Kolumne 46

23.2.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Die Tränen der Frau Schaeffler

Wenn die Welt zum Panic Room wird, hilft nur noch die gute, alte Makro-Welle aus DDR-Produktion

Wenn man so im weiß bedeckten Grünen sitzt und mangels DSL-Anschluss schön knisternde, raschelnde, Finger schwärzende Printmedien bei Kaffee und Frühstücksbrötchen liest und sich das Elend der Welt ins gut mit Holz beheizte Haus holt (laut Zeiteine ultrakarzinogene Heizweise), dann braucht man erst mal eine Zigarette, um sich wieder zu entspannen und die Dinge zu relativieren.

Frau Schaeffler weint, aber unsere Nachbarin ja auch, weil sie nicht über den Tod ihres Mannes hinwegkommt, der von einem Heuballen erschlagen wurde. Opel geht es nicht gut, aber die Autos gefallen uns nicht. Saabs sind ein wenig prätentiös. Schiesser-Unterhosen sind ein Klassiker, aber wir beide haben eigentlich keine. Und meine Erinnerungen an die Märklin-Eisenbahn sind längst verblasst – mein Freund hatte als Ossi sowieso keine. Die Zeit der Zeitungen ist vorbei, steht in der Zeitung, die ich in Händen halte. Vielleicht ist es das, was die Kommentatoren mit dem Satz „Die Krise ist noch nicht beim Einzelnen angekommen“ meinen?

Von mir aus kann sie auch gerne bleiben, wo sie ist, die Krise. Und mein Freund als alter Ossi weiß wie immer Rat: „Es geht immer weiter, auch wenn alles zusammenbricht. Außerdem brauche ich eine benzinbetriebene Kettensäge“. Benzinbetrieben. Gibt es so was auch mit Raps-Öl-Motor? Und was ist mit den karzinogenen Stoffen, die bei der Verheizung des zerkleinerten Holzes entstehen? Das frage ich mal lieber nicht laut und zünde mir noch eine an. So eine Kettensäge kostet ja auch wieder Geld – ob ich mir das von Tabaklobby finanzieren lasse? Immerhin habe ich in den letzten zwei Absätzen zweimal das Rauchen in einem nicht zwingend negativen Zusammenhang erwähnt. Leider weiß ich aber die Telefonnummer der Tabaklobby nicht.

Kettensäge. Wo kauft man so was? Aber bevor ich diesen Gedanken zu Ende denken kann, hat mich mein Freund schon auf einen bizarren, aber womöglich zukunftweisenden Shopping-Trip entführt. Wir fahren in den Berliner Plattenbau-Stadtteil Hohenschönhausen, um eine Makro-Welle zu erwerben, die eigentlich nach Kaliningrad in Russland gebracht werden soll. Sie haben richtig gehört: Makro-Welle. Original Ostproduktion, Baujahr 1988, groß wie eine Spülmaschine und in MaschiBau-lindrün, Not-aus-Reißleine und mit Knöppen groß wie Zuchtchampignonköpfe. „Sag mal“ frage ich, als wir in der „Polizeiruf 110“-artigen Kulisse stehen, ein halb abgebrochenes Lagerhaus im Schatten der Plattenskyline „was ist das denn bitte für eine Mikrowelle? Ist das radioaktiv?“ frage ich verängstigt. „Makro, bitte schön. Das ist ein Therapiegerät und hilft gegen Rückenverspannungen. Hilft super, ist aber nach der Wende in Vergessenheit geraten. Und sieh mal, hier in den Auslegern, da ist sogar Goldstaub drin.“ Fast so beeindruckend wie die stattlichen Goldzähne des Händlers, der seine Zahnreparaturen längst in Russland machen lässt, der Kosten wegen.

Auf der Rückreise liegt unser Auto, konzipiert noch in der Blütezeit der Bundesrepublik, gebaut auf dem Höhepunkt der deutschen Automobilindustrie, bedrohlich tief auf der mit Löchern gespickten Piste. Und vor meinem geistigen Auge sehe ich uns in zwanzig Jahren durch Bochumer Hinterhöfe schleichen, auf der Suche nach einem noch fahrbereiten Opel Astra. In Secondhandwühltischen nach soliden Schiesser-Unterhosen grabbeln. Auf dem Schwarzmarkt mit Speck aus eigener Schlachtung wedelnd, um eine alte Märklin-Lok für den Neffen zu ergattern. Mein Gott, Frau Schaeffler, ich weine mit ihnen!

Unauffällig fasse ich in die Tasche und fingere an meinem Portemonnaie herum. Der Zwanzigeuroschein ist noch da. EC-Karte? Ja. Kreditkarte? Ja. Noch muss ich also nicht verstaatlicht werden. Ich muss vielmehr schnell eine benzinbetriebene Kettensäge kaufen, solange die Konten noch nicht gesperrt, die Kettensägenanbieter nicht insolvent, das Benzin nicht alle …

„Heute Abend bekommst du eine Makro-Massage. Du wirkst so verspannt,“ sagt mein Freund „und rauch doch nicht so viel!“

Kolumne 45

6.2.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Global schwafeln, lokal handeln

Der Frühling kommt, irgendwann. Zeit, sich Gedanken zu machen über Zuversicht, Shoppen und Guantánamo

Es gibt ja diese Ungleichzeitigkeiten, auch und gerade in ländlicher Idylle. Während draußen alles in grauen Farben gefriert und vor sich hin ödet, ist im Einkaufszentrum vor den Toren der Stadt längst Frühling. Es grünen und sprießen die Frühblüher, genau zwischen Backzutaten und Spirituosen. Wer könnte da noch ohne Hoffnung sein? Gäbe es eine Abwrackprämie für Jahreszeiten, dann wäre der Winter jetzt fällig und die neue Jahreszeit längst geleast.

Mein Freund und ich haben am Wochenende mal intensiv über unsere Vorhaben für 2009 nachgedacht. Einen Guantánamo-Flüchtling aufnehmen? Nur, wenn er gut aussieht. Wobei mein Freund sagt, dass George W. doch eigentlich viel mehr Platz auf seiner Farm in Texas hat als wir. Auch wahr.

