Kolumne 135

29.4.2015

Martin Reichert Erwachsen

Analoges Blubbern

SO KLAPPT’S AUCH MIT DER ADOLESZENZ: LAVALAMPE STATT TABLET-COMPUTER

Zur Feier der Aufnahme in die weltumspannende Gemeinschaft der Katholiken wünschte sich mein Neffe von seinem Onkel aus Berlin eine Lavalampe. Eine Lavalampe? Warum nicht: Der Junge ist gerade mal neun Jahre alt, und so wenig, wie er umreißen kann, was es bedeutet, für immer und ewig Mitglied der weltumspannenden Firma aus Rom zu werden, kann er wissen, dass Lavalampen seit den neunziger Jahren in Vergessenheit geraten sind. Denn da war er ja noch nicht geboren.

Sein Onkel, also ich, kennt Lavalampen noch aus seiner Disco-umtosten Kindheit in den Siebzigern und natürlich aus den Neunzigern, als sie plötzlich wieder blubbernd verranzte Wohnzimmer-Kneipen illuminierten. Es soll seinerzeit sogar Fachgeschäfte für Lavalampen in der deutschen Hauptstadt gegeben haben – so geht das Gerücht, das dem verzweifelt nach einer Lavalampe suchenden Onkel in hippen Berlin-Mitte-Lampenfachgeschäften zugetragen wurde. De facto gibt es jedoch in ganz Berlin keine Lavalampe mehr zu kaufen, jedenfalls keine der britischen Firma Mathmos, Erfinderin der Lavalampe, die solche noch immer in Handarbeit und trendunabhängig in UK herstellt.

Diese Information erhielt der um das Seelenheil des Neffen besorgte Onkel via Direktanruf in London – wo man ihm auch beschied, an welchen Orten in Deutschland eine solche Lampe im Einzelhandel erhältlich sei, etwa in Bietigheim-Bissingen.

Das ist eine kleine Ortschaft in der Nähe von Stuttgart, aber gerade als Homosexueller sieht man sich schließlich genötigt, den künftigen Generationen alles pädagogisch Gute zugedeihen zu lassen, gerade, wenn sie in Baden-Württemberg aufwachsen und Kommunion feiern.

In einem Fachgeschäft für gehobene Beleuchtungskörper in Bietigheim-Bissingen reservierte der Onkel also eine der beiden vor Ort befindlichen Mathmos-Lavalampen, und nur sechs Stunden und 616 Kilometer später hielt er das gute und teure Stück auch in Händen, überreicht durch freundlich-kundige Einzelhandelsfachkräfte.

Der frisch in die weltumspannende, römisch-katholische Alleinvertretungsgesellschaft eingetretene Neffe war dann nicht nur sehr glücklich über die pulsierende Magma-Gerätschaft, sondern zog das Betrachten selbiger sogar dem Wischen auf seinem ebenfalls anlässlich der Erst-Eucharistie ausgehändigten Tablet-Computer vor.

Eine Leuchte, die mit der freigesetzten Energie einer Glühlampe eine Flüssigkeit in Bewegung setzt, schlägt ein Tablet mit A7-Prozessor und bewahrt das Kind vor Ballerspielen, Porno- und Katzen-Content. Gutes Aufwachsen dank gutem Onkel.

Natürlich kann der Neffe auch nicht umreißen, wie unfähig sein Onkel in Fragen der Beschaffung war. Eine Lampe in einem Fachgeschäft in Bietigheim-Bissingen zu kaufen, anstatt sie einfach über das Internet zu bestellen, ist ungefähr so modern wie eine Tridentinische, in lateinischer Sprache gehaltenen Messe gemäß Römischem Messbuch von 1570. Im Sinne der Gemeinschaft der Katholiken kann man nur hoffen, dass lediglich diese „Contra naturam“-Retro-Zugewandtheit erblich ist.

Kolumne 134

1.4.2015

Martin Reichert Erwachsen

Kondome statt Pogrome

GAUWEILER GEHT. ZEIT, SICH ZU ERINNERN – AN EIN GANZ UNBEABSICHTIGTES GESELLSCHAFTLICHES VERMÄCHTNIS

Gauweiler, die Nennung dieses Namens ist wie der Druck auf einen Knopf. Sofort erscheinen vier Buchstaben: Aids. Und zwar, obwohl der CSU-Politiker Peter Gauweiler aufgrund einer ganz anderen Vierer-Buchstabenkombination namens Euro von seinem Amt als Parteivize zurücktritt. Auch sein Bundestagsmandat will er niederlegen – weil er mit dem Eurokurs der Bundesregierung nicht einverstanden ist. Er will keine Eurobonds, und die Griechen will er auch nicht retten.

