Kolumne 126

26.11.2014

Martin Reichert Erwachsen

Rennie ratzelet de Pansen rin

LUXEMBURG IST BESSER ALS SEIN RUF

Das Land, in dessen Grenznähe ich aufgewachsen bin, ist so klein, dass man es von Berlin aus fast vergessen könnte, und von Köln aus gibt es nicht einmal einen durchgehenden Zug dorthin: Luxemburg. Aber nun ist es wieder in aller Munde