Mehr soziales Engagment im Nahumfeld, auch immer gut. Unsere Nachbarin zum Beispiel verabschiedet sich schon seit geraumer Zeit, Schritt für Schritt mit dem Rollator, in Richtung Demenz. Sie wird dabei immer liebenswürdiger und lebenslustiger, so dass es eine Freude und fast schon ein Trost ist, mit ihr zusammen zu sein. Wir wollen mit ihr und ihrem Sohn, der sie pflegt, bald einen Ausflug machen. Auch wenn das nicht zu hundert Prozent altruistisch motiviert ist: Demenz als Bewältigungsstrategie, warum nicht?

Wenn man die Nachrichtenlage beobachtet, ist gebären zur Zeit kein Thema, in dem Punkt haben wir schon mal keinen Stress mehr. Unter Druck ist man nur in Fragen der Zuversicht und des Shoppens. Man soll keine Angst vor der Krise haben und ganz viel einkaufen, damit die Wirtschaft nicht einknickt. Bekommt man denn dafür im Moment Kredite bei den Banken? Wir wollen eine Mail an ackermann@db.deschicken.

Bleibt noch die Frage: Was machen wir bloß mit Schwester Benediktine, auch bekannt als „Der heilige Vater“? Uns war ja klar, dass wir mit ihr noch viel Freude haben werden, aber jetzt wird es langsam derb. Wenigstens hat Angie mal eine Ansage gemacht.

Das sind Gelegenheiten, bei denen es meinem Freund ganz anders wird. Als gelernter DDR-Bürger Jahrgang 1963 weiß er, dass ein bislang als ehern und unveränderlich angenommenes „System“ von einem Tag auf den anderen abhandenkommen kann. Ich als gelernter BRD-Bürger Jahrgang 1973 weiß das ehrlich gesagt keineswegs – weshalb mir das mit der Zuversicht und dem Shoppen viel leichter fällt.

Mein Freund macht sich indes Sorgen über eine Erkenntnis, die aus historischer Sicht nicht so ganz von der Hand zu weisen ist: Schlechte Zeiten sind besonders schlecht für Minderheiten. Und von der jüdischen Weltverschwörung ist es ja nicht so weit zur jüdisch-schwulen Weltverschwörung. Nun ja. So schnell bekommt man die Paranoia nicht aus den Knochen, sie gehört wohl zum Erbe. Und klar: „Being paranoid doesn’t mean they are not after you.“ Aber wenn man vor die Tür geht, dann steht die Welt ja noch. O. k., die Blumen sind noch im Supermarkt, aber ansonsten ist alles noch da.

Und haben nicht alle Menschen gerade Angst, auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen? Zum Teil hat man den Eindruck, als ob überall ein diskreter Tanz auf dem Vulkan stattfindet. Jetzt nicht so richtig laut und hysterisch – man köpft nicht alle Flaschen Champagner, die man noch im Keller hat, auf einmal – aber doch bestimmt, leise „Hurra, wir leben noch“ nuschelnd.

Wir sind stattdessen in Rheinsberg spazieren gegangen. Friedrichs Schloss steht noch – und wie! Frisch herausgeputzt ist es. Die Sonne erbarmte sich und schien vorübergehend, der See war malerisch zugefroren und das hässliche alte FDGB-Hotel am gegenüberliegenden Ufer ist abgerissen, das nahegelegene AKW stillgelegt.

Nein, Zukunftsangst macht keine Freude. Demenz ist keine Lösung und Paranoia ist auf Dauer ungesund. Shoppen kann man nur so viel, als Geld erwirtschaftet ist, und Benediktine kann uns mal gerne haben. Und ist es nicht großartig, dass Guantánamo aufgelöst wird – at last?

Als die Sonne sich ihrem ganz privaten Untergang neigte, sind wir noch ins Einkaufszentrum gefahren. Frühblüher kaufen.

Kolumne 44

22.1.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Andere nennen es Arbeit

Wenn die werktätige Masse zu zweit werkelt: Voller Einsatz im Vorgarten

„Um Gottes willen: Günter Grass hadert immer noch mit der deutschen Einheit“, sagte ich zu meinem Freund. „Aha“, sagte er nur. „Du, und der Thierse sagt, dass ihr Ostdeutschen mal bitte schön stolz sein sollt auf die friedliche Revolution.“ Wieder nur „Aha“ – und statt einer Antwort kam lediglich die freundliche Ansage: „Steh doch mal bitte auf und schau vor die Tür.“

Habe ich dann auch gemacht, allerdings war draußen nichts zu sehen, wenn man von dem riesigen Haufen Kleinholz absieht, der sich vor mir auftürmte: „Du, komm mal gucken, ich glaube, vor der Tür ist ein Baum explodiert oder so was!“, rief ich in den Flur. „So, wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben“, hallte es zurück, „das hat Erich Honecker immer gesagt.“

Aus die Maus. Keine Diskussionen, stundenlangen Gespräche, Metaebenen und Subtexte. Stattdessen wurde ich dazu verdonnert, beim Holzstapeln – oder nennt man das Aufschichten? – zu helfen. Mein Freund nennt so etwas dann eine „Gelegenheit, sich einzubringen“. Diese Sprache, das sind dann so Momente, in denen ich mit der Wiedervereinigung hadere.

Wenn man die ganze Woche in der Großstadt war, um seine Neurosen zu pflegen, kommt einem die Vorstellung, Holz in freier Natur zu stapeln, erst mal absurd vor. Doch als ich langsam ins Schwitzen geriet vom vielen Zusammenklauben und Hin- und Herschleppen, konnte ich das Geschehen wieder fassen: „Sag mal, wieso muss ich hier eigentlich den unqualifizierten Hiwi-Part übernehmen, während Monsieur schön im Stehen stapelt?“ Die Antwort war ja klar: „Weil der Stapel zusammenbricht, wenn du das machst.“ Ich gab zu bedenken, dass ein solches Gespräch im wahrsten Sinne des Wortes nicht auf Augenhöhe stattfände, ich mich in meiner Komepetenz herabgewürdigt, motivationstechnisch abgewürgt und zudem einseitig ausgebeutet sähe und eine Supervision für dringend nötig befände, und zwar möglichst sofort. Denn schließlich gehe es bei der Arbeit ja auch um Selbstverwirklichung und Anerkennung – wenn nicht gar möglichst ausschließlich.