In die Geschichte eingehen wird er mit diesem Schritt eher nicht, denn das hat er schon lange vorher besorgt – er gilt als Symbol der seinerzeit glücklicherweise gescheiterten Anti-Aids-Politik der CSU.

„Kondome statt Gauweiler-Pogrome“, nur einer von vielen Transparentsprüchen, die seinerzeit auf Demos gegen Gauweiler in Stellung gebracht wurden: 1986 hatte der seinerzeitige Staatssekretär im bayerischen Innenministerium unter anderem verpflichtende Reihenuntersuchungen für die Angehörigen von „Risikogruppen“ gefordert, zu denen er vor allem Nichteuropäer zählte. Und eine Meldepflicht für mit dem HI-Virus Infizierte. Gauweilers „Maßnahmenkatalog“ wurde jedoch mit großer Mehrheit vom Bundesrat abgelehnt. Die Vernunft konnte sich seinerzeit durchsetzten, symbolisiert durch Rita Süssmuth und ihre Aufklärungs- und Präventionsstrategie.

Weitgehend in Vergessenheit geraten ist, dass auch ein gewisser Horst Seehofer, damals aufstrebender CSU-Nachwuchspolitiker, Aidskranke in „speziellen Heimen sammeln“ beziehungsweise „konzentrieren“ wollte.

Lange ist das nun alles her, doch als diese Diskussionen virulent waren, schrammte die Republik wieder einmal knapp am braunen Abgrund vorbei. Aids-Aussätzige, ab ins Lager; nicht wenige Homosexuelle hatten zu dieser Zeit wirklich Angst, schon wieder „abgeholt“ zu werden. Noch frisch war das Selbstbewusstsein der neuen deutschen Schwulenbewegung. Eben noch genoss man die erkämpften Freiheiten, schon drohten alle Fortschritte wieder zunichtegemacht zu werden. Zuvörderst natürlich in Bayern: Plötzlich gab es wieder überall Razzien, schwule Wirte bekamen Probleme mit ihrer Schanklizenz. Und in Homo-Saunen sollten möglichst die Türen ausgehängt werden, damit es hinter Schloss und Riegel nicht zu sexuellen Handlungen käme.

Das alles erscheint einem heute irgendwie unwirklich, hat aber eine ganze Generation von Homosexuellen in Angst und Schrecken versetzt. Zunächst. Denn andererseits hat die Aids-Krise zu einer gesellschaftlichen Mobilisation beigetragen, die viele schwule Institutionen erst ermöglicht hat. Die „Randgruppe“ der Schwulen mutierte nun zu Mitgliedern der Gesellschaft, mit denen man sich beschäftigen musste.

In Internetforen kann man noch heute besichtigen, welchen Hass Gauweiler seinerzeit auf sich gezogen hat. „Möge er in der Hölle schmoren“, las ich gerade auf Facebook anlässlich seines Rücktritts. Aber ach was: Selten hat ein gescheiterter politischer Ansatz so viel bewirkt wie Gauweilers „Maßnahmenkatalog“.

Kolumne 133

18.3.2015

Martin Reichert Erwachsen

Raumgreifende Menschen

WER MACHT SICH IN DER U-BAHN ÜBERPROPORTIONAL BREIT UND FURZT IN DER BAR BEDENKENLOS MITMENSCHEN AN?

Um meine feministische Kollegin W. aus B. zu zitieren: Männer nehmen alleine aufgrund ihrer Körpergröße und ihres Gewichts überproportional viel Platz ein. Außerdem würden wir den Frauen auf diese Weise die Luft zum Atmen wegnehmen. Ich habe bislang nie einen Grund dazu gesehen, auf ihre Argumentation einzugehen. Erstens kann ich nichts dafür, dass sie so klein und zierlich ist, und zweitens hat sie rund um ihren Schreibtisch viel mehr Platz als ich selbst. Und überhaupt ist meine bescheidene Körpergröße von 1,85 Metern nicht als Affront gemeint, niemandem gegenüber.

