Akademie Waldschlösschen: Einladung zum Sonntagscafé

Anlässlich der LesBiSchwulen* KULTURTAGE in Göttingen

Truvada« heißt das Wundermittel – die Kapsel, die HIV-Infizierten schon seit einiger Zeit zu Therapiezwecken verschrieben wird, dient mittlerweile auch der Prophylaxe. Was die Mehrheit der Deutschen nicht kennt, sind der Schmerz und die Isolation, die viele Menschen vor der Aufklärungs- und Präventionsarbeit sowie der Entwicklung effektiver Medikamente erfahren mussten. Anhand zahlreicher Begegnungen mit Betroffenen und Zeitzeugen erzählt Martin Reichert die Geschichte dieser Menschen, etwa jener homosexueller Männer, die, abgekapselt von der Gesellschaft, allein mit dem Verlust ihres Partners zurechtkommen mussten: enterbt von der pfälzischen Familie, ausgeladen von der Beerdigung im Schwarzwald und von ihren Mitmenschen stigmatisiert. Aids hat die Art und Weise, wie vor allem schwule Männer leben und wie wir lieben, tiefgreifend verändert.

© Jürgen Bauer

Am 28. Oktober 16.30 Uhr „Die Kapsel“ – Lesung mit Martin Reichert

Das Buch„Die Kapsel“, erschienen im Juni 2018, berichtet davon, wie die Krankheit ihren Weg ins Bewusstsein der Bundesrepublik fand. Martin Reichert, geboren 1973, ist Journalist und Autor. Seit 2004 arbeitet er für die tageszeitung. 2006 wurde er mit dem Felix-Rexhausen-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Berlin.

Kolumne 182

16.8.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Noch ein allerletztes MalKolumne Schreiben 

Zum letzten Mal draußen im Garten sitzen, schon mit einer Decke auf dem Schoß, und Kaffee trinken und Kuchen mit Streuseln essen, während oben im kühl-stahlblauen Himmel die Kraniche singen, Nachzügler schon auf dem Weg in den Süden.

Noch ein letztes Bier bestellen, wenn alle schon lange gegangen sind, und draußen vor dem großen Fenster wird es morgengrau in der großen Stadt und Menschen mit ebensolchen Gesichtern hetzen zur Bahn. Und dann noch ein letztes Lied, „Sometimes it snows in April“.

Noch ein letztes Mal durch die alte Wohnung gehen, bevor der Schlüssel an den Vermieter zurückgeht. Noch ein letztes Mal auf dem alten Küchenstuhl mit der abgeblätterten grünen Farbe sitzen, der morgen früh auf der Straße verregnen wird. Den weißen Fleck auf der Wand im Schlafzimmer betrachten, den eben noch das Foto zweier Liebender von einst bedeckte.

Noch einmal im Kreis fahren mit dem „Polyp“-Karussell auf der Kirmes in der alten Heimat, „letzte Fahrt für heute“, ruft jemand aufgekratzt und zugleich ermüdet durch die Lautsprecherboxen, dann brandet „Rhythm is a Dancer“ auf und alles dreht sich, dreht sich, dreht sich. Die Krakenarme drehen sich, die Gondeln drehen sich, alles dreht sich auf einer Scheibe im Kreis. Und alles wird ganz leicht, als wäre gar nichts passiert.

Noch einmal gemeinsam mit den Eltern den steilen Weg gehen durch die mit Schieferbruch bedeckten Weinberge im goldenen Oktoberlicht. Die Knie. Die Hüften. Das Herz. Der schöne Blick auf das Moseltal und dort hinten, die alte Burg.