Er antwortete nicht und stapelte stumm weiter, während ich mich in einer aussichtslosen fordistischen Zwangssituation befand. Vom Arbeitsschutz mal ganz abgesehen. Keine Handschuhe. Splittergefahr! Aus Verzweiflung fing ich sogar an zu singen, womöglich instinktiv, genetisch abgespeicherte Bewältigungsstrategien der bäuerlichen Ahnen, auch wenn die das Lied „Lebt denn der alte Holzmichel noch“ nicht kannten, das hat uns ja erst die Wiedervereinigung gebracht.

Währenddessen paradierten vorbei: „Eier-Oma“ aus Schlesien, Bäuerin Grundmann mit Rollator, ein Teenager mit Pferd. Freie Menschen in einem freien Land, die sich verlustierten, flanierten und sich voll und ganz ihren hedonistischen Bedürfnissen hingaben, während ich in Fron erstarrte: „Es ist alles so sinnlos. Immer die gleichen Bewegungen, und dieser Berg von Holz wird einfach nicht kleiner. Ich bin völlig perspektivlos. Zudem völlig überqualifiziert, theoretisch zumindest, also auch unterfordert. Das ist ja hier schlimmer, als in die Fänge der Bundesagentur für Arbeit zu geraten“, klagte ich an und fand wieder kein Gehör. Wende? Eher Gulag. Isoliertes Element der werktätigen Massen. „Man hatte uns andere Dinge versprochen. Wir waren voller Hoffnungen und Träume von einem gelungenen Leben, in dem Arbeit und Beruf Hand in Hand gehen.“ Ich flüsterte nur noch, entkräftet, erschöpft, geschunden.

Doch irgendwann war der Haufen verschwunden, auf so wundersame Weise, wie er gekommen war. Alles aufgeklaubt und gestapelt. Mein Freund klopfte mir anerkennend auf die Schulter: „Ja, Mensch, du siehst richtig frisch aus, alles schön durchblutet, Kreislauf aktiviert, alle Muskelgruppen zum Einsatz gebracht – und endlich entspannt statt überspannt. Das Rezept für eine Stunde Ergo-Therapie kannst du mir nächste Woche nachreichen.“

So was nennt man, glaube ich, Entfremdung in der Postmoderne.

Kolumne 43

6.1.2009

MARTIN REICHERT ÜBER LANDMÄNNER

Flora, Fauna, Fest

Menschen, Tiere und Pflanzen im weihnachtlichen Lichterglanz vereint – schöner wird’s nicht

Erst wenn der letzte Böller zerballert, die letzte Flasche Sekt geleert und die letzte Gans aufgegessen ist, werdet ihr merken, dass Festtage nicht ewig dauern. Diese Weisheit bekam als Erstes jene Spitzmaus reingedrückt, die sich über die Feiertage in unserem Wohnzimmer eingenistet hatte. Mein Freund erwischte sie während eines Neujahrsgelages in der Keksschale, packte sie an ihrem verlängerten Rückgrat und beförderte sie freundlich, aber bestimmt vor die Tür. So gerne man Gäste hat, irgendwann ist man auch froh, wenn man mal wieder seine Ruhe hat.

Bei aller Freundschaft! Denn: Weihnachten & Co standen bei uns nicht unter dem Stern der Familie, sondern unter dem Milchstraßenglanz des Freundeskreises. Wir hatten sozusagen Tag der offenen Tür – und der Christbaum war festlich geschmückt nicht etwa für leuchtende kleine Kinderaugen, sondern zur gezielten optischen Anregung der alkoholisch schimmernden Netzhäute Halberwachsener. Die „dicke Berta“, eine brandenburgische Nordmännin mit etwas zu opulent geratener Hüftregion, war mit Lametta behangen wie Josephine Baker in ihren besten Tagen. Gott sei Dank, denn beinahe wäre sie an die Elefanten des Berliner Zoos verfüttert worden, weil mein Freund mit dem für den Verkauf zuständigen Revierförster aneinandergeraten war, des Preises wegen. Vom Revierförster stammt auch die Geschichte mit den Elefanten – ich habe aber dann einfach stillschweigend bezahlt, sodass die Dickhäuter leer ausgingen.

Die brandenburgische Fauna hingegen landete nach und nach in unserem Backofen, der Freunde wegen. Wildschweine, Kaninchen und Gänse aus heimischem Anbau wurden mariniert, gefüllt und gespickt, gebraten, gesotten und gedünstet, dass es eine Freude war und ein Alb für Vegetarier. Verschont wurden nur die Katzen und der Singvögel frierender Schar, die sich vor den Fenstern an den vom Einkaufzentrum mitgebrachten Körnergeschenken erfreute.

Die Beglückung der Tierwelt war insofern durchwachsen, doch auch die Menschen kamen zunächst nur zur Hälfte an. Ein Teil hatte sich schon kurz nach der Abfahrt in Berlin verabschiedet, um sich am Alexanderplatz zu erbrechen – in Erinnerung an das Festtagsgelage vom Vorabend und in böser Ahnung vor dem Kommenden.

Doch die Durchgekommenen erfreuten sich der dicken Bertas Reizung der Netzhäute, befeuchteten selbige rege mit Rotkäppchen-Sekt und genossen die gegarte Fauna mit Freude. Denn mit dicken Bäuchen und einem warmen Ofen im Rücken lässt es sich entspannter über die Wirtschaftskrise debattieren.

