemaligen Residenzstadt, die über ein Theater nebst angeschlossener, überdurchschnittlich hoher Homo-Population verfügt, trafen wir sie schon wieder. Auf einem luftigen Hügel des Schlossgartens hat man ihr einen Tempel errichtet, mit Seeblick. Sie muss wohl eine Nette gewesen sein, schlechte Schülerin, gute Laune.

„Dass die sich das damals haben gefallen lassen“, sagte mein Freund, „hatten nichts zu fressen, und die bauten hier Schlösser, Tempel und Theater.“ Wir gingen weiter und stießen auf einen russischen Friedhof – in Neustrelitz war ein Panzerregiment der Roten Armee stationiert, übrig blieben nur Gräber und drei zum Abschied gepflanzte Birken.

Was die Menschen sich alles einfallen lassen, aber langweilig werden sie nie. Mal sehen, was als Nächstes kommt.

Kolumne 47

9.4.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Männer sind Schweine

In den Baumarkt, um Sämereien zu kaufen? Von wegen, da geht es um was ganz anderes!

Es war mal wieder so weit. Es ist immer das gleiche Spiel. Immer wenn er sich so nett und liebenswürdig von der Seite an einen heranwanzt, der Herr Lebensgefährte, weiß ich schon, wohin die Reise geht: zum Baumarkt.

Man denkt ja als nicht originär naturverbundener Mensch, dass die Natur diese ganze, durchaus hübsch anzusehende Frühlingsblüherei von allein bewerkstelligt, zumindest auf dem Lande. Ein Gang zu Obi belehrt einen allerdings eines Besseren. Es gilt, mannigfaltige, in ihrem ausgewachsenen Endergebnis farblich aufeinander abgestimmte Sämereien zu erwerben.

Von langen Beinkleidern befreit hatte sich dort schon ganz Brandenburg versammelt, um allerlei Blühwerk und benzinbetriebene Gerätschaften zu kaufen. Lange stand ich vor dem Verkaufscontainer für Grassamen und dachte über einen Relaunch unseres Rasens nach, auch weil wir über Ostern nach Bayern fahren möchten und ich den dort vorherrschenden, grellfarbigen Rasenton, der die Bezeichnung „sattes Grün“ auch verdient, während früherer Reisen zu schätzen gelernt hatte. Unser Rasen hat im Vergleich dazu einen Braunton, was allerdings auch mit den exzessiven Aushubarbeiten unserer der Unterwelt zugeneigten Maulwurffreunde geschuldet ist. Ob wir statt eines Rasenmähers eine Planierraupe erwerben sollten – so dachte ich laut und sprach doch ins Nichts, weil mein Lebensgefährte längst drei Regale weiter in den Anblick dunkelblauer Keramikblumenkübel versunken war, die in dieser Saison zur konischen Form zu tendieren scheinen.

Dann eben nicht. Ich widmete mich stattdessen der Musterung heimischer Regionalpflanzen, die in immer neuen Beschaffenheiten an mir vorbeimarschierten. Gut gewachsene und aus dem Leim gegangene, große und kleine. Ein ganzer Stoßtrupp mit kahl geschorenem Blattwerk und Runentätowierungen marschierte in Richtung Gartenmöbelabteilung, um einen Grill für den nächsten Kameradschaftsabend zu besichtigen. Ein Fitnessstudio-Nutzer mit blondierter Dauerwelle erwarb Toxisches zum Zwecke der Unkrautbehandlung. Ein verdächtig prachtvoll blühendes Exemplar wagte einen Blickwechsel, während seine Freundin ihn reflexartig um die schmale Taille fasste, um ihn möglichst dicht an sich zu ziehen.

Apropos: Wo treibt er sich denn wieder rum, der Herr Lebensgefährte?! Bei den konischen Kübeln ist er jedenfalls nicht mehr.

Frühling, Blüten, Sämereien. Jetzt geht es also wieder los mit dem Leben – und was gehört zu selbigem prallem? Sexualität! Mann hatte es schon fast vergessen über die letzten Monate dieses Winters, der in meiner Erinnerung mindestens zehn Jahre gedauert hat. Jegliche Körperlichkeit begraben unter dicken Stoffschichten, erstickt und zugleich angereichert bzw. aufgeschwemmt durch Weihnachtsgebäck und stimmungsaufhellende Alkoholika, ausgetrocknet von stickiger Heizungsluft. Ausgebleicht wie die Maulwürfe unter Tage.

Sexualität, darum schien sich hier in diesem Baumarkt auf der grünen Wiese, umgeben von architektonischer Gesamtbrutalität, alles zu drehen, auch wenn es hier nicht selbige Unterstützendes, Begleitendes oder gar Anregendes zu erwerben gab, wenn man von Teichfolie und Whirlpoolwannen absieht. Aber die Kundschaft, egal ob Männlein oder Weiblein: Pralle Radlerhosen, bauchfreie Tops, toupiertes Haupthaar, zur Schau getragener Körperschmuck, wiegende Bewegungen, narzisstische Kontrollblicke in den am Rand des Ganges zufällig ausgestellten Alibert-Badezimmerschrankspiegel, schwellende Bizeps- und Pectoralis-Muskulatur unter angeblich bloß zu heiß gewaschen T-Shirts, aggressiv-lockende Parfümwolken. Mir kann hier keiner erzählen, dass er bloß wie aufgedreht durch den Baumarkt läuft, weil er sich für Gartenarbeit interessiert.

„Und du denkst auch immer nur an das eine“, raunzte ich meinen Lebensgefährten an, als ich ihn endlich in der Trockenbauabteilung aufspürte und die Preise für Rigipswände verglich. Männer sind solche Schweine.