Kolumne 36

3.9.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Krieg, so kalt wie die Küche

Kein Heizvorgang ohne Erwägung von Nato-Interessen. Doch mein Freund vermisst die Russen

Wenn man in diesen Tagen friert, weil es ein Problem mit der Heizung gibt, ist man gedanklich recht schnell bei geostrategischen Überlegungen angelangt. So wie neulich an einem doch recht kühlen, verregneten, nur angeblich sommerlichen Abend auf dem Lande.

Gut nur, dass wir dank Holzvergaser-Heizung auf die Russen nur in Fragen des Kochens angewiesen sind – kann man für den Gasherd eigentlich auch auf Biogas aus heimischen Anbau umsteigen?

Mein Freund hat jedenfalls keine Angst vor den Russen, auch wenn der Botschafter in der ZDF-Live-Schalte noch so streng dreinblickt. Im Gegenteil hat er als gelernter DDR-Bürger und Mitglied des Warschauer Paktes nur die besten Erinnerungen an die ehemaligen (Zwangs-)Gesandten des sozialistischen großen Bruders. Als Jugendlicher hatte er die Soldaten immer im Wald besucht, wenn sie dort am abendlichen Feuer Kartoffeln geröstet und Wodka getrunken haben. Er war in diesen Runden mit ihren traurigen Liedern immer willkommen und hat auch stets eine Kartoffel abbekommen.

„So so, Kartoffeln und traurige Lieder, mein Lieber, wenn es dabei mal geblieben ist…!“, sagte ich mahnend und baute mich zu voller Nato-Größe vor ihm auf: „Und was war mit den MIGs, die hier ständig ohrenzerfetzend über die Heide gebrettert sind, mit den Panzern, die eure sowieso maroden Straßen ruiniert haben? Du tust ja so, als sei hier eine Art riesiger Don-Kosaken-Chor zu Besuch gewesen.“ Was ihn trotz meines zwar atomar gemeinten, aber wohl doch eher konventionell rüberkommenden Abschreckungspotenzials nicht sonderlich zu schrecken schien: „Na, du bist doch nur eifersüchtig!“ Da konnte ich ja nur lachen, stand doch im Bundesländchen meiner Herkunft, Rheinland-Pfalz, hinter jedem Baum ein Soldat der brüderlich verbündeten Streitkräfte: Franzosen, die an den Wochenenden mit Adidas-Trainingsanzügen durch das kleinstädtische Nachtleben liefen, und Amerikaner, deren größte Freude darin bestand, einmal im Jahr beim Weinfest Karussell zu fahren. Es gab in meiner Heimat eine „Black Forrest Clock Factory“ und am Wochenende in der Bauern-Disse kam regelmäßig die Military-Police mit Fahrzeugen, die aussahen wie bei „Starsky & Hutch“. Zugegeben: Im Wald gegrillt wurde eher nicht.

Wir kamen ins Erzählen: Dort, wo einst die Russen waren, kann man jetzt Pilze pflücken, alle weg. Aber als ich vor zwei Wochen meine Eltern besuchte – zum Weinfest versammelte sich die in alle Herrgottswinkel verstreute Familie –, waren die Amis noch immer da. Doch erst jetzt bemerkte ich, wie verdammt knalljung all diese Männer, und heute auch verstärkt Frauen, sind, die mir damals so erwachsen vorkamen. Eigentlich noch Kinder – und zum Teil mit Narben an den Unterarmen, die bestimmt nicht daher rühren, dass sie von der Schaukel gefallen sind. Sie standen in großen Trauben beim Auto-Scooter und verschlangen Zuckerwatte, als ob sie morgen schulfrei hätten und nicht demnächst wieder von alten Leuten an die Front geschickt würden.

Die Jets fliegen dort immer noch, aber lange nicht mehr so tief wie seinerzeit. Die Sirenen heulen am Samstag nicht mehr zum Probealarm, aber in der nahen US-Air-Base Büschel lagern sogar noch Atombomben.

Wir gingen trotz des kühlen Wetters noch ein wenig spazieren, zum „Russenhafen“ am See, dort war früher ein Treibstofflager der Roten Armee. Die Abendsonne brach dann doch durch, aber wir waren ganz allein, weil alle anderen Menschen Brandenburgs zu Hause geblieben waren. Konnten wir uns also unbesorgt in den Arm nehmen: „Mensch, wenn ich dich früher schon gekannt hätte, dann hätte ich dir immer Westpakete geschickt“, sagte ich zu meinem Freund. „Ja, darüber hätte ich mich gefreut – aber vielleicht würden wir uns dann heute auch nicht mehr kennen“, antwortete er.

Der Kalte Krieg ist vorbei. Und wir beschlossen, diesen Abend unter ein Motto zu stellen, das in dieser Zeit entstanden ist und immer noch aktuell ist: „Make love, not war“.

Kolumne 35

5.8.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Wo die Neurosen brüllend blühen

Warum nicht mal einen kurzen Urlaub in der Großstadt machen – wenn da bloß nicht so viel Natur wäre!

Wenn im Moment schon alle Urlaub machen – der Deutschen liebstes Urlaubsziel in Zeiten angedrohter Rezession ist ja die mannigfaltige deutsche Provinz, obwohl die viel teurer ist als Antalya – dann können wir ja mal ein wenig Urlaub in der Großstadt machen. Dachte sich zumindest mein Freund, der Berlin auch mal wieder in anderem Lichte als dem des grauen Alltags sehen wollte.

Er machte sich also fein für den Asphaltdschungel und drängelte zur Abfahrt: Mr. Deeds fährt in die Stadt! Das ganze Programm sollte es sein. Flanieren, Shoppen, Essen gehen, „Nachtleben“. Au weia, das nun auch noch. Wehmütig winkte ich dem Storch auf dem Schornstein, als wir die idyllische kleine Ackerbürgerstadt in Richtung Moloch verließen – wo ich doch gerade herkam. Aus einer Stadt, in der die Mauersegler und Tauben regieren und ihren zahlreichen, in Käfigen eingesperrten Artgenossen von der Sittichfront den Schnabel lang machen.