So ging es insgesamt drei Tage lang. Kochen, essen, trinken, Ofen beheizen, Baum illuminieren. So ähnlich müssen sich jene Nachkriegsmütter fühlen, denen es mangels Assistenz neuer Väter stets alleine obliegt, das heimatliche Nest auf Hochglanz zu polieren und mit Weihnachtskugeln zu dekorieren. Ganz alleine verantwortlich für Choreografie, Dramaturgie und Produktion einer dreitägigen Orgie. Ein Hammerjob, den man eigentlich nur betrunken durchstehen kann. Ich muss nächstes Jahr an Weihnachten unbedingt mal meine Mutter fragen, wie sie das all die Jahre ausgehalten hat – wenn wir bei ihr am Tisch sitzen und uns das Essen auf den Teller häufen lassen. Mit Blick auf den schönen Weihnachtsbaum, mit dessen Erwerb und Beschmückung ich nichts zu tun hatte, weil dafür ja wohl irgendwie das Christkind zuständig ist.

Ich kann mich auch entsprechend nicht mehr so richtig erinnern, wie der letzte Tag der Festtagsorgie endete, weil irgendwann ein Rotwein aus Baden ins Spiel gekommen war, der mich auf die Bretter gehauen hat. Alles, was ich weiß, ist, dass die Spitzmaus, die mein Freund eben noch zur Tür begleitet hatte, schon nach einem Tag wieder aus dem Skiurlaub zurück war. Sie hat es sich unter einem Türschweller gemütlich gemacht. Sie ist eben einfach gerne bei uns. Und das war auch das schönste Weihnachtsgeschenk: Freunden eine Freude zu machen, sie zu Gast zu haben. Weihnachten in der Familie.

Kolumne 42

19.12.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Mein Mann des Jahres

Wenn es ihn nicht gäbe, dann müsste man ihn erfinden: den Freund mit dem roten Schal

Mein Lebensgefährte ist Denkmal des Monats. Deshalb wurde die Straße gesperrt und der Bürgermeister der Ackerbürgerstadt hat mit dem städtischen Gabelstapler einen Glühweinstand bringen lassen und der Kindergarten-Chor hat gesungen und das Blechbläser-Ensemble war auch da. Und der Weihnachtsmann. Und das Fernsehen.

Also, nein, so alt ist er nun auch wieder nicht, mein Lebensgefährte. Ich muss das erklären. Aber das alles hat auch wirklich genau so stattgefunden, weil das Fernsehen ja auch da war, und die haben alles gefilmt und das ist der Beweis.

Das Denkmal, das sind eigentlich die alten Ackerbürgerhäuser, die mein Freund in liebevoller Handarbeit und über Jahre renoviert und vor dem sicheren Verfall bewahrt hat. Es sind die allerältesten Häuser der Ackerbürgerstadt. Sie sehen ein bisschen aus wie in einem surrealistischen Film, alles ist krumm und nett angeschrägt – weshalb, glaube ich, viele Ackerbürger denken, dass mein Freund einen am Sträußchen hat.

Dass es einen städtischen Gabelstapler gibt, haben wir gar nicht gewusst. Aber das Schöne an so einem Feiertag ist, dass endlich mal die Kulissen stimmen. Das ist so ähnlich wie mit Weihnachten. Es war eine gute Gelegenheit, endlich mal den ganzen Müll und Schrott und Bauschutt wegzuräumen. Und die Spinnweben hinter der Treppe zu entfernen, mein lieber Mann. Die Katzen mal durchzulüften und die leeren Flaschen wegzubringen. Zur Feier des Tages standen auch die beiden Transporter der Nachbarn ausnahmsweise mal nicht genau vor dem Wohnzimmerfenster. Wegen des städtischen Ausnahme-Parkverbotsschildes.

Allerdings hat sich das Denkmal des Monats komplett geweigert, meine Medienberatung in Anspruch zu nehmen. „Ich bitte dich inständig, nimm doch diesen roten Schal ab, wenn du interviewt wirst.“

Aber als dann die Ackerbürger da waren und der Kindergarten-Chor und die Blechbläser und das Fernsehen, was musste ich da sehen? Was musste ich da sehen? Der rote Schal leuchtete inmitten des Dezember-Graus, als ob Gregor Gysi, Walter Momper und Franz Müntefering eine Personalunion eingegangen wären. Roter gar als das Gewand des Lebkuchen verteilenden Weihnachtsmannes.

Der Gabelstapler hatte auch noch ein Stehpult mit eingebauten Mikrofonen gebracht, das dann allerdings mangels Verstärkeranlage und Stromversorgung nicht so richtig zur Geltung kam bei der Ansprache des brandenburgischen Denkmalschutzamtes. Und als das Denkmal selbst sprechen sollte, machte er nicht viele Worte, sondern sagte bloß, dass man ja wohl heute Abend alles im Fernsehen sehen könnte und er deshalb nicht viele Worte machen müsse.

Anschließend durften alle mal hinter die Kulissen gucken und die Häuser von innen anschauen. Für Verwirrung sorgte allerdings der Kinderstuhl in unserer Küche. Ob ich das hätte erklären müssen? Dass die dazugehörige Frau nicht etwa unsere Leihmutter ist, sondern eine mit uns befreundete Untermieterin und das dazugehörige Kind gerade mit seinem Vater in Ägypten … Zu kompliziert.

Abends dann, als die Blechbläser und das Denkmalamt wieder weg waren und der Gabelstapler den Glühweinstand zurück in seine Garage gefahren hatte und die Ackerbürgerstadt zurück in ihren Vorweihnachtsschlummer gefallen war, sahen wir uns dann unser Zuhause im Fernsehen an. Den roten Schal hatte mein Denkmal des Monats immer noch an, weil er starke Halsschmerzen vom vielen Reden hatte, was sonst ja nicht so sein Ding ist.