Noch einmal zusammen auf den Wochenmarkt gehen mit der so vertrauten Freundin, die in der nächsten Woche nach Südwestdeutschland umziehen wird, um zu heiraten und Kinder zu bekommen und um zu versuchen, ihr Glück zu finden. Woanders. Noch einmal zusammen Blumen kaufen und mit Kräutern eingelegte Oliven und zu dem Stand gehen mit dem frisch gepressten, süßsauren Orangensaft, „ich lade dich ein“. Und: „Lass uns in Verbindung bleiben, ja?“

Noch einmal die Tür hinter sich zuziehen im bis eben noch gemeinsamen Haus und gleichzeitig wissen, dass man nie wiederkommen wird. Erst Jahre später werden die Gefühle so unauffindbar sein wie die Bücher, die man hat liegen lassen, irgendwo im zweiten Stock.

Noch einmal baden gehen im abgekühlten Wasser des Golfes von Triest, bevor es nach Hause geht, zurück nach Deutschland. Noch einmal zwischen den Felsen balancieren, noch einmal Meerwasser schlucken und zuhören, wie die Wellen an den Strand schlagen und die Steine zu Murmeln werden lassen, die sich nass aneinander reiben, ein Kieselklang. Noch einmal aus dem Wasser steigen und sich in ein Handtuch wickeln und hinausschauen auf die Bucht, wo die Frachter auf Reede liegen.

Und einmal noch Kolumne schreiben auf der Seite vierzehn der taz. Zum letzten Mal.

Kolumne 181

27.7.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Ganz ohne Schirm 

Was New York so alles über sich preisgibt, wenn man nur ein paar Minuten lang Zuflucht vor dem plötzlichen Platzregen sucht.

Warum sollte man einen Schirm dabei haben, wenn man sich in New York herumtreibt bei über 30 Grad im Schatten?

Hell’s Kitchen am Spätnachmittag. Ein Tropfen. Zwei Tropfen. Drei Tropfen. Dann kommt die Gewitterwand, in einem Affenzahn naht sie vom übernächsten Block her; bedrohlich wie in einem Blockbuster. Tatsächlich heulen Polizeisirenen, aber sie gelten nicht unserer Not. Dort, gleich rechts: ein überdachter Hauseingang; dort rennen wir hin, so schnell es nur geht. Eine ältere Dame folgt uns, auch sie ohne Schirm. Das lange graue Haar zu einem Zopf gebunden, eine perlmuttfarbene Brille, eine New Yorkerin wie aus einem Buch entsprungen.

Das Haus hat so zehn, fünfzehn Stockwerke, und wenn der Eindruck stimmt, ist die von der nahe gelegenen High Line ausgehende Gen­trifizierungswelle hier noch nicht angekommen. Ein älterer Mann in schmutzig grauem Unterhemd kommt aus dem Haus geschlurft, schaut sich die massive Regenwand an, die nun vor uns steht wie aus Beton gegossen und ­murmelt so etwas wie incredible, bevor er sich eine Zigarette (!) anzündet. Er zieht einmal, zweimal. Dreimal. Und schlurft wieder in das Haus; doch ein junger Mann winkt nun von innen: „Wanna come in?“ Wenn wir wollten, dürften wir hineinkommen und den wenigen Platz vor den Briefkästen blockieren statt, so wie jetzt, den ganzen Eingang. Doch niemand beschwert sich, auch nicht die übergewichtigen Frauen, die mit ihren Einkaufs­taschen und Schirmen kaum an uns vorbeikommen auf ihrem Weg in ihr angestammtes Terrain, ihr Zuhause. Schnell ins Trockene, aber für uns drei haben sie ein Lächeln übrig, ein freundliches Wort.

Als die Regenwand durchsichtiger wird und dann sogar zu verschwinden scheint, wagen wir uns hervor, rennen bis zum nächsten Block. Doch dann kommt der Regen wieder, im nächsten Hauseingang treffen wir die alte Dame wieder. Eine junge Frau ist dazugekommen, sie hat sich unter einem durchsichtigen, glockenförmigen Schirm verschanzt, ist ununterbrochen via Smartphone in Kontakt mit der Außenwelt, nicht aber mit uns.