Dachte ich zumindest. Doch dann kam es zu einer „Neulich-in-der-U-Bahn“-Situation: Drei junge Mädchen, so um die fünfzehn, betreten den Waggon. Zwei finden Platz, die Dritte muss stehen – obwohl gegenüber noch ein Platz frei wäre, wenn die sich bräsig auf der Sitzbank räkelnden Herren der Schöpfung ein wenig Platz machen würden. Inmitten dieser Herren saß auch ich.

Nun bat eine der jungen Damen freundlich, doch ein wenig Platz zu schaffen, damit auch die Freundin sich setzen könne. Nun gut, es handelte sich um eine Freundlich- oder Höflichkeit, die man landläufig eher in Berlin antrifft. „KÖNNT IHR NISCHMAH PLATZ MACHN? KANN SIE DOCH AUCH SITZN.“

Es war in der Tat überhaupt kein Problem, durch ein wenig Zusammengerücke und Beingefalte zusätzliche Sitzfläche zu schaffen. Die Fahrt hätte nun ihren normalen Gang nehmen können. Doch dann flippte einer der im Waggon anwesenden Herren plötzlich aus – obwohl er vom Gerücke gar nicht betroffen war: „WENN DU MEHR PLATZ HABEN WILLST, DANN NIMM ERST MAL AB, DU SCHLAMPE.“

Ich blickte mich um – war da vielleicht jemand mit der Kamera, um einen Lehrfilm mit dem Titel „Grundkurs Feminismus“ zu drehen? Junge, leicht übergewichtige Frau fordert ihr Recht auf Platz im öffentlichen Raum, der von sich überproportional breitmachenden Männern in Anspruch genommen wird. Ein deutlich übergewichtiger, breitbeiniger Mann weiß darauf sofort die richtige Antwort.

Es war eine sehr unangenehme Situation – doch zum einen setzten sich die jungen Frauen mutig zur Wehr, unterstützt von einem Mitreisenden. Und zum anderen konnte der Aggressor keineswegs mit Akklamation rechnen – er trat an der nächsten Station Flüche ausstoßend den Rückzug an.

Ein Extremfall, wie aus dem Lehrbuch. Aber wie oft achtet man als Mann darauf, mit welcher Selbstverständlichkeit man den Raum „in Besitz“ nimmt?

Den vorläufigen Höhepunkt einer solchen Männlichkeits-Performance erlebte ich neulich in einer Bar. Ein bestimmt zwei Meter großer Mann wandte mir und einer Freundin ostentativ seinen Rücken zu und drängte uns somit in die Ecke. Aber dabei ließ er es nicht bewenden. Denn wir, kleine Wesen im Windschatten seiner selbst, waren gerade noch seiner Abluft würdig. Bedenkenlos furzte er mehrmals entspannt in unsere Richtung.

Kollegin W. hat völlig recht. Solche Männer können einem wirklich die Luft zum Atmen nehmen.

Kolumne 132

4.3.2015

Martin Reichert Erwachsen

In Wänden aus reinem Gold

WENN ES IN DER NACHBARSCHAFT NICHT NUR BRENZLIG RIECHT SONDERN BRENZLIG WIRD

Als einmal das Dach der Mietskaserne brannte, in der mit altem und daher bezahlbarem Mietvertrag zu wohnen ich die Freude habe, standen wir Bewohner mit Nachtbekleidung auf der Straße und waren für Berliner Verhältnisse ziemlich fassungslos. Erst eine Kollegin, die zufällig des Weges kam (mitten in der Nacht), erinnerte mich seinerzeit daran, dass es sich in dieser Stadt nicht ziemt, wirklich aufgeregt zu sein. Nachdem sie mit ihrer Ausgehtruppe ein paar Minuten neben mir gestanden hatte, im Schein der züngelnden Flammen, sagte sie: „Es wird langweilig. Wir gehen jetzt zu McDonald’s Hermannplatz. Ciao.“

Neulich war es dann wieder so weit. Mitten in der Nacht Brandgeruch und der Schein von Blaulicht, draußen vor dem Fenster. Mein Freund stand senkrecht im Bett und sprach in fremden Zungen, „Fire! There is Fire, and Police!“ und dann noch was auf slowenisch, das schön klang und unverständlich, aber auch verängstigt. In Nachtbekleidung schlurfte ich also auf den Balkon und wusste innerhalb von Sekunden, was los ist: Eine wahrscheinlich politisch motivierte, gentrifizierungskritische Autoabfackelung.