Es ist also alles wahr, wir haben es im Fernsehen gesehen. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als ich diese Ruinen zum ersten Mal gesehen habe. Mir ist einfach nur schwarz vor Augen geworden. Ich hatte die Fantasie einfach nicht. Mein Freund schon. Man muss ihn einfach lieben, inklusive roten Schals. Ein denkwürdiger Mensch, und das nicht nur für einen Monat. Ganz in echt, keine Kulisse. Ich habe das schon immer gewusst.

Kolumne 41

10.12.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Konsum für den Weltfrieden

Auf in die Wirtschaft, der Wirtschaft wegen: mit Würzfleisch an Scheiblettenkäse gegen die Krise

„Sag mal, wie ist denn das jetzt mit den Konsumgutscheinen, hast du schon einen bekommen?“, fragte mich mein Freund neulich beim Nachmittagskaffee. Es war schon so gegen fünf und draußen in der Natur hatte bereits jemand vorzeitig das Licht ausgeknipst, wie in dieser Jahreszeit leider üblich. „Na, wenn ich schon einen hätte, dann hättest du doch wohl auch schon einen, oder etwa nicht?“, fragt ich zurück. „Na ja, hätte ja sein können, dass du als Wessi …“ Na von wegen: „Also, bei mir liegt gerade eine Mahnung vom Finanzamt, und die wollen Geld, anstatt mir welches zum Verjuxen zu geben“, antwortete ich erbost, und „wenn es diese Gutscheine gäbe, würde DEINE Kanzlerin schon dafür sorgen, dass du ihn als Erster bekommst.“

Nun war es jedoch unser gemeinsamer Bundespräsident, Westdeutscher, der sich im Rahmen einer Reise durch das Land Brandenburg freundlich gegenüber Ostdeutschen geäußert hatte – und dabei auch noch klimaschonend vorging, denn weit hatte er es ja nicht vom Schloss Bellevue aus, das man in Brandenburg übrigens „Bällewüeh“ ausspricht. Horst Köhler hat gerade die Brandenburger ob ihres Engagements für den Aufbau ihrer Region gelobt. Es sei die Leistung der Bürger, dass die Arbeitslosenquote wieder stark gesunken sei, hat er gesagt.

Allerdings, denn auch wir beide hatten an diesem Abend das Unsrige getan, um den Arbeitsplatz von zwei Köchen und einer Auszubildenden im Bereich Gastronomie zu retten. Wir fuhren in die Kreisstadt, um in der dortigen „Speisegaststätte“ zu Abend zu essen. Ganz ohne Gutschein.

Die Menschen aus der brandenburgischen Wirtschaft haben sich richtig gefreut, als wir kamen, denn schließlich waren wir zusammen mit einem Ehepaar, das sowohl vom Klangbild als auch von der Optik her zwingend aus Düsseldorf stammte, die einzigen Gäste an dieser Stätte.

Als die Düsseldorfer dann auch noch gingen („Wir fahren ja viel mit Tempomat“), waren wir ganz allein mit unserem „Würzfleisch“, wobei es sich um „Raggu Fäng“, überbacken mit Scheiblettenkäse handelt. Allein in unserem ostdeutschen Traditionslokal, in dem es vor Ankunft der Düsseldorfer, Hamburger und Bielefelder – also vor 1989 – immer brechend voll war, wie mein Freund erzählte, „Sie werden platziert“.

Heutzutage hat man nun wirklich freie Tischwahl, und damit wir uns nicht so auf der Stuhlkante fühlten, illuminierte der Azubi sogar die Möbelhaus-Kronleuchter im großen Raum nebenan. Während des Hauptgangs, Grünkohl mit Knacker, standen wir unter ständiger Beobachtung. Der Jungkoch und seine Assistentin spähten immer wieder durch die winzige Küchenklappe auf unsere Teller und unsere Gesichter, einmal winkte der Koch sogar. Ich glaube, sie wollten sich sowohl von der Sinnhaftigkeit ihres Tuns überzeugen als auch Gewissheit und Hoffnung ob der Zukunft ihrer Arbeitsplätze erlangen.

Von unserer Seite aus waren die Signale jedenfalls positiv. Die überdimensionierten, laut brandenburgischem Verbraucherschutzministerium garantiert nicht von irischem Dioxin verseuchten Würste mundeten, auch wenn man sich ob der Stille arg bemühen musste, nicht zu schmatzen oder zu sehr mit dem Besteck zu klappern.

Als wir dieses Schauspiel nun beendet hatten, zahlten wir lächerliche neunzehn Euro für zwei Essen mit Vorspeise und Getränken – und fragten nach, ob wir in Zukunft vielleicht auch mit bundesrepublikanischen Konsumgutscheinen zahlen könnten. Und, dass wir in diesem Fall beim nächsten Mal in Erwägung zögen, auch noch ein Dessert zu wählen. Geht nicht, sagte die brandenburgische Wirtschaft.

Also, wenn wir beim nächsten Mal nach Berlin fahren, vielleicht aus Anlass des Weihnachtskonsums, schauen wir mal in „Bällewüeh“ vorbei und fragen nach einem Bundesverdienstkreuz. Und dann gleich weiter zum Kanzleramt, wegen der Gutscheine. Ich meine: Wir tun ja nun wirklich, was wir können, um unsere Wirtschaft zu retten. Aber es reicht nie.

Kolumne 40

25.11.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Das Geheimnis des Geldkreislaufs

Wenn globale Krisen auf lokalen Erkenntnisdrang stoßen, kann schon mal das Bargeld knapp werden

Haben Sie eigentlich mittlerweile wirklich verstanden, wie das so funktioniert mit dem weltweiten Geldkreislauf? Wo kommt das Geld her, wie kommt man an es heran – und warum verschwindet es gelegentlich einfach über Nacht?

In unserer kleinen Ackerbürgerstadt wollte es unlängst eine Gruppe junger Männer mal ganz genau wissen. Sie waren nicht länger bereit, sich mit der im Volksmund bislang üblichen Gewissheit, dass das Geld schlicht „aus der Wand“ komme, abzufinden, und sprengten kurzerhand einen dieser ominösen Automaten – in diesem Fall einen der Berliner Volksbank – in die Luft. Einfach mal sehen, was dahintersteckt!