Der Vorsprung ist noch schmaler, das Haus ist so groß wie das vorherige, drinnen gibt es einen Concierge, einen Wachmann, ein Ledersofa und eine Designerlampe. Hier bittet uns keiner herein. Vielmehr werden wir zum Problem, als einer der bewachten Hausbewohner herauswill und wir im Weg stehen: „Are these people a problem for you?, fragt der Wachmann servil, doch der Gefragte, Brooks-Brothers-Hemd und Chinos, schaut kurz auf die nasse Wand, lächelt, geht wieder zurück zum Aufzug, dessen Türen silbern schimmern – vielleicht bestellt er einen Fahrdienst?

Glück gehabt. Wir dürfen bleiben, alle vier. Bis der Regen aufhört und wir alle wieder unserer Wege gehen, „Singing and dancing in the rain / What a glorious feeling / And I’m happy again / and singing – in the rain“. Wer braucht schon einen Schirm.

Kolumne 180

7.7.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Seitlich dran vorbei gehen 

Fußball ist für unseren Autoren in erster Linie ein Geräusch, das erklingt, wenn er irgendwo vorbeigeht, wo andere öffentlich gucken.

„Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens“, gleich ein ganzes Buch von Max Goldt trägt diesen Titel – und dieser Tage hat mich der schöne Satz recht häufig begleitet auf meinen Wegen. Weil doch Fußball-WM ist und das „Public Viewing“ seit dem „Sommermärchen“ zum öffentlichen Leben des Landes dazugehört. Auch wenn „Schland“ längst ausgeschieden ist.

Fußball war und ist für mich in erster Linie ein Geräusch. Ein Klangteppich aus Fan-Gesängen und Gegröle, durchbrochen von Gehupe und überblendet von aufgeregten Kommentatoren-Stimmen. Und nur manchmal ein Gesicht, wenn es gefällig ist wie das von Mats Hummels.

Oder einprägsam und unausweichlich wie das des „Bundestrainers“ Yogi Löw; jemand der nie zu lachen scheint aber manchmal lustige Dinge tut. In der Nase bohren oder sich am Gemächt kratzen und 50 Millionen schauen live zu, solche Dinge.

Die Geräusche gehen weiter, auch ohne Schland. Wenn ich durch die Straßen gehe, sehe ich überall große, viereckige grüne Flecken, vor denen sich kleine Menschentrauben bilden. Flatscreens, die vor Kneipen, Spät- und Backshops aufgebaut sind.

Menschengrüppchen

Die Screens wurden aufgehängt, angedübelt oder auf abenteuerliche Tisch- und Regalkonsturktionen gestellt, wirre Kabelagen dahinter, die in geöffneten Fenstern verschwinden oder scheinbar hinter Blumenkübeln enden.

Menschen sitzen auf Plastikstühlen rund um den Bildschirm, in Shorts und Flip-Flops. Frauen halten Bierflaschen in der Hand, gerne Radler von Gösser, Männer auch. Geht man langsam an den Menschengrüppchen vorbei riecht es nach Zigarettenrauch, Alkohol, Sonnenlotion und Duschgel, so, als hätte man sich aus Versehen auf einem Campingplatz irgendwo am Meer verlaufen.

Belegte Brötchen mit schwitzender Salami werden gegessen, manchmal auch Bockwurst mit Senf. Kleinkinder wuseln um die Eltern herum auf dem Trottoir. Auch die Angestellten schauen zu.

Oben in der Mitte des grünen Flecks sieht man stets zwei kleine Flaggen und Zahlen – also welches Land gegen welches spielt und „wie es steht“. Gestern erst fragte mich ein Wildfremder wie es denn stehe, nachdem ich an einem großen Public Viewing-Gelände vorbeigegangen war, also einem solchen mit eigenen Bratwurststand und Bierausschank, und ich konnte nur mit den Achseln zucken.