Schlaftrunken versuchte ich ihm nun zu erklären, dass so etwas ganz normal ist und dass wir nun einfach weiterschlafen könnten, wenn er denn bereit sei. Als ich ihm dann auch noch erklärte, dass man so etwas ganz einfach mit Kaminanzünder von Penny machen kann, wurde er allerdings noch wacher, weil sein eigenes Auto vor der Tür stand. Beruhigen konnte ich ihn nur, indem ich glaubwürdig darlegte, dass sein Fahrzeug zwar aufgrund skandinavischer Fabrikation potentiell gefährdet sei, andererseits aber durch erkennbar nichtdeutsche Beschilderung geschützt: „It’s not decent to burn the car of a Ausländer if you are a left-wing autonomous.Landeskunde für Fortgeschrittene.

Am nächsten Morgen recherchierte ich die Geschehnisse vor meiner Tür über das Internet, denn meine Nachbarn sehe ich ja höchstens mal, wenn die eigene Hütte brennt: Das abgefackelte Fahrzeug war mit einer großflächigen Banken-Werbung versehen und wurde so zum dankbaren da symbolträchtigen Opfer. Und mein Freund fand mittels eines Anrufs im fernen Heimatland heraus, dass sein Auto gegen „Vandalismus“ versichert ist.

Heute morgen dann bekam die Geschichte noch einen anderen Dreh, auch wenn wir schon wieder senkrecht im Bett standen. Im Haus nebenan wummerten ab sieben Uhr die Pressluftbohrer. Seit Wochen schon war da ein Gerüst – versehen mit Flyern: Die Mieter des Hauses hatten gegen den österreichischen Investor geklagt, der die Neuköllner Immobilie luxussanieren möchte; zunächst erfolgreich, ein Baustopp konnte erwirkt werden.

Nun also haben die Nachbarn den Krieg verloren. Wer in diesem Teil der Stadt wohnt, haust in Betongold, das gierig macht. Die Einschläge kommen näher – und was tut man als ordentlich ignoranter Berliner Nachbar? Nichts, bloß nicht aufregen und man selbst hat ja Glück gehabt. Ist so laut hier, wir gehen jetzt in den Park. Ciao.

Kolumne 131

18.2.2015

Martin Reichert Erwachsen

Denkt denn niemand an die Kinder?

KAUM IST KLAUS WOWEREIT WEG, RÜCKT DIE PROVINZ GEFÄHRLICH NAHE AN DIE HAUPTSTADT HERAN. VERNÜNFTIG IST NUR NOCH DIE POLIZEI

Achtung, dies ist ein den Alkoholkonsum verherrlichender Text, der erst ganz am Ende den Schutz der Jugend gewährleistet.

Also: Es war eine nächtliche Autobahnfahrt von Freiburg gen Stuttgart, nach einem Konzert. Der Fahrer, selbstverständlich nüchtern, hielt an einer Raststätte, weil wir rechtschaffen angeheiterten Mitfahrer noch ein Bier kaufen wollten, für die dröge Nachtfahrt durch Baden-Württemberg. Dann war das Entsetzen groß: Der Verkäufer teilte uns freundlich mit, dass der Verkauf von alkoholischen Getränken nach 22 Uhr in Baden-Württemberg nicht mehr gestattet sei. Wir konnten es nicht fassen. Sollten wir uns stattdessen Haschisch spritzen? Eine Bifi in Red Bull auflösen? Oder was?

Dem Jugendschutz sei dieses Gesetz gewidmet, erwiderte der schwäbelnde Tankstellenwart – aber was um Gottes Willen haben Kinder und Jugendliche nachts um elf auf einer gottverlassenen Tankstelle in Baden-Württemberg zu suchen? Um die Zeit sitzt man dort längst zu Hause und streamt oder raucht Crack oder beides.

Wir stellten fest, dass wir Berliner allesamt ein wenig den Kontakt zur Gesetzgebung in den deutschen Provinzen verloren hatten – in Rheinland-Pfalz, so wusste einer, steht sogar noch die Todesstrafe in der Verfassung. Die haben dort eine Verfassung? In Berlin, nein, in Berlin könnte so etwas nicht möglich sein. Todesstrafe, nächtliche Alkoholverbote. In Berlin nicht, niemals. I want to wake up in a City that never sleeps!

Diese Ereignisse trugen sich in einer Zeit zu, in der Klaus Wowereit noch Regierender Bürgermeister Berlins war und alle Bewohner der Stadt ständig ein Glas Sekt in der Hand hatten oder wenigstens eine Dose Bier aus dem Späti. Egal, ob die S-Bahn fuhr oder Schneechaos auf den Bürgersteigen herrschte, zu feiern gab es immer was; arm aber sexy und das am liebsten nachts.