Als dieses „Jugend forscht“-Projekt in die Tat umgesetzt wurde, saßen mein Freund und ich bei Kerzenschein und in Gesellschaft unserer Katzen in der Küche und ahnten nichts Böses. Das war genauso wie mit der Finanzkrise, es gibt zwar über Nacht einen Rumms, aber man denkt sich erst mal nichts dabei. Nicht mal die Katzen, die doch angeblich so sensibel sind.

Erst am nächsten Tag ergaben sich nähere Zusammenhänge. Dort, wo man eben noch Geld aus der Wand ziehen konnte, stand nun eine rauchgeschwärzte Ruine. Kein Bargeld mehr in der Ackerbürgerstadt, so schnell geht das.

Die jungen Herren, laut Polizeiangaben rumänischer Herkunft, wurden mittlerweile verhaftet, wahrscheinlich weil sie ihr wissenschaftliches Anliegen über einen längeren Zeitraum auf die ganze Region Berlin-Brandenburg ausgedehnt hatten – und dies trotz doch erheblicher Fortschritte. Schließlich waren Kollegen in dieser Frage noch vor gar nicht allzu langer Zeit gescheitert. Sie hatten bei einem vergleichbaren Versuch statt des Geldautomaten den Kontoauszugsdrucker aus der Verankerung gerissen und waren nun statt im Besitz der Erkenntnis neuer Eigentümer eines völlig veralteten, lärmenden Nadeldruckers.

Bei meiner Berliner Bankfiliale in Neukölln wird solcherlei Erkenntnisdrang seit neuestem übrigens recht streng entgegengetreten. Hinweisschilder in fünf Sprachen (1. Russisch, 2. Rumänisch, 3. Polnisch, 4. Englisch, 5. Deutsch) verweisen schon an der Eingangstür der Bank auf das Sicherungssystem „Skorpion“. Jegliche Penetranz in Bezug auf die Automatenhülle beantwortet das System mit einer chemikalisch verursachten Selbstzerstörung der Bargeldvorräte.

Wie es aussieht, kommt man den Zusammenhängen des weltweiten Geldkreislaufes zumindest mit dieser Methode also nicht wirklich auf die Spur. Oder glauben Sie etwa, dass jemand versucht hat, die Außenhülle der Lehman Brothers oder jene von Herrn Ackermann mit einem spitzen Gegenstand zu bearbeiten und dann folgte eines auf das andere?

Mein Freund hat nun beschlossen, sich den Widrigkeiten dieses Kreislaufes fürderhin völlig zu entziehen. „Bevor ich jetzt darauf angewiesen bin, dass mir Angela Merkel einen Regenschirm überspannt, kümmere ich mich lieber selbst um mein Kapital“, sagte er. „Mach’s doch einfach wie ich, immer schön im Minus bleiben, dann passiert auch nichts“, antwortete ich, woraufhin ich „naiv“ gescholten wurde.

Kurz darauf sah ich ihn mit Regenmantel und Spaten bewaffnet in Richtung Garten verschwinden. Ich ahnte dunkel, was er vorhatte, und sammelte rasch alles an Klein- und Wechselgeld ein, das ich noch in den Taschen hatte bzw. in einem überquellenden Behälter neben der Waschmaschine gesammelt hatte, und folgte ihm in die Dunkelheit. Wo das Geld herkommt und wohin es verschwindet, ist jetzt also zumindest in diesem Fall geklärt. Aber glauben Sie ja nicht, dass ich Ihnen die Stelle verrate. Und auch wenn Sie den ganzen Garten aufbaggern: Der Aufbewahrungsort ist mit „Skorpion“ gesichert. Ätsch!

Kolumne 39

21.10.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Außerplanmäßiger Halt

Kein Mensch will mehr Horrorgeschichten über die Bahn lesen. Aber kennen Sie die schon?

Das Reisen ist ja schon lange jeglicher Luxuriösität entkleidet. Dann jedenfalls, wenn man nicht gerade mit dem Privatjet, der Queen Mary oder dem Orientexpress unterwegs ist. Ob Billig-Carrier oder ICE-Großraumabteil – kein Glamour. Die profanste Art des sich Voranbewegens ist jedoch der RE. Der Regionalexpress, landläufig auch als Bauern-TGV bezeichnet.

In einem solchen bereiste ich kürzlich die südwestdeutschen Gefilde – leider ohne meinen Freund, der gerade eine Phase von kombinierter Flug-, Bahn- und Autobahnangst durchlebt. Wobei man sagen muss, dass er diese Ängste völlig zu Recht hat.

Flugzeuge haben gerne mal ein Problem mit Landeklappen, Fahrgestellen und Passagieren, die ein meinungsbildendes Anliegen haben und zu diesem Zweck Sprengstoff oder zu Übergriffen geeignete Werkzeuge mit sich führen.

Deutsche Autobahnen sind Hochgeschwindigkeits-Achsen des Terrors, Todeszonen. Im ICE laufen die Achsen heiß und schon eine Schafherde mit nur fünf Teilnehmern kann ihn aus dem Gleis springen lassen.

Aber der Regionalexpress ist das Schlimmste. Meiner hatte zum Beispiel einen „außerplanmäßigen Halt“ an einem S-Bahnhof bei Frankfurt am Main. Als einige Passagiere und ich das fünfzehnminütige Zeitfenster nutzten, um eine verbotene Zigarette zu rauchen – zwar außerhalb des Nichtraucherzugs, aber doch noch mitten auf einem von allen Menschen verlassenen Nichtraucherbahnhof – weigerte sich die Zugbesatzung, ihre Pforten wieder zu öffnen. Der Lokführer wurde von uns Ausgeschlossenen zwar umringt und bedrängt, fuhr dann aber trotzdem einfach weiter. Ohne uns, aber dafür mit unserem Gepäck. Da guckten wir aber schön aus der Wäsche, einer blöder als der andere.