Unterlassen des Drogenhandels

Ich wusste nur, dass einige der T-Shirts gelb-blau waren, so wie die Tragetaschen bei Ikea. Und dass die vor der grünen Fläche ausharrenden irgendwie tapfer auf mich wirkten. Wie jemand, der auch nach einem Bombenattentat noch Kirmes feiert, weil das Leben bedeutet.

Das schönste seitliche Vorbeigehen aber widerfuhr mir im nahe gelegenen Park, der Berliner Hasenheide. Es gibt dort einen Pavillon im Zentrum, mit Flaschenbier und Tiefkühlkuchen; und einer großen Public-Viewing-Leinwand. Und dort versammelt saßen an einem Nachmittag in der letzten Woche sämtliche Dealer, die sonst entlang der Wege ihren Geschäften nachgehen, um ein Spiel zu sehen, dass für sie offensichtlich von so großer Bedeutung war, dass sie das Verticken auch mal Verticken sein ließen.

Müssen die KonsumentInnen halt mal was anderes oder gar nichts einwerfen, ziehen oder rauchen. Eine Unterlassung des Drogenhandels, zu der es sonst nur bei den routinemäßigen, eher lustlos ausgeführten Razzien der Polizei kommt.

Der Zauber dieser WM ist für mich die scheinbar mit ihr einher gehende Trägheit. Das Leben, nichts als ein langer, großer Fluss. Viel länger als bloß zwei mal 45 Minuten.

Kolumne 179

24.5.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Herta war einfach härter

Herta hieß so, weil sie härter war. Herta hatte goldene Füßchen. Hertas eher hässliches Antlitz musste man immer bedeckt halten. Denn Herta war alt. Herta war gebraucht. Und jetzt hat sie mich verlassen, zermalmt wurde sie vom gefräßigen Reiß- und Quetschwerk am Heck eines orangenen Müllwagens der Berliner Straßenreinigung.

Herta war ein lindgrünes Sofa, und den Namen hatte es schon von den Vorbesitzern erhalten, einem freundlichen, nervösen, dauerkiffenden Paar aus Ostberlin. Sie fanden Herta eigentlich von Anfang an zu hart und hatten sie daher bereitwillig und ohne Ablöse hergegeben. Zehn Jahre lang hatte sie nun ihr Gnadenbrot bei mir erhalten, komplett eingehüllt in „Indira“-Decken von Ikea und drapiert mit großen Kissen. Derart aufgetakelt sollte sie Mittelklassezugehörigkeit in meinem Haushalt simulieren, in dessen Budget ein Designersofa schlicht nicht vorgesehen ist.

Aber es hat auch so gut funktioniert mit Herta. Als wir zusammenkamen, hatte man noch Motorola-Klappmobiltelefone und statt eines Smartphones oder Tablets schleppte man seinen weißen, zwei Kilo schweren Mac in riesigen Umhängetaschen durch die Gegend. Obama wurde Präsident der Vereinigten Staaten und alle dachten, dass Jesus auf die Erde hinabgestiegen sei. Die Finanzkrise erreichte ihren Höhepunkt, aber dank „Indira“ würde man das schon nicht so merken. Auch in Berlin trat 2008 das offizielle Rauchverbot in Kraft, an das sich fürderhin kein Mensch halten würde. In einer Herta-Ritze fand ich tatsächlich eine Zigarettenkippe, obwohl ich seit zwei Jahren nicht mehr rauchte. Es wurden lustige Partys gefeiert in der Wohnung. Und auf und mit Herta.

Als ich Herta zuletzt sah, stand sie nackt und schutzlos in der Mitte des Wohnzimmers, über und über von Staub und Schutt bedeckt. Meine alte Wohnung wird „luxussaniert“, wenn sie fertig ist, wird sie das doppelte kosten. Wer hier einzieht, kann sich sicher auch ein Sofa von Minotti leisten und befindet sich auf der richtigen Seite der auseinanderdriftenden Schere zwischen Arm und Reich.