Doch nun ist er weg, der Wowereit. Und ein Herr, dessen Namen einem immer entfällt, regiert. Einer von der SPD und er regiert zusammen mit der CDU und einer von der letztgenannten Partei will nun den Alkoholausschank in „Imbissen, Spätverkaufsstellen und Tankstellen“ ab 22 Uhr verbieten. Weil es in Baden-Württemberg so gut läuft. Was einen daran erinnert, dass es in Berlin auch Politiker gibt und Baden-Württemberg gar nicht so weit weg ist, wie man denkt. Retten kann einen in diesem Fall nur die Berliner Polizei, die zuverlässig und nach Art einer typischen Berliner Verkäuferin („Ick bin hier ooch bloß anjestellt und kann ja nun nüscht dafür, dass die Ware beschädigt ist“) gleich verlauten lässt, dass solche Verbote aufgrund von Personalmangel sowieso nicht zu kontrollieren sind.

Die wirklich schlimmen Dinge aber verbietet niemand. Hat schon mal jemand neben ihnen in einem öffentlichen Verkehrsmittel gesessen und einen Döner verzehrt? Sodass der gesamt Fahrgastraum nach Gammelfleisch mit Röstaroma und rohen Zwiebeln und Knoblauch riecht? Das ist so ekelhaft, dass es die Implementierung mittelalterlicher Strafen in die Verfassung rechtfertigt. Denkt denn niemand an die Kinder?

Kolumne 130

4.2.2015

Martin Reichert Erwachsen

Wenn es nichts mehr zu sagen gibt

ÜBER EINGETRAGENE LEBENSPARTNERSCHAFTEN REDEN VIELE. ABER KEINER DARÜBER, WIE MAN SIE WIEDER SCHEIDET

Alle schreiben immer über die Eingetragene Lebenspartnerschaft – die einen sagen, dass dieses Rechtsstatut der Anfang vom Ende (des Abendlandes) ist, die anderen, dass es sich bei dieser Konstruktion um eine Missgeburt handelt, die darüber hinwegtäuschen soll, dass man Homosexuellen in Deutschland eine wahrhaftige Gleichberechtigung noch immer verweigert. Aber niemand hat sich bisher Gedanken darüber gemacht, wie es eigentlich ist, wenn eine solche Eingetragene Lebenspartnerschaft geschieden wird. Ich weiß jetzt, wie es geht.

Mit viel Papier fängt es an. Anträge, Bescheide, eidesstattliche Erklärungen. Dann geht es mit sehr viel Geld weiter – eine Eingetragene Lebenspartnerschaft ohne Musikbegleitung kostet schlappe 60 Euro, bei einer Scheidung steigt man so mit 1.000 Euro ein. Anwaltskosten, Gerichtskosten. Dann geht man zu einem Gerichtsgebäude, das eine menschenfeindliche Ausstrahlung hat und an einer stark befahrenen Straße liegt. Vor der Tür kann man noch eine Zigarette rauchen, zusammen mit aschfahlen gegnerischen Parteien, Antragstellern und Zeugen. Im Gebäude Sicherheitsschleuse wie am Flughafen – man darf den Gürtel anbehalten, dafür endet man aber nicht im Duty-Free Shop sondern in einem weiten, kalten Flur. Menschenleer. Nein, dort hinten auf dem Stuhl sitzt mein Noch-Mann. Neben einer Büropflanze.

Mein Mann ist gegnerische Partei und Antragsteller und ich bin der andere. Wir sitzen nebeneinander und warten, er, der gelernte DDR-Bürger, hat Angst. Angst vor Behörden, vor Gerichten – vor der Staatsmacht an sich, der man nie wirklich trauen kann. Es ist, als ob er die Handschellen klicken hört. Und ich sage: „Es ist doch nur ein Verwaltungsakt.“ Der Anwalt kommt, wir müssen noch eine handschriftliche Erklärung abgeben und mein Mann ist viel zu aufgeregt, um zu schreiben. Ich will ihm helfen, aber dafür ist ja der Anwalt da. Er macht das, er wird ja dafür bezahlt.

Ein weiterer Zeuge wird aus dem Anwaltszimmer angeschleppt, er will 150 Euro von mir, damit er neben mir sitzt. Er schaut mir nicht in die Augen und es fühlt sich an, als hätten wir gerade einen Handel über ein Altauto ohne TÜV abgeschlossen.