Die Tauben scheißen da einfach alles voll und leisten somit einen wertvollen Beitrag: Sie beugen der Entfremdung des großstädtischen Menschen von der Natur vor, indem sie ihn an selbige erinnern. Solche Gespräche muss man dann führen, damit mein Freund nicht schon an der Stadtgrenze Herzrasen bekommt – ich kenne ja meine Pappenheimer. Erst in die Stadt wollen und dann wieder an allem rumnörgeln.

Ich ahne immer schon die missbilligenden Blicke, wenn man nur in die Nähe eines jener liebevoll umzäunten Baumgefängnisse kommt, die manchen Straßenrand säumen: „Nun lass sie doch, sie wollen eben auch, dass es mal ein bisschen schön ist, anstatt immer nur auf Hundekot zu starren“, versuche ich ihn zu beruhigen. „Außerdem ist das doch lustig: Da wachsen jetzt Blümchen, und Gartenzwerge gibt es auch!“

Als wir dann endlich einen Platz zum Essen gefunden hatten, der sowohl die Anforderungen eines ordnungsgemäßen Straßenkinos als auch den Erholungsfaktor einer urbanen Parklandschaft mit Wasseranbindung bot – was nun auch nicht leicht zu finden war –, sollte endlich der gemütlich-städtische Teil des Abends beginnen. Wie man das eben so macht: Erst mal eine Unterlage bilden für die alkoholischen Getränke, die da womöglich noch auf einen zukommen.

Als dann der Salat serviert wurde und mein Freund die ersten Bissen zu sich genommen hatte, war allerdings recht bald Schluss mit lustig: „Das ist Unkraut!“, sagte er mit großen, zunächst nur staunenden Augen „das ist genau das Unkraut, das an jedem Dorfbahnhof, an jedem Mülleimer und auf jedem Schutthaufen wächst. Und dafür soll ich fünfzehn Euro zahlen? Jetzt reicht’s aber!“

Ich versuchte ihn noch zu trösten, schließlich ist „Rauke“ ja nur ein Oberbegriff und streng genommen gehört Rucola ja auch zu den Rauke-Gewächsen und dass dies doch auch egal sei und Natur eben Natur … Schluss, aus.

Er wollte zurück, und bevor ich ihn dann wie einen Kampfhund an der Würgeleine von Lokalität zu Lokalität schleife, wo es dann auch keine authentische Natur außer brüllend blühenden Neurosen gibt, haben wir es mit diesem City-Kurztrip belassen. Andere nehmen für so was gleich einen Billigflieger. In der Ackerbürgerstadt angekommen, genossen wir dann das dortige Nachtleben: Wir betrachteten den Sternenhimmel durch einen ganz soften, pflanzlichen Schimmer aus eigenem Anbau.

Schön war das. Und als ich dann am Montag meine Sachen in den Kofferraum packen wollte, um mich den heiteren Beschwinglichkeiten des Arbeitslebens in der Stadt zu widmen, war kein Platz mehr darin. Alles voller grüner Pflanzen, in kleine Bündel zurechtgeschnitten und gebunden.

„Sag mal, Meister: Was soll das denn bitte sein?“, fragte ich den zum Abschied winkbereiten Naturfreund. „Ganz einfach. Die Waschmaschine ist kaputt und wir brauchen eine neue. Die Rauke ist vom Schuttberg und du verkaufst sie jetzt bitte in der Stadt. Für mindestens zehn Euro das Bündel.“

Kolumne 34

23.7.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Die Callas in der Scheune

Brandenburg-Kompatibilität muss kein Problem sein: Alles nur eine Frage der inneren Haltung

Die Liebe meines Lebens ist großartig, aber nicht immer ganz alltagskompatibel. So wie neulich, als wir am Nachmittag zu einem klassischen Konzert im Brandenburgischen eingeladen waren.

Ich kam auf den letzten Drücker aus Berlin und musste meinen Freund mit laufendem Motor und also flüssige Juwelen verdampfend seiner Baustelle entreißen. So sah er dann auch aus, als er endlich neben mir saß, damit wir uns gemeinsam auf der Landstraße verfahren konnten. „Sag mal, wieso hast du eigentlich ein FDJ-Hemd an?“, fragte er mich misstrauisch, als wir die Ackerbürgerstadtgrenze hinter uns gelassen hatten. „Das ist kein FDJ-Hemd, sondern farblich, bitte schön, der letzte Schrei. Außerdem sind wir zu einem Konzert eingeladen und du trägst Flipflops!“ Schweigen. Das mit dem Konzert hatte er mal wieder nicht mitbekommen.

Wir fuhren also vorbei an ostelbisch dimensionierten Golfanlagen, wurden von chromblitzenden Schrankwänden, SUVs, überholt und kamen – nachdem wir dank Navigation meines Mannes schon fast an der Ostsee waren – irgendwann an eine historische Schlaglochpiste, die uns zum Tempel der Kunst führen sollte. Es handelte sich, wie üblich in Brandenburg, um eine Scheune. Das ist so ähnlich wie mit den großstädtischen Kunst-Events in alten Fabrikhallen: Gearbeitet wird hier sowieso nicht mehr, kann man sich auch einfach amüsieren. Und wie! Meinen Freund haute es fast aus seinen Gummi-Pantinen, als die zarte Dame auf der Bühne anhob, um „La Traviata“ raumgreifend und stimmgewaltig unter der offenen Fachwerkdachkonstruktion zu deponieren.