Vom Müllwerker bekam ich einen Anschiss Berliner Art, grob im Ton, hart in der Sache aber nicht böse gemeint: Wie man denn bitte so bescheuert sein könne, jemandem zuzumuten, einen solch dreckigen, schuttbedeckten Kram die Treppen herunterzutragen? Hatte er ja völlig recht. Ich entschuldigte mich, obwohl ja nicht ich das Sofa mit Schutt bedeckt hatte, sondern die luxussanierenden Handwerker, Herr Finster und Herr Altmann. Aber das Eis war gebrochen. Über dem siechen Korpus von Herta kamen wir ins Gespräch. Er erzählte mir von seiner französischen Bulldogge. Seinem kleinen Garten im Erdgeschoss, den er sich mit seinem Lebensgefährten schön gemacht hat. Schließlich fragte er: „Ziehst du mit deinem Freund zusammen?“ Das konnte ich bejahen, und er freute sich.

Als er Herta schließlich die Treppen hinab ihrem Schicksal entgegenwuchtete, fiel der Abschied gar nicht mehr so schwer.

Kolumne 178

12.4.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Das grazile Handwerker-Ballett

Langweile muss nicht beklagen, wer umzieht, denn alles ist ein Wirbel. Seit ungefähr vier Wochen nun schon führen Herr Finster und Herr Altmann eine Art Handwerker-Ballett auf: Kommt der eine nicht, kommt auch der andere nicht. Beide beziehen sich stets aufeinander, obwohl sie sich persönlich gar nicht kennen, aber der eine soll „die Türen gang- und schließbar machen“ und der andere selbige anstreichen, wenn auch nur von außen. Und mag nun auch der Rest der neuen Wohnung längst in einem Zustand sein, der es der der Lufthansa ermöglichen würde, hier ein Drehkreuz mindestens für den ost­euro­päi­schen Luftraum einzurichten – Herr Finster und Herr Altmann umkreisen einander, telefonisch und per Mail, und kommen nicht in die Pötte.

Handwerker sind auch sehr empfindsame Wesen. Als Journalist und Homosexueller hatte ich es in meinem Leben weiß Gott schon oft mit Diven zu tun, und was für welchen, aber Handwerker sind im Vergleich sinistre Stummfilmdiven. Ich hatte mal einen, das war noch in der alten Wohnung, der das Wohnzimmer spachteln sollte. Als nach einer Woche noch immer kein Handschlag getan war, organisierte ich einen Überraschungsbesuch – und fand den jungen Mann ermattet auf einem Sack Rotputz liegend. Depressionen!

Dann Piotr aus Polen. Er hatte so starkes Heimweh, dass man ihn quasi auf der Besucherritze hatte übernachten lassen müssen. Man musste für ihn kochen und ihn abends ausführen, mindestens. Einmal haben wir sogar eine YouTube-Disco für ihn organisiert, mit Wodka und „Geronimo’s Cadillac“, denn für das Berghain hatte er laut eigener Aussage „nicht die richtigen Klamotten mit“. Getanzt wurde also auf am Boden liegender Kartonage und beschallt aus den Einbaulautsprechern eines Medion-Klapprechners.

Dann gibt es noch den Haushandwerker. Das bedeutet, dass er im Haus wohnt und nicht weglaufen kann. Sogar seine Mutter wohnt im Haus, da ist man dann eigentlich auf der sicheren Seite. Denkt man: Als ich ihn gestern bat, ob er nicht doch vielleicht noch die Steckdosen anbringen könnte, verschwand er umgehend. Auch eine Razzia in den benachbarten Eckkneipen des Quartiers blieb erfolglos, auch, weil sich dort nunmehr eher Hipster als Handwerker herumtreiben.

Herr Altmann hat nun gestern wieder den Termin verschoben, auf morgens 7 Uhr, mitten in der Nacht – obwohl er sehr genau weiß, dass um diese Zeit Was-mit-Medien-und-bunte-Socken-Leute noch nicht wach sind. Und das immer in einem schnippischen Ton: „Ja, ja, letzte Woche hieß es ja wohl noch, dass eine andere Firma das machen soll, nicht?“ Und Herr Finster geht schon wieder nicht an sein Telefon, Mailbox nicht existent.

Wie es aussieht, handelt es sich beim dem 7-Uhr-Termin auch lediglich um eine Inaugenscheinnahme der potenziellen Baustelle. Aber gut, danach muss ich sowieso zum Flughafen. Schönefeld.

 

Kolumne 177

1.3.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Die Vergänglichkeit des liebgewonnenen Vorglühens

Der Erste war, logisch, ein Fahrschulwagen. Ein Audi 80, der schlecht nur innen roch, weil der Angstschweiß Hunderter pubertärer FahrschülerInnen und „Prüflinge“ in die hellgrauen Stoffpolster gedrungen war. Ein Diesel, gar ein Turbodiesel war es, mit dem man die Berge in der Eifel auch hinaufkam, ohne das Gaspedal bis zum Bodenblech durchzudrücken. „Drück mal drauf, bis hinten die Briketts rausfliegen“, pflegte mein Fahrschullehrer zu sagen, wenn ich zu zaghaft war und es doch galt, einen Traktor mit Anhänger zu überholen.

Traktor, das war das Ursprungsimage des Diesel-Pkws, und in besagter Eifel ging die Fama um, dass die Bauern sich allesamt einen Mercedes 200 D geleistet hatten, damit sie ihre „Wanderdüne“ klandestin mit wesentlich günstigerem Heizöl aus dem Keller betanken konnten. Später fand man heraus, dass man diese Mercedesse der Baureihe W 123 sogar mit Salatöl betreiben konnte – egal was im Tank ist, diese Autos fahren jedenfalls noch immer zu Tausenden als Taxis in Beirut oder Marokko.

Jedenfalls war der Begriff „Heizöl-Ferrari“ gesetzt für die nun zahlreich in Erscheinung tretenden Turbodieselfahrzeuge, die mit der Lahmheit meines eigenen ersten Autos, natürlich ein Golf Diesel, nicht mehr viel gemein hatten. Der Startvorgang meines weinroten Golf I.D. würde heute wahrscheinlich zu meiner sofortigen Verhaftung führen. Dreimal musste man die bereits maroden Glühkerzen betätigen, bevor man einen Startversuch wagen konnte. Gelang er, war das umliegende Gelände in schwarzen Rauch gehüllt, aber in den frühen Neunzigern dachte man sich nichts dabei, schließlich gab es in den Zügen noch Raucherabteile, und mit Swiss Air konnte man mit der Kippe im Gesicht über den Atlantik fliegen.

Vati erzählt vom Krieg. Später jedenfalls hatte ich keine Dieselautos mehr, weil ich „nicht genug Kilometer fuhr“. Ein Diesel lohnt sich nur, wenn man viel fährt; denn vergleichsweise günstig war ja nur der Sprit, die Steuer aber war viel höher als bei Benzinern.

Erst viele, viele Jahr später – man hatte sich längst daran gewöhnt, von Wald-und-Wiesen- Vatis mit ihren PS-starken Turbodieselkombis auf der Autobahn in einer Weise zur Seite gedrängt zu werden, wie man sie früher in den Achtzigern nur von Oberklasselimousinen kannte (Lichthupe, dichtes Auffahren) – brachte mein Lebensgefährte seinen schwedischen schwarzen Turbodiesel in unsere Beziehung ein. Was einen, im Hinblick auf meine schlecht bezahlte Tätigkeit bei der taz, skeptischen Freund zu der Bemerkung „Endlich Mittelschicht“ veranlasste und sogar für manchen Sozialneid Anlass bot bei solchen Großstadtvätern, die ihre Bruttransportbehältnisse nicht in einem großzügig bemessenen Kombi transportieren können.

Doch das liebgewordene Geschnaufe und Geschnorchel unter der Haube des fünf Jahre alten Wagens, der nur fünf Liter braucht, läuft unter „Euro 5“. Und das ist nun das Ende?

Kolumne 176

8.2.2018

Martin Reichert Herbstzeitlos

Was heißt eigentlich Hass auf Italienisch?

Misstrauen ist angebracht, wenn sich an einem Dienstagabend zur Kino-Spätvorstellung Heerscharen in der Lichtspielstätte einfinden. Obacht, es könnte sich um einen fiesen Hype handeln. Was sonst könnte der Grund sein, wenn sogar nach dem Mongay noch eine Extra-Vorstellung einberufen wurde?

Andererseits kann es auch angebracht sein, immer nur vom Besten auszugehen: Ist es nicht allzu verständlich, wenn sich von Winter und Lichtlosigkeit gepeinigte Großstädter wacker auf die Beine machen, um endlich Sommer, Licht und Wärme zu tanken – und das auch noch in italienischem Umfeld?.

Call me by your Name“, eine mit schönen Menschen und herrlichen Interieurs ausstaffierte Hipster-Schmonzette, das ist der Film, der die Lemminge heute hierher getrieben hat in das ehemalige Premierenkino der DDR. Das entsprechend großzügig und luftig gestaltet ist, sodass man – gerade an einem Dienstagabend – normalerweise in Ruhe sein Ben & Jerrys kaufen kann, womöglich noch ein bisschen in den Sesseln im Foyer herumlümmeln, dann schön Werbung gucken, zur Einstimmung – für die Apotheke nebenan, Ökostrom und taz.de.

Aber heute: nichts da. Ein Gedränge wie im Karstadt-Schnäppchenmarkt beim Schlussverkauf, aber mit internationaler, kulturelles Interesse ausstellender LGBTIQ*-Crowd; die jedoch nicht frei ist von einer gewissen Rudeness beim Berghain-gestählten Queuing.

Und nein, Döner essen in einer Indoor-Kinoschlange ist sogar in Berlin not decent, das Mit-Hineinnehmen der miefigen Fleischtasche in den Kinosaal erst recht nicht. Am Herkunftsort wäre der jungen Frau von Nonnen auf die Fingerchen geklopft worden, hätte sie es gewagt, auch nur ein Amarettoplätzchen mit in die Vorführung zu nehmen!

Dann endlich geht es los. Die Achtziger sind im Film so schön, dass man fast vergessen kann, wie es damals wirklich war; ungeheuer hilfreich in dieser Hinsicht auch, dass er im Sommer 1983 spielt, also zu einem Zeitpunkt, an dem Aids gerade erst in Europa ankam. Autos ohne Katalysator und Liebe ohne Gummi, Nutella auf dem Frühstückstisch und früher Synthie-Pop im Radio.

Wenn nur die Gegenwart nicht wäre: ein trockener, aber doch kräftiger Husten gleich hinter uns links – und von hinten rechts Tritte in die Rückenlehne. Dazu das Gekraschpel, Geräuspere und Gewispere eines bis auf den letzten Platz besetzten Großkinos.

So nahm also die Hipster-Schmonzette ihren Lauf. Der Sommer so flirrend, die Abende so lauschig. Bisexuelles Nacht- und Nacktbaden. Husten und Tritte in den Rücken, Husten und Tritte in den Rücken. Husten und Tritte in den Rücken. Nach 44 Hustern, also ungefähr in der Hälfte des Films, war mein Lebensgefährte eingeschlafen. Und nach dem 88. Husten war es dann endlich vorbei mit der Herrlichkeit. Aber hey, Amore! Amore! Was Hass auf Italienisch heißt, weiß ich leider nicht.