Der Autohändler hat sich eine Robe übergeworfen, auch der Anwalt und der Richter sowieso. Der Verwaltungsakt wird vollzogen. „Gibt es noch eine Chance, dass diese Lebenspartnerschaft wieder aufgenommen wird?“ Nein. Wir müssen uns erheben. So nennt man hier das Aufstehen. Dann ist es vorbei. Ich bedanke mich bei allen Beteiligten für ihre Mitwirkung. Was man so sagt, wenn es nichts zu sagen gibt. Der reine Wahnsinn.

Draußen ist es kalt und die Zigarette ist ein kleines Feuer, das mich wärmt. Mein Exmann und ich gehen die laute Straße entlang und finden ein Café. Wir trinken noch etwas zusammen. Wir umarmen uns und gehen unserer Wege. Mit der Scheidung einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft verhält es sich wie folgt: Es tut offensichtlich genau so weh wie bei der Scheidung einer „richtigen“ Ehe. Wer hätte das gedacht.

Kolumne 129

21.1.2015

Martin Reichert Erwachsen

Sammelt genug Steine

KOMMT EIN SCHWULES PAAR ZUR FAMILIENFEIER, SO HANDELT ES SICH UM EINEN KOLONIALKRIEG

Kolonien der Liebe“ – so lautet eigentlich der Titel eines schönen Erzählbands von Elke Heidenreich. Aber dank des „Heiligen Vaters“, Papst Franziskus, ist nun ein ganz neuer Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Liebe auf der Welt. Die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Partner entspräche einer „Kolonisierung der Familie“, sagte er anlässlich seines Besuchs auf den Philippinen. Das klingt zunächst etwas kryptisch, doch schon im nächsten Augenblick kann man sich beruhigt zurücklehnen: Auf das Papsttum ist am Ende immer Verlass, wenn es um aufrechte Gegnerschaft gegenüber den Forderungen von LGBTI geht. Gut, man wird als Homo nicht gleich vom Dach eines Gebäudes gestürzt wie jüngst im „Islamischen Staat“. Ich dachte übrigens immer, Steinigung sei das probate Mittel zur Exekution von Homosexuellen, aber womöglich waren gerade keine passenden zur Hand?

Wie dem auch sei: Seit der Rückkehr der Weltreligionen feiert das Mittelalter scheinbar fröhliche Urständ. Dagegen ist mein eigener Vater so was von 20. Jahrhundert. Er, Jahrgang 1935, hatte mich und ganz selbstverständlich meinen neuen Lebensgefährten zu seinem 80. Geburtstag eingeladen. Ihm sofort das Du angeboten und ihn in den Arm genommen. Er, geboren zwischen zwei Weltkriegen, der als junger Mann noch gelernt hatte, das Homosexualität ein Verbrechen ist. Er, der selbst ohne Vater aufgewachsen ist, hat es geschafft, sich den Zumutungen und Widersprüchlichkeiten des Lebens zu stellen – auch wenn ihm das sicher anfangs nicht leicht gefallen ist.

Mein Lebensgefährte und ich waren bei dieser Familienfeier ganz selbstverständliche, willkommene Gäste. Gäste? Nein, wir waren ein Teil der Familie. Es wurde viel gelacht, gut gegessen – und zum Moselwein gab es auch gute, tiefergehende Gespräche. Aber womöglich habe ich diese Geschehnisse einfach nur falsch verstanden. Womöglich hat die Familie während der ganzen Zeit unseres Aufenthaltes einen verzweifelten Abwehrkampf gegen unsere Kolonisierungsversuche unternommen – und wir haben gar nicht bemerkt, dass wir uns bei der Feier dröhnend von Landnahme zu Genozid hangelten, mit jedem Schritt auf den Werten des Abendlandes trampelnd, obwohl man doch eigentlich nur kurz zum Kuchen-Buffet wollte.

Den Zweiten Weltkrieg hatten meine Eltern glücklich überlebt. Als Kinder im Luftschutzkeller – oder sogar, wie mein Vater, unter einem Korb kauernd mitten auf dem Feld bei einem Tieffliegerangriff. Dann Hunger im Winter 46/47, Wirtschaftswunder, Caterina Valente, erstes Kind, Kalter Krieg, Udo Jürgens, zweites Kind, RAF, Boney M., drittes Kind, Wiedervereinigung, 11. September, Helene Fischer. Alles bewältigt – und dann kommen die Homos und machen alles kaputt. Gott allein weiß, wie diese Minderheiten es immer wieder hinkriegen, trotz totaler Unterlegenheit die Mehrheit in den Würgegriff zu bekommen.