Ich reiste dem Zug hinterher, ließ ihn anfunken, benachrichtigte sämtliche Bahnhöfe des Südwestens. Konsultierte Hotlines und Service Points, füllte Formulare aus, fluchte und heulte, wurde aschfahl und grün, trank zehn Kaffee TOGO für 3,50 Euro an Bahnhofskiosken und rauchte eine Big Box in den mit gelben Linien gekennzeichneten Raucherbereichen der Deutschen Bahn AG, also jenem Unternehmen, das sich, wenn es nach seinem Chef gegangen wäre, just gerade jetzt in Luft aufgelöst hätte wie ein sinnlos durchgezogener Glimmstengel. Es nützte alles nichts. Wahrscheinlich wurde meine Reisetasche vom SEK gesprengt oder so was. Herrenloses Gepäck – wie gerne hätte mich seiner angenommen, wenn man mich doch nur gelassen hätte. Nun ist es wohl verraucht.

Ich kam dann doch irgendwann am Ziel an – bei meinen Eltern. Und natürlich wäre mein Vater nicht mein Vater, wenn er nicht genau diesen Satz zur Begrüßung gesagt hätte: „Ich habe dir doch gesagt, dass es besser wäre, wenn du mit dem Rauchen aufhörst!“

Der Rückweg war dann erst recht verqualmt. Tonnen von Kerosin wurden sinnlos in die Luft geblasen, weil ich aus lauter Frust einen Nichtraucher-Inlandsflug genommen hatte, der nicht nur halb so billig wie die Bahn war, sondern darüber hinaus auch mich selbst anstatt nur meines (nagelneuen) Gepäcks transportierte.

Ich sage Ihnen: Das Beste am Reisen ist das Wieder-nach-Hause-Kommen. Als ich endlich wieder in der kleinen Ackerbürgerstadt angekommen war, freute ich mich unendlich auf ein schönes Glas Wein mit meinem Freund. Unsere vertraute Ernie-und-Bert-Situation: Bert sitzt im Sessel, Ernie kommt mit irrem Blick und Ringelpullover reingescheppert und hat wieder lauter Sachen erlebt: „Das glaubst du nicht, was ich dir zu erzählen habe, das glaubst du nicht“, sagte ich mit irrem Blick und bekleidet mit einem Ringelpullover aus den Beständen meines Vaters, circa Mitte der Achtziger.

Vorher wollte ich noch eine rauchen und ging zu diesem Zweck brav vor die Tür. Fantasierte von Raucherabteilen im Orientexpress, Raucherflügen von Pan Am. Und als ich reinwollte, hatte mein Freund die Tür abgeschlossen. Bei welcher Service-Hotline ruft man da an?

Kolumne 38

4.10.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Allein unter Heteros: Schwitzen im Sitzen

Wellness am Tag der Deutschen Einheit – es wächst dann zusammen, was zusammengehört

Wenn Ostdeutsche nicht gerade nackt an der Ostsee herumliegen, gehen sie in die Sauna. Da mein Freund jedoch in seinem früheren Leben als DDR-Bürger in einer solchen tätig war, geht er nicht mehr hin: „Du warst im Solebecken?!? Da wird doch nie das Wasser gewechselt…“

Woher soll man das wissen? Woher bitte?

Ich war schließlich noch nie in einer brandenburgischen „Saunalandschaft“, wie das im Jahre 19 der Wiedervereinigung jetzt heißt. Und apropos zusammen: unter anderem eben nicht, weil mein Freund ja nicht mitgehen will, musste ich halt auf eigene Faust los.

Allein unter Hetero-Ossis. Ohne Scout, ohne Gewährsmann, Anwalt, Rechtfertigung, Übersetzer.

Und ja: In der „Saunalandschaft“ ist es wie in einem anderen Land. Es fängt schon mit der Begrüßung an. Man bekommt zwar an der Kasse zur Begrüßung kein Geld (und muss, wie überall auch, welches abgeben), wird aber im Folgenden von allen begrüßt. In der Umkleidekabine, im Solebecken und in jeder einzelnen Saunakammer. Bei insgesamt fünf verschiedenen Kammern und geschätzten 20 Gästen kam ich in den eineinhalb Stunden meines Aufenthaltes auf gefühlte 42 Begrüßungen, wenn auch ohne den landesüblichen Handschlag, was wohl der unüblichen Hitze und der damit verbundenen Feuchtigkeitsentwicklung auf den Handflächen zusammenhängt.

Selbstverständlich weiß man in den Saunalandschaften östlich der Elbe mit dem Begriff „Textilsauna“ nichts anzufangen. So etwas ist was für verklemmte Wessis – ein Zustand innerer, religiös motivierter Schamigkeit, der mir von ostdeutschen Freunden quasi per Exorzismus ausgetrieben wurde, mittels angeleitetem Nacktbaden in besagter Ostsee, irgendwann Mitte der Neunziger, also noch vor der Einführung von Textil- und Hundestränden auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.

So weit, so gut. In diesem Punkt habe ich mein Schamgefühl nun wirklich verloren, was laut Sigmund Freud ja bereits die erste Stufe zum Wahnsinn ist. Die zweite schien mir jedoch aufgrund eines ganz anderen Zusammenhangs plötzlich nah. Der offizielle Kontext, Sauna im Gewerbegebiet einer ostdeutschen Kleinstadt, stimmte nicht mit den mich umgebenden Menschen überein.

Entkleidete Brandenburger Männer jungen und mittleren Alters sehen nämlich genauso aus wie Mainstream-Homosexuelle aus den Neunzigern: Enthaart, Ganzkörper-solariumgebräunt, leicht bis stark aufgepumpt, Tatoo, Piercing, gezupfte Augenbrauen. So was kann leicht zu Missverständnissen führen, und am Ende hat man ein blaues Auge.

Allein unter Heteros. Allein unter Ossis – das Schöne daran ist, das aufgrund des informellen Schweigegebotes in der Saunalandschaft niemand nichts Genaues weiß: Wer ist hier Ossi, wer Wessi? Wer schwul und wer hetero? Klar ist nur, dass man gemeinsam im Sitzen schwitzt – oder eben im, angeblich verunreinigten, Solebecken liegt.

Was uns zum Tag der Deutschen Einheit führt: Wir sitzen ja nun, Ost und West, schon länger gemeinsam in der Wanne. Und ja, vielleicht könnte man das Wasser mal wieder reinigen. Aber nackend sehen die Menschen nun mal schon ziemlich gleich aus, gemäß der alten Angstbewältigungsstrategie: Stell dir deinen Feind einfach in Unterhosen/nackt vor.

Also stellen wir uns doch zum Tag der Deutschen Einheit einfach mal vor, dass wir alle gemeinsam in der Saunalandschaft Deutschland stehen und die Nationalhymne singen, brüh im Glanze und so.

Mein Freund fragte mich – wegen dieser meiner Gedanken zum Tag der Deutschen Einheit – dann abends erst mal, ob ich mein Hirn womöglich zu lange in der Dampfsauna hatte garen lassen. So ist das mit der deutschen Einheit: Man redet aneinander vorbei. Steht man ganz alleine in der Saunalandschaft und dünstet im eigenen Vorurteil vor sich hin. „Die“ und „Wir“.

Antwortete ich also: „Du und ich – nächste Woche mal gemeinsam in die Sauna?“

Kolumne 37

16.9.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Die pistazienfarbene Wanderdüne

Mit einer Bayerin auf Schleichfahrt durch Mark und Uckermark: Der lange, lange Weg ist dann wohl das Ziel

Für die einen sind brandenburgische Alleen eine Todesfalle, für die anderen eine Touristenattraktion. Als wir jüngst Besuch aus Bayern hatten, vermieden wir Ersteres, indem wir konsequent nur Tempo 60 fuhren, und griffen auf Zweiteres zurück, weil sonst gerade nichts los war in Brandenburg: Wir machten einen Ausflug in das uckermärkische Templin – wobei man in Anbetracht der Benzinpreise genauso gut eine Kreuzfahrt nach St. Petersburg hätte anbieten können.

Templin in McPomm ist die „Perle der Uckermark“, es gibt dort eine Naturtherme (nur am Wochenende), Angela Merkel und eine Stadtmauer. Weil niemand Badesachen dabeihatte und die Bundeskanzlerin immer noch auf Bildungsreise ist, besichtigten wir die Stadtmauer und tranken anschließend Kaffee am Marktplatz. Latte macchiato gab es dort auf Nachfrage ausschließlich im vorschriftsmäßigen Glas und keineswegs in einer Tasse, weshalb unser Gast auf Milchkaffee zurückgreifen musste. Das sind dann so die innerdeutschen Probleme.

Wir haben nun mal kein Neuschwanstein, keine merkwürdig übersatt grün wirkenden Wiesen und auch keine Postkartenkühe zu bieten bei uns in Brandenburg. „Irgendwie kriegt mich diese Ex-DDR“, sagte unsere Besucherin, während ich im Rückspiegel nervös die immer länger werdende, überholbereit drängelnde Autoschlange beobachtete, „das ist hier so deprimierend.“ Die Laune der Eingeborenen wird natürlich auch nicht besser, wenn sie stundenlang hinter einer pistaziengrünen Wanderdüne mit Erdinger Kennzeichen herschleichen müssen. Man denkt dann unwillkürlich an Reformstau und hat keinen Blick mehr für den Aufschwung Ost. Grau in Grau wird nicht schöner, wenn man zwangsweise zur Entdeckung der Langsamkeit verdonnert wird.

Einmal Templin sehen und sterben. Was für ein Schicksal. Wir traten den Rückweg an, „der Weg ist das Ziel“ sagte die Automobilistin, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass sie sowieso lieber in die Stadt Brandenburg gefahren wäre, um den dortigen Backsteindom zu besichtigen. „Christentum und Frömmelei hast du doch in Bayern zur Genüge“, konterte ich. Mein Freund war auf dem Rücksitz längst eingeschlafen.

Aber sie hatte ja recht, man muss seinem Besuch auch was bieten. Honeckers Atombunker? Das Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen? Angela Merkels Datsche bei Templin?

Stattdessen krochen wir durch graue Dörfer und Kleinstädte, sahen reihenweise SPD-Wahlplakate – „Die Uckermark im Herzen“ –, auf denen der Traum vom Arbeiter-und-Bauern-Staat dann doch noch wahr wird: Ein blondes Mädchen mit Kornblumenstrauß posiert vor einem montierten Ensemble aus idyllischer Landwirtschaft und stahlglänzender Industrieagglomeration. Die FDP ist in quietschendem, aber wenigstens buntem Gelb angeblich „Stark vor Ort“. Grünes sah man nur in Form von Wiesen, dafür jede Menge braune Kandidaten an Laternenpfählen und Zäunen.

„Gibt es so was in Bayern eigentlich auch, oder wählt man dort sowieso immer nur die eine Partei?“, fragte ich deprimiert und bekam nur ein genervtes Augenrollen zurück.

Ja, manchmal kriegt sie einen schon, die Ex-DDR, besonders wenn die Sonne nicht scheint. Träumte stattdessen einen Tagtraum von einem Gegenbesuch in Bayern, der mir in diesem Moment mindestens so exotisch erschien wie ein Kurztrip nach Dubai. Urlaub bei den satten bayerischen Mittelstandscheichs, das wäre mal eine vorrübergehende Entlastung.

Auto um Auto, einer nach dem anderen, nutzte die Gelegenheit, uns zu überholen. Ich überlegte schon, ob ich uns bei Antenne Brandenburg telefonisch als Verkehrshindernis anmelden sollte. „Sag mal, warum kriechst du eigentlich so?“, fragte ich die bayerische Automobilistin. „Weil ich das so mit ihr abgesprochen habe“, antwortete mein generell beförderungsphober Freund von der Rückbank.

Jetzt verstehe ich, warum sich die Brandenburger Jugend so gerne totrast. Aus Langeweile.