Das Publikum hatte sich chic gemacht und war ergriffen – regelrecht dankbar brandete der Applaus, während man in Berlin schon mal damit rechnen muss, dass bei Nichtgefallen eine leere Flasche Schultheiss auf die Bühne fliegt, symbolisch jedenfalls. Und mein Freund schämte sich noch immer ein wenig für seine despektierliche Kleidung: „Nur weil wir hier in einer Scheune sind, muss ich ja nicht unbedingt so rumlaufen“, klagte er, während ich mich wunderte, dass mir die Leute ständig auf den rechten Arm schauten. „Ha, die gucken bloß, wo das gelbe FDJ-Sonnenemblem abgeblieben ist“, freute er sich. „Na, pass du bloß auf, Freund. Wenn wir zu Hause sind, setzt es mindestens zwei Stunden Kritik und Selbstkritik!“, drohte ich zurück.

Wir entschieden uns nach Rückkehr in die Ackerbürgerstadt stattdessen für Bekömmlicheres, „Schnitzel Champignons“ bei unseren Wirtinnen. Und als dann um zehn die Tür abgeschlossen und die Aschenbecher auf den Tisch gestellt wurden, saßen wir alle zusammen – inklusive Koch und Servierdame – am runden „Stammtisch“ und erzählten. Was für Geschichten: Damals, als man den blutjungen Rotarmisten auf seinem Posten mit Wodka abgefüllt und ihm einige dreiste Burschen die Kalaschnikow abgenommen hatten. Da war aber was los. Er hatte gezittert vor Kälte und geweint vor Angst, „Sibir! Sibir!“. Da hatten sie ihm rasch Leberwurststullen gemacht und ihn mit Kaffee ernüchtert. Das Gewehr wurde mit vereinten Kräften wieder ausfindig gemacht, und als der junge Mann von seiner Truppe wieder eingesammelt wurde, war er halbwegs nüchtern und im Besitz einer unversehrten Waffe. „Die Russen, das waren doch schließlich auch nur Menschen. Ach Gott, hatten wir damals einen Spaß. Auf den Tischen wurde hier damals getanzt, so war das. Und heute? Da wollen alle plötzlich ganz vornehm sein“, erzählte die Wirtin bei einem Glas Rotwein.

Wir rauchten noch mit dem Koch die ein oder andere Zigarette, der (einzige) Mann vom ackerbürgischen Ordnungsamt war längst zu Bett gegangen und träumte von flächendeckender Parkraumbewirtschaftung. Auch der Brandmeister von der örtlichen Feuerwehr hatte sich schon vor Stunden mit einem Klopfen auf den Tisch verabschiedet. Dann gingen auch der FDJ-Sekretär mit dem blauen Hemd und der Mann mit den Plaste-Tretern nach Hause.

Ganz kompatibel, sowohl miteinander als auch mit dem Brandenburger Alltag.

Kolumne 33

3.7.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

 „Scaloppa Mario“ aus dem Lidl

Auch in Brandenburg ist man Europa zugewandt – doch wenn man nicht aufpasst, sieht man es nur von hinten

Sie müssen nicht glauben, dass wir in Brandenburg uns nur von roh aus dem Sand gescharrtem Spargel, Eberswalder Würsten und Steckrübeneintopf ernähren. Auch wir sind dem Internationalen zugewandt – obwohl am Preußen-Klischee mit den Kartoffeln was dran ist.

Im Ernst: Auch in unserem schönen Ackerbürger-Gemeinwesen gibt es jetzt eine Pizzerei, und auch wir waren dort. Zugegeben, nur weil unsere Wirtinnen uns, ungewöhnlich für einen lauschigen Sommerabend, die Butzenscheiben-Tür vor der Nase zugeschlossen hatten. Und das auch noch ohne Angabe von Gründen – statt „Geschlossener Gesellschaft“ gab es einfach gar keine. Wir bedurften einer Alternative zu „Schnitzel Champignons“. Sie hieß Mario. Der neue Italiener.

Ich musste meinem Freund ausnahmsweise zustimmen, fast jedenfalls: Er war nämlich der Meinung, dass Mario aus Ankara stammt, wobei ich aufgrund des Akzents eher auf Damaskus getippt hätte. Was eigentlich auch egal ist in einer Gegend, in der Döner tendenziell von Vietnamesen gereicht wird und eigentlich alle Menschen, die nicht mit einem im Sandkasten gespielt haben, unter der Rubrik „die Ausländer“ zusammengefasst werden. Sicher war nur, dass es sich bei den „Scaloppa Mario“ um Minutenschnitzel vom benachbarten Lidl handelte. Überbacken mit einer dicken Scheibe Mozarella, übergossen mit roter Soße. Und als Sättigungsbeilage: frittierte (!) Bratkartoffeln! Es sah aus und schmeckte ungefähr so, wie sich ein Student aus Schleswig-Holstein, der erstmals von zu Hause ausgezogen ist und in Potsdam gelandet ist, italienisches Essen vorstellt. Okay irgendwie, aber auch nicht so ganz standfest.

So wie die weißen Plastikstühle, auf denen wir als einzige Gäste Platz genommen hatten. Draußen vor der Tür. An der Hauptstraße. Eingequetscht zwischen zwei parkende Autos. Allein. Mutterseelenallein. Eigentlich beängstigend allein. Eine unheimliche Stille herrschte, kein Auto fuhr vorbei. Nur aus der Gaststätte klang ein leises Wimmern. Amy Winehouse versuchte aus dem Radio heraus Kontakt mit uns aufzunehmen, hörte sich dabei allerdings aufgrund mangelnder Watt-Stärke an, als hätte man ihr ein Kissen aufs Gesicht gedrückt. Als ob sie nicht schon geschunden genug wäre! „Sag mal, findest du das jetzt hier nicht langsam auch ein wenig übertrieben mit der menschenleeren Idylle Brandenburgs?“, fragte ich meinen Freund. Er schwieg, großer, stiller Mann und so. Ein Dornenbusch wehte vorbei. Ein Reh spazierte über den Marktplatz. Nein, es war nichts los an diesem Sonntagabend, wenn überhaupt, dann waren wir die Einzigen, die passiert sind.

Auf dem Heimweg war mein Freund völlig verstört. Er hatte seinen geliebten Wohnort zuvor noch nie aus der Perspektive eines Parkplatzes betrachtet und hatte plötzlich Angst, dass er seine (und unsere, bitte schön!) Zukunft womöglich in einer von allen Menschen verlassenen Geisterstadt angelegt hatte. „Nun steck mal nicht gleich den Kopf in den märkischen Sand – morgen kommen ja vielleicht wieder welche“, versuchte ich ihn aufzumuntern, „außerdem war Mario doch nett!“.

Erst zu Hause vor der Glotze streifte uns dann die Erkenntnis: EM-Endspiel verpasst. Und eines ist nun ganz sicher: Mario ist auf keinen Fall Spanier.

Kolumne 32

14.5.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Out of Ackerbürgerstadt

Brandenburg ist ein Land voller Musik. Manchmal wird es sogar uns zu laut

Wenn man so mitten in der Ackerbürgerstadt wohnt, immerhin 1.500 Einwohner, wird es einem doch ab und an ein bisschen viel mit dem urbanen Treiben.

Als wir neulich im Garten saßen, erklang zum Beispiel in Orchester-Lautstärke „Die Moldau“ aus dem Nachbarhaus. Dagegen wäre auch nichts einzuwenden gewesen, wenn wir keine Ahnung von den näheren Lebensumständen des HiFi-Karajans gehabt hätten. Es handelt sich um einen sehr netten, sensiblen Künstler, der beschlossen hat, sich zu Tode zu trinken. Zudem hatten die Nachbarn von schräg gegenüber in einem Anfall von Ohnmacht und sturem Überlebenswillen beschlossen, dieser Demonstration von Traurigkeit einen akustisch an Badezimmerradios gemahnenden Klangteppich aus fröhlicher Schlagermusik entgegenzuwedeln. Vicky Leandros’ „Glaub mir, ich liebe das Leben“. Man kann es nicht erfinden.

Mag ja sein, dass es in Brandenburg immer weniger Menschen gibt, aber die wenigen verbliebenen tun alles, um sich bemerkbar zu machen – manchmal ist es ein Pfeifen im dunklen Wald, damit man sich nicht so alleine fühlt. Ganz anders wiederum verhält es sich bei den Besuchern aus Berlin, die angeblich aufs Land fahren, um endlich mal Ruhe zu haben. In Wirklichkeit kommen viele von ihnen nur, um endlich mal so richtig Krach machen zu können – bei einem Streifenwagen im Umkreis von 50 Kilometern hat man ja im Vergleich zu Berlin viel Zeit, bis es an der Tür klopft.

So auch beim „Biker-Treffen“. Sicher gibt es auch sensible Krad-Fahrer, die mit ordnungsgemäßen Auspuffanlagen über Land fahren, um bei gelegentlichem Rasten die Vögel zu beobachten und am Denkmal der Schlacht von Fehrbellin klugen Gedanken über Europa zwischen gestern und heute nachhängen. Die Mehrzahl jedoch lässt lieber die Rohre so laut krachen, dass die Störche vom Schornstein fallen. Und wenn die Krümmer abgekühlt sind, rotten sie sich zusammen und hören bei literweise Bier Yes- und Jethro-Tull-Klassiker, live und ohrenbetäubend.

Am nächsten Morgen lagen gleich drei tote Fledermäuse in unserem Garten. Mein Freund vermutet, dass sie an akutem Tinnitus gestorben sind.

Als wir dann später am Rande der Stadt spazieren gingen, um endlich mal abschalten zu können, raunzte ich ihn plötzlich an, dass er doch mal endlich an sein Handy gehen solle – wobei es sich bei dem penetranten Geräusch einfach nur um tatsächliches Vogelgezwitscher gehandelt hatte und nicht um einen polyphonen Klingelton.

Wenn ich ihn nicht hätte, wäre ich wahrscheinlich sowieso schon durchgeknallt, und auch dieses Mal wusste er Rat. Er nahm einen großen, verrosteten Schlüssel vom Bord und wir fuhren weit über Land – raus aus der Ackerbürgerstadt und bis an den Rand eines brandenburgischen Straßendorfes. Dort stand ein Haus, groß und blau. Mein Freund hat eben immer noch eine Ruine in Reserve.

Die bisherige Mieterin hatte die Stille des Straßendorfes nicht mehr ausgehalten und hat in den zersiedelten Westen rübergemacht. Da ist ja immer Hully-Gully – und wir haben jetzt ein Wochenendhaus, um uns von den diversen Urbanitäten zu erholen. Diese Stille!

Als die hier vor Ort recht vital wirkenden Fledermäuse begannen, ihr Nachtwerk zu verrichten und ich mich erstmals zur Ruhe bettete, hallte mein eigener Tinnitus laut wie ein Airbus-Triebwerk – Lärmtraumatisierte können mit Stille nicht mehr umgehen. Doch nach einer Weile vernahm auch ich den Sound des nächtlichen Straßendorfes: Bedeutungsschwer rauschende Linden und ambitionierte Nachtigallen. Klaus Mann geisterte durch meinen Kopf, „Es gibt keine Ruhe, bis zum Schluss“, flüsterte er, und ich sagte zu meinem Freund, dass es so nicht weitergehen könne mit dem Künstler und dem Zu-Tode-Saufen und niemand unternimmt was. Dann kam der Schlaf, und er war so tief, dass sogar die Träume in ihm verborgen blieben.

Am nächsten Morgen knatterten die Rasenmäher der Straßendörfler, als hätte gerade eine Kartbahn eröffnet.

Kolumne 31

8.4.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Bunte Plastetiere für den Osten!

In Neufünfland gibt es immer von allem zu wenig. Aber manchmal ist weniger einfach mehr

Im Zeit-MagazinLebenwird einmal in der Woche die Lage der Nation skizziert, sowohl geografisch als auch lebensweltlich. Man sieht dort eine Deutschlandkarte inclusive der seit 1989 dazugekommen Beule rechts. Ostdeutschland. Die Beule kommt dabei nie gut weg, statistisch betrachtet: Es gibt dort weniger Outlet-Center, die Bibel verkauft sich wesentlich schlechter und es mangelt an Pilgerwegen, zudem gibt es dort kaum Menschen, die bei „Wer wird Millionär“ gewinnen (die wohnen alle in einem Ort namens Ensdorf in Bayern).

Doch das Schlimmste von allem ist: Es gibt laut dieser Karte nicht ein einziges buntes Plastetier in ostdeutschen Innenstädten – außer in Berlin, wo in dieser Beziehung echt der Bär los ist. Jede verdammte Kleinstadt in Westdeutschland hat Plastetiere, vom Esel bis zum Elefanten. In meiner Geburtsstadt in Rheinland-Pfalz war bereits in den 80er-Jahren alles mit Schweinen zugepflastert, wenn auch nur solchen aus Bronze. Und im Osten? Nur feldgraue Hasen und schwarzbunt Geflecktes in freier Wildbahn. Dafür mehr Nazis, Verkehrsunfälle im Zusammenhang mit Jugend, Alkohol und Bäumen, mehr dumme betrunkene Männer und mehr Filmpreisträger – aber wieder nur wegen Berlin und zählt eigentlich nicht. Es ist zum Heulen.

Was also tun? Als Erstes fiel mein Blick auf eine unserer Katzen, die sich gerade auf meinem geliebten dunkelblauen Mantel auspelzte. Sie hat ein ausgerechnet weißes Fell und ist eigentlich nur noch bei uns, weil sie niemand haben wollte, als einzige aus dem Wurf. Schon als Junges wurde sie aufgrund ihrer farblichen Andersheit von ihren Geschwistern ausgegrenzt und ist seitdem ein bisschen verhaltensauffällig. Warum sie also nicht einfach bunt färben? Pink? Mintgrün? Irgendwo muss man ja anfangen.

Mein Freund indes bereitete dieser City-Marketing-Maßnahme im Projektstatus jedoch ein unbarmherziges Ende: „Du spinnst.“ Diese Nöl-Ossis sind aber auch wirklich unzugänglich manchmal. Es ist doch schließlich auch seine Ackerbürgerstadt, und ich kann auch nichts dafür, dass die Ossis das mit den Plastetieren nicht aus eigener Kraft auf die Beine stellen können: Der dafür zuständige VEB Plaho in Steinach/Thüringen wurde längst abgewickelt.

Wir kamen nicht weiter und gingen stattdessen zu Lidl, was so ähnlich war wie mit der weißen Katze. Es blieb uns nichts anderes übrig, denn Edeka war zu. Ich ging also durch die Regalreihen und machte mir so hier und dort unauffällig Notizen: Eine Tüte „Bellosan“-Hundefutter war bei den Damenbinden eingeordnet und ich meinte deutlich vernommen zu haben, dass eine der Verkäuferinnen in kundenabschreckend grobem Brandenburgisch zu einer Kollegin gesagt hat, dass sie sich schon jetzt, um 19.45 Uhr, auf den Feierabend freut – aber ich will es nicht beschwören.

Doch dann, nur ein paar Schritte weiter an den „Dinge, die die Welt nicht braucht“-Regalen, kam die Erleuchtung: Gleich neben den von brandenburgischen Jungmännern umlagerten Köchern für 14,95 Euro lag er: ein grasgrüner, wasserspeiender Frosch aus Plaste. Für den Garten! Ich lief damit sofort zu meinem Freund, der in der Obst- und Gemüseabteilung frustriert an einzelnen unreifen Früchtchen herumdrückte. Nur um mir schon wieder eine Abfuhr zu holen: „Das kommt überhaupt nicht in Frage!“

Mir will nun fast scheinen, dass es in Ostdeutschland allein deshalb keine bunten Plastetiere in Fußgängerzonen gibt, weil die Ossis solchen Plunder nicht haben wollen. Sie wollen schon lange nicht mehr in der Bibel lesen und schon gar nicht auf Pilgerwegen herumkrauchen. Outlets für markenfetischistische Geizkragen gehen ihnen womöglich am Allerwertesten vorbei, und den theoretischen Überbau von „Wer wird Millionär“ kennen sie schon aus dem Staatsbürgerkundeunterricht.

Zuhause habe ich dann das Zeit-Magazindazu benutzt, um die nassen Schuhe vom Nachmittagsspaziergang zu trocknen. Der Politikteil ist geeigneter. Das Papier saugt mehr auf.

Kolumne 30

19.3.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Im Hasenwunderland mit Wolfgang Petry

Den Brandenburger Osterhasen geht es besser. Darf man sie deshalb für ein Berliner Ledertreffen im Stich lassen?

Die gute Nachricht zum Osterfest: Der Feldhasenbestand in Brandenburg hat sich leicht erholt – obwohl wir uns mit einer Population von rund sechs Hasen je Quadratkilometer bundesweit immer noch im unteren Drittel befinden. Eigentlich also noch immer ein Skandal, aber es liegt nicht an uns: Wir essen weder Kaninchen noch Hasen, auch nicht in Senfsauce. Ob die Hasen vielleicht alle in den Westen abgehauen sind?

Mein Freund sagt, dass es an den diversen AB-Maßnahmen für brandenburgische Menschen liegt. So werden derzeit die Sträucher auch der allerletzten EX-LPG-Allee ratzfatz weggesäbelt, und das mit einer Gründlichkeit und Beharrlichkeit, die dem Sozialismus zum sicheren Sieg hätte verhelfen können. Die Schnittreste dieser Flurbereinigung werden dann zu riesigen Osterfeuern aufgeschichtet, damit man drum herum stehen kann, um Bratwurst zu essen und Wolfgang Petry zu hören. Wolfgang Petry ist Pflicht – kein Mensch weiß, warum, mein Freund auch nicht.

Für die Feldhasen ist so ein Osterfeuer nur ein vorübergehender, wärmender Trost in ihrem wenig beschaulichen Dasein im feuchtkalten Brandenburg. Erstens werden gerade jene Gebüsche abgefackelt, die ihnen als natürlicher Panic Room dienen, wenn der Fuchs kommt, und zweitens brauchen sie im wirklichen Leben Sandwege, um sich nach langer, feuchter Nacht trocken zu hoppeln. Sonst erkälten sie sich.

Und das nun ausgerechnet zu jener Zeit des Jahres, in der ausnahmsweise mal die Zeitarbeitsfirma anruft: Es winken befristete Verträge für Osterhasen – Unmengen von bunten Plaste-Eiern müssen ausgeliefert werden, die dann an Ziersträuchern vor DDR-Rauputzfassaden angebracht werden. Ein Großteil der Lieferung ist trotz Dauerregens schon angekommen, wie wir im Rahmen einer eher melancholischen Spazierfahrt feststellen konnten – den Scheibenwischer stets auf Stufe eins.

Womit wir bei der schlechten Nachricht zum Osterfest wären: Mein Freund will an Ostern unbedingt zum Treffen der Leder-und-Fetisch-Szene in Berlin. Noch heidnischer als ein Osterfeuer und zwingend ohne Wolfgang Petry, obwohl der doch auch immer Lederklamotten anhatte. Nur mal gucken will er.

„Soso, nur mal gucken“, sagte ich und drückte auf das Gaspedal, weil er sich bei höheren Geschwindigkeiten unwohl fühlt. „Und das heißt dann, dass ich hier allein mit irgendwelchen durchgefrorenen Feldhasen am Osterfeuer rumstehe, während du in Berlin mal guckst, wie die Fetisch-Rammler gucken oder wie? Hast du auf einmal ein Problem mit Wolfgang Petry?“

Ich habe jedenfalls ein Problem mit dem Treffen der Leder-und-Fetisch-Szene. Nicht so ein anstrengendes wie Klaus Wowereit, als er dereinst ein Grußwort für das Folsom-Europe-Treffen im Sommer verfasste. Ich habe einfach nur keine Lust mich über Ostern zu fühlen, als habe jemand „Madmax“, „Matrix II“ und „Ein Käfig voller Narren“ zu einem Endlos-Trailer zusammengeschnitten und den Schlüssel zum Ausgang weggeschmissen.

Die Hasen im Stich lassen, und das ausgerechnet jetzt, wo es ein bisschen aufwärtszugehen scheint mit ihnen. Sagt sogar der Präsident des Deutschen Jagdschutzverbandes, der ausgerechnet in Bonn sitzt: „Es gibt für den Hasen in Brandenburg einen leichten Schein am Horizont“. Ja eben!

Aber für mich auch. Ich weiß nämlich jetzt schon, wie es enden wird. Ich werde zu Hause sitzen und Eier ausblasen oder so, Strümpfe stricken kann ich nicht, und irgendwann wird mein Freund total entnervt aus Berlin zurückkommen. Weil er den Endlos-Trailer schon einmal zu oft gesehen hat. Weil er weiß, dass es etwas Gutes zu essen gibt. Und weil wir zusammen am Osterfeuer stehen wollen, um die Feldhasen mit dem Handtuch trocken zu rubbeln und Wolfgang Petry zu hören: „Ein Freund, ein Mann“.

PS: Kann mir jemand kurzfristig eine Lederhose leihen? Am besten so eine mit Schnüren an der Seite. Sie bekommen sie nach Ostern gewaschen und gebügelt zurück. Versprochen.

Kolumne 29

20.2.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Unter der Heizdecke mit Bushido

Das Leben ist gar nicht so, es ist ganz anders? Das kann einem ja mal jemand mitteilen, bitte schön

An einem Samstag auf dem Lande den lieben, langen Tag lang gar nichts, aber auch gar nichts getan zu haben kann verdammt anstrengend sein. Der Kreislauf sackt ins Bodenlose und der Rhythmus des Daseins wird allein von den Vibrationen der Katze bestimmt, die zusammengerollt auf den hochgelagerten, müden Beinen vor sich hin schnurrt. Ein sonores Begleitbrummen, das von der stillen Hoffnung getragen ist, später gefüttert zu werden. Eben!

Das Abendessen gibt einem dann später den Rest. Die Energie reicht nur noch, sich die Treppe hinauf ins Bett zu schleppen, um den Klobig-Screen anzuwerfen – und die Heizdecke. Mag auch draußen ein eiskalter Wind aus Moskau über endlose, karge Flächen pfeifen, mag auch Berlin in der Ferne hysterisch-orange vor sich hin glühen: Das Leben ist schön. Kuschelig warm, eingelullt von den Gesprächsvibrationen diverser Talkgäste und ModeratorInnen, deren Hoffnung einzig und allein auf Aufmerksamkeit gerichtet. Das Beste daran: Man kann sie ihnen mit nur einem Knopfdruck entziehen.

Apropos Aufmerksamkeit: Wo ist eigentlich mein Freund? Die Katze ist auch weg, und ich bin hier mutterseelenallein mit Amelie Fried und Giovanni di Lorenzo. Wenn da nicht noch Bushido und Udo Kier nebeneinandersitzen würden. „Ich glaub es ja nicht!“ – frei nach Hape Kerkeling –, schießt es mir plötzlich wie ein Stromstoß durch den Kopf, gleichsam als habe das Heizkissen einen Schaden in der Isolierung. Bushido und Udo Kier?

Na das kann ja was werden: „Komm mal schnell!“, brülle ich ins Fachwerklabyrinth. „Der Kier ist bei ‚Drei nach Neun‘, und daneben sitzt Bushido, ich brech zusammen!“ Kampf der Titanen! Vergaser aus Berlin trifft zickige Schnappschildkröte aus Los Angeles – wem wird da zuerst die Luft ausgehen? Wessen Finger zuerst abgebissen?

Ja, und dann erzählt Bushido, dass er eigentlich davon träumt, in seinem Garten die Hecke zu schneiden und den Rasen zu mähen. Und dass er seine Mutti ganz doll lieb hat. Und den Udo Kier echt voll gut findet. Den gefährlichen Aggro-Rapper mimte stattdessen Udo Kier, indem er die arme Amelie Fried bösartigst disste: Bevor Sie auch nur eine ihrer Fragen vom Kärtchen ablesen konnte, leierte er einfach seinen Text runter – Warhol, Madonna, Los Angeles, Hollywood, reicht das ? –, versehen mit dem Hinweis, nie wieder kommen zu wollen, wenn er nicht als Erster an die Reihe kommt und überhaupt. So kann’s also gehen.

Plötzlich steht mein Freund neben mir und schaut mich ganz merkwürdig an. „Und, ist dir schön warm?“, fragt er. „Na und wie. Stell dir mal vor, der Bushido sitzt neben dem Kier. Das „H“-Wort fällt nicht einmal, und der Bushido hat keine Lust mehr auf Aggro mimen und will ein Haus in Zehlendorf, und der Kier hat hat sich eine alte Schule in Thüringen gekauft und findet, dass Ossis viel netter sind als alle anderen Menschen, außer Bushido, aber der ist doch nun wirklich ein typischer Westberliner. Erst große Klappe und dann Zehlendorf. Ich verstehe das alles nicht! Was ist denn hier los?“

Mein Freund schaut mich nur sanftmütig an, mit diesem typischen brandenburgischen Buddha-Blick. So, als hätte ich sie nicht mehr alle: „Was musst du dich auch immer gleich so hochschrauben? Ist dir schon mal aufgefallen, dass sich manche Ängste nur in deinem Kopf abspielen? Und ist dir auch warm?“

„Das mag ja alles sein“, antwortete ich, „aber gelernt ist nun mal gelernt“, ein Satz, der vielleicht von Ängsten, aber auch von der stillen Hoffnung genährt ist, eines Tages seine Ruhe zu haben, unbelästigt zu sein von kalten Ostwinden der Gehässigkeit und Aggressionen in glühenden Metropolen.

„Ist dir denn auch wirklich schön warm?“, fragt er mich schon wieder mit diesem Blick und ergänzt: „Und bist du dir denn auch sicher, dass deine Wahrnehmungen immer eins zu eins der Wirklichkeit entsprechen?“, fragt er. „Ja, verdammt, mir ist warm! Was soll das denn jetzt bitte?“ Er dirigierte meinen Blick nach links: Der Stecker des Heizkissens war überhaupt nicht in der Steckdose.

Kolumne 28

17.1.2008

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Das taugt für eine schöne Ruine

Vom Besuch eines alten Herrn aus Bayern, der gekommen war, um sein Haus in Brandenburg aufzusammeln

Immer wenn mein Freund eine Ruine sieht, bekommt er ganz feucht-glänzende Augen. Er liebt Ruinen, und ich hoffe, dass es da keine Parallelen zu unserer Beziehung gibt, besonders dann, wenn ich nach einer kurzen Nacht in den Spiegel schaue.

Wie dem auch sei: Seit ich ihn kenne, lebe ich im Prinzip in Ruinen, die gerade einem Dauersanierungsprozess unterworfen sind. Ist der Prozess beendet, muss eine neue Ruine her, denn eine sanierte Ruine ist ja keine Ruine mehr.

Wenn wir über Land spazieren fahren, besichtigen wir Ruinen, was in Brandenburg eigentlich keine Kunst ist. LPG-Ruinen, Schlossruinen, Hausruinen. Und wenn wir mal in Urlaub fahren, dann schauen wir uns eben kaputte Häuser in Südfrankreich oder Polen an, wobei Polen diesbezüglich viel attraktiver ist.

Doch warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah: Krachte doch neulich das spätmittelalterliche Nachbarhaus einfach so in sich zusammen. Es hatte zwar mehrere Stadtbrände und Kriege, den Aufstieg und Niedergang Preußens sowie auch die Wiedervereinigung heil überstanden, nicht jedoch einen veritablen, nicht sofort reparierten Dachschaden, den gelangweilte Kids mit Brandenburg-Hintergrund durch Kokelei verursacht hatten. Niemand fühlte sich zuständig für die Reparatur, und der Besitzer war nicht zu ermitteln – aus Datenschutzgründen, wie man uns im Amt mitteilte. Wozu speichern die Leute eigentlich alles auf Vorrat, wenn doch wieder nichts im Haus ist, wenn man was braucht.

Der stolze Hausbesitzer wohnt eigentlich in Bayern und besucht uns jetzt immer. Leider erst jetzt, wo es bereits deutlich nach zwölf ist. Er ist an die 70 Jahre alt, und er liebt Ruinen. Ein stiller, bescheidener Herr ist er, der erst nach einem Schluck Riesling erzählt, dass er nachts immer von Ruinen träumt, schon sein ganzes Leben lang, solange er sich erinnern kann. Doch mit seiner Ruine im richtigen Leben hat er jetzt ein ziemliches Problem: die Hälfte des Hause liegt zum Beispiel gerade in unserem Garten. Die Autoritäten der Ackerbürgerstadt sitzen ihm im Nacken.

Er versucht nun, der Lage Herr zu werden, trägt Stein um Stein, Balken um Balken ab, versucht, Ordnung in den Haufen Schutt zu bringen. Und als ihn der Nachbar über den Zaun mit Sperrfeuer belegt und ihn, den Wessi aus Bayern, beschuldigt, dass sein Haus eine Schande für die Straße und darüber hinaus für die ganze Stadt sei, antwortet er nicht so, wie man das von einem Wessi aus Bayern in Brandenburg erwartet. Er müsste doch sagen: „Gerade ihr, die ihr hier über Jahrzehnte alles runtergewirtschaftet habt! Host mi, Saupreiß!“.

Aber er sagt gar nichts, kein Wort. Er lächelt eher unbestimmt als süffisant und geht weiter seiner diskret verzweifelten Aufräumtätigkeit nach. Ein „Immobilienspekulant“ aus Westdeutschland – ohne Kapital und in seinem Alter ohne Aussicht auf einen Bankkredit. Und auf der anderen Seite des Zauns ein Besserossi. Menschliche Ruinen gibt es ja überall zu besichtigen.

Beim dritten Schluck Riesling hatte unser bayerischer Wochenend-Arbeitsmigrant wie nebenbei erwähnt, was die Grundlage seiner nächtlichen Traumexpeditionen in Ruinenlandschaften sein könnte. Als Kind hatte er die Bombardierung Dresdens erlebt.

Ein Bayer mit innerdeutschem Migrationshintergrund und einer Leidenschaft für Ruinen? Bei uns ist er willkommen und bekommt auch immer etwas zu essen. Und das mit der Ruine: Das wird schon. Da muss ich meinem Freund doch nur in die Augen sehen.

Kolumne 27

20.12.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Bauer suchte Mann und fand ihn

Ostelbischer Großgrundbesitz kann belastend sein, wenn man sich nicht damit auskennt

Es gibt viele gute Gründe für schlaflose Nächte, aber dass nun ausgerechnet der braun-schwarze Thuja-Borkenkäfer (Phloeosinus aubei) einmal zu diesen gehören könnte – wer hätte das gedacht? Er besiedelt Zypressengewächse, Mammutbäume und den gemeinen Wacholder, wie das Brandenburger Landesamt für Landwirtschaft und Flurneuordnung mitteilte. Flurneuordnung ist das Stichwort: Mein Freund und ich sind jetzt ostelbische Großgrundbesitzer. Acht Hektar Land inmitten der Prignitz! Wenn wir möchten, können wir einfach einen Zettel hinterlassen, „Wir sind dann mal weg“, und Wanderungen durch die Mark Brandenburg auf dem eigenen Grundstück machen.

Ich hatte dieses larmoyante „Besitz ist ja so belastend“-Geheule bislang immer für einen ärgerlichen Ausdruck von Wohlstandsverwahrlosung gehalten. Und jetzt liege ich nachts wach und habe Angst, dass die Borkenkäfer uns fertigmachen. Wenn man im Reihenhaus groß geworden ist, braucht man ja in der Regel keinen Feldstecher, um bis ans Ende des Grundstücks schauen zu können. Da muss man sich ja auch erst mal daran gewöhnen, an die neue Rolle.

Zum Eingrooven habe ich mir erst mal „Namen, die keiner mehr kennt“ von Marion Gräfin Dönhoff gekauft. So als Ratgeberliteratur für Neujunker, aber die Lektüre hat mir auch nicht wirklich weitergeholfen: Soll ich mir jetzt eine Barbour-Jacke kaufen? Wild und Hundabonnieren? Brauchen wir jetzt einen Geländewagen?

Fragen über Fragen, nur mein Freund ist natürlich wieder die Ruhe selbst. Er sagt, dass dieses Stück Land ganz einfach ein Stück Sicherheit für unser Alter sei. „Ja was, sollen wir uns dann mit 67 zum Sterben auf die nackte Wiese legen oder wie?“, fragte ich, bevor es losgehen sollte: zum ersten Besuch auf der Scholle. Auch auf der Hinfahrt war ich einfach nicht zu beruhigen und dachte darüber nach, ob wir zwei beiden nicht wenigstens eine Sternfahrt nach Brüssel machen sollten, um für eine Erhöhung der Stilllegungsprämien zu demonstrieren. Die LPG, die das Grundstück derzeit „nutzt“, macht das ja schließlich genau so: Sie zahlt Pacht und macht dabei Gewinn, aber nicht etwa, indem sie dort etwas anbauen würde oder Viehzucht betriebe. „Wenn Landwirtschaft so geht, dann kann ich das auch“, sagte ich, „ein paar Mails schreiben und Formulare ausfüllen, schon ist man EU-Bauer.“

Also dann weniger Barbour-Jacke, sondern mehr so „Bauer sucht Frau“-Outfit? Mustang-Jeans mit Karohemd und Gummistiefel?

Als wir dann endlich vor dem Grundstück standen, musste ich feststellen, dass es genau zwischen einem Friedhof und einem Golfplatz gelegen ist. Einem Golfplatz in Brandenburg! Bauerland in Yuppie-Junkerhand? Wobei die Einputtenden mit ihren SUV’s eher den Eindruck erweckten, als ob sie ihr Geld mit illegalen Pornoseiten und Investmentfonds machten anstatt mit Kartoffelschnaps.

Wir nahmen dann unser Land in Besitz, indem wir es gemeinsam abschritten. Ich war zwar immer noch nervös, weil ich Angst vor vagabundierenden Golfbällen hatte, aber man muss sagen: Ostelbischer Großgrundbesitzer sein ist ganz o.k. so weit. Auch die Sache mit dem Borkenkäfer stellte sich als undramatisch heraus: Kein Wacholder nirgends, und Mammutgewächse und Zypressenbäume findet man auch in Brandenburg eher in Reihenhaus-Vorgärten, nicht auf stillgelegten LPG-Flächen.

Wenn die Borkenkäfer sich weiterhin brav auf dem Nachbar-Friedhof verlustieren, haben wir auf unseren acht Hektar genug Platz für andere Viechereien: „Equus ferus caballus“ und „Capra hircus hircus“. Kennen Sie nicht? Pferd und Ziege. Wir Junker reden eben manchmal etwas geschwollen. Besitz verändert ja auch. Die Verantwortung, verstehen Sie?

In diesem Sinne: Es lebe das heilige Deutschland. Mein letztes Problem besteht jetzt nur noch darin, eine Steckdose für den Elektrorasenmäher zu finden. Die Mäherei bleibt ja sowieso wieder an mir hängen.

Ackerbürger bleibt eben doch Ackerbürger.