Ich kann daher meiner Familie in ihrem eigenen Interesse nur raten, genügend Steine zu sammeln. Denn im April sind wir schon wieder eingeladen – zur Kommunion meines Neffen.

Kolumne 128

7.1.2015

Martin Reichert Erwachsen

Sekt und Schlimmeres

BERGHAIN UND DANACH FÜNF TAGE RÜCKENSCHMERZEN. MUSS DAS MIT ÜBER VIERZIG WIRKLICH SEIN?

Alte Streitigkeiten soll man nicht aufwärmen und auch keine schlafenden Hunde wecken. Die Vergangenheit, man soll sie ruhen lassen – und doch war es seltsam berührend, als mich ein Freund anlässlich des neuen Jahres an einen Streit erinnerte, der sich vor vielleicht sieben Jahren zugetragen hatte.

An einem Silvesterabend haben wir zusammen gesessen in Brandenburg an einem gemütlich prasselnden Kamin, und doch waren die Fetzen geflogen. Er hatte sich seinerzeit schwärmerisch über Brigitte Bardot geäußert, worauf ich ihn unfreundlich darauf hingewiesen hatte, dass es sich bei dieser Dame um eine Front-National-Olle handele, die unter anderem auch gegen Schwule hetze.

Es kam, wie es kommen musste: Am Ende war ich der durchgedrehte Gay Taliban, der mit Schaum vor dem Mund die Regenbogenflagge hin und herschwenkt, während er behauptete, dass es doch überhaupt kein Problem sei, schwul zu sein und dass ich mich überhaupt bitte schön nicht so anstellen solle.

Wie oft hatte ich diese Diskussion schon in den Jahren zuvor geführt, mit zahllosen schwulen Freunden in meinem Alter, die sich durch die Clubs und Fitnessstudios der Neunziger und Nuller gehangelt hatten; gut aussehend, erfolgreich und immer bester Laune. Und so weiter.

Doch erst jetzt, um die vierzig, fängt das Nachdenken an. Die ersten Therapien kommen zu ihrem Abschluss oder werden gerade erst begonnen. „Du hattest recht damals“, hat er mir gesagt, „ich wollte einfach nichts davon wissen. Und erst jetzt wird mir klar, welche Beschädigungen ich davongetragen habe. Aus der Jugend, aus der Schulzeit.“

Nie wurde früher darüber gesprochen, wie es eigentlich war, von allen ausgelacht zu werden. Nie wurde darüber gesprochen, welche Ängste wir vor und während des Coming-outs gehabt hatten: entweder zu einer lächerlichen Figur zu werden oder an Aids zu sterben. Oder eben beides.

Stattdessen wurden dann all die Small-Town-Boys coole Großstadt-„Gays“ mit möglichst dicken Armen, bei deren Anblick Uneingeweihte denken mussten, dass es sich um martialische Schlägertrupps handelt – wenn auch seltsamerweise mit weißen Marken-Unterhosen, die über dem Bund der Hose herausschauen.

Und nun, in der Lebensmitte, werden diese Small-Town-Boys dann doch langsam erwachsen. Das ist nicht leicht, wenn man Verantwortung vornehmlich für sich selbst trägt, anstatt sich um Kinder kümmern zu müssen; aber es funktioniert eben doch. Wie schön, Begleiter auf diesem Weg zu haben. Menschen, die ein vergleichbares Schicksal erlitten haben und sich nun die gleichen Fragen stellen. Und die sich nun im reiferen Alter politisieren.

Gefeiert haben wir trotzdem ordentlich. Am Heiligen Abend mit Kitschweihnachtsbaum, an Silvester mit Sekt und Schlimmerem.

Wir haben das alles irgendwie überlebt. Aber warum müssen dann alle unbedingt noch zwei Tage am Stück weiterfeiern. Berghain und danach fünf Tage Rückenschmerzen. Muss das mit über vierzig wirklich sein? Klaus Mann hatte wohl doch recht. Es gibt keine Ruhe, bis zum Schluss.

Aeschbacher

Aeschbacher, 13.09.2012, 22:25 Uhr
Martin Reichert wollte mit Mitte 30 endlich erwachsen werden. Der Journalist legte als erstes seine Umhängetasche weg. Denn diese – so stellte er fest – ist Ballast, zieht den Träger wie ein Mühlstein in den Abgrund und verhindert jegliche Perspektive auf den Schritt zur vollendeten Reife. Reichert scheint der Abschied vom Ewig-jung-sein-Wollen geglückt zu sein – denn heute gibt er augenzwinkernd entsprechende Tips an den Mann weiter.

Kolumne 127

10.12.2014

Martin Reichert Erwachsen

Lass mich dein Tampon sein

OSCAR WILDE, SLING UND FACESITTING

Zeig mir deine Pornos und ich sage dir, wer du bist. Oder noch besser: Sag mir, was du verbietest und ich sage dir, wer du bist. In britischen Pornofilmen zum Beispiel sind seit Neuestem diverse Praktiken nicht mehr erlaubt – und man würde doch allzu gerne Mäuschen gespielt haben in jenem Gremium, dass die Verbote beschlossen hat. „Fisting“ zum Beispiel wurde als lebensbedrohlich eingestuft – was man noch diskutieren könnte, denn das Herumfuhrwerken in Eingeweiden kann bei mangelnder Vorsicht durchaus zu Verletzungen führen. Aber welche Gefahren gehen von einer weiblichen Ejakulation aus? Gar von „Dirty Talk“ oder einer „Penetration mit Gegenständen“? Gut, wenn es sich bei diesem Gegenstand nun um eine Glasflasche handeln würde, die wie in Oscar Wildes Beschreibung einer schwulen Orgie in „Teleny“ im Anus abbräche, sodass sich das arme Opfer zum Suizid genötigt sähe ob der zu erwartenden Schande bei Aufsuchung eines Arztes.

Das vermutlich von Wilde verfasste „pornografische“ Werk stammt aus dem Jahr 1893, schlappe 123 Jahre später nun sieht sich die Regierung Cameron genötigt, die britische Bevölkerung davor zu schützen, sich mit „Spanking“ und Urin-Spielen konfrontiert zu sehen – wohlgemerkt bei bewusster Aufsuchung von Online-Streaming-Portalen, die entsprechende pornografische Materialien zur Verfügung stellen.

Bei Oscar Wilde war es noch die Homosexualität, die es zu unterdrücken galt. Doch im neuen Jahrtausend müssen vor allem die Heterosexuellen unter Kontrolle gehalten werden. Schluss mit der Schweinerei – allem voran anscheinend sämtlichen BDSM-Praktiken, die zuletzt in dem Mega-Bestseller „Fifty Shades of Grey“ gefeiert wurden – weltweit wurden über 70 Millionen Exemplare der Trilogie verkauft.

Doch in England scheint es noch schlimmer zuzugehen – kein Wunder: Man weiß ja, dass der Oralverkehr aus Frankreich kommt, aber wussten Sie, dass Sex der härteren Gangart als „englischer Sex“ bezeichnet wird? Peitschen, Ketten, Fesseln – das ganze Programm. Und „Dirty Talk?“ Wir erinnern uns an Prince Charles, der seiner seinerzeitigen Geliebten Camilla Parker Bowles telefonisch anvertraut hatte, dass er gerne ihr Tampon sein wolle.

Im Prinzip gilt weltweit die Regel: Je stärker die Bestrafung, desto höher das tatsächliche Aufkommen in der Praxis. Wird zum Beispiel in einem Land Homosexualität mit dem Tod bestraft, kann man davon ausgehen, dass mann-männliche Sexualität dort besonders virulent ist. Bedeutet die neue Regelung also, dass die Briten tatsächlich besonders „kinky“ im Bett sind? Und dass die Frauen in UK überproportional stark ejakulieren? Umgekehrt würde das bedeuten, dass die britischen Männer Orgasmusprobleme haben, denn deren Ejakulation gilt weiterhin als legal.

Facesitting“ wurde übrigens auch als gefährlich eingestuft – potentieller Erstickungstod. Gut: Erst neulich dachte ich, dass die Kombination aus Sling und Facesitting irgendwie ungesund ist, weil ich am nächsten Tag ziemliche Schmerzen im Nacken hatte. Aber kann man Erwachsenen nicht vielleicht doch zutrauen, dass sie das Atmen nicht vergessen, wenn sie sich entschließen auf Tuchfühlung mit dem Unterleib ihrer Sexualpartner zu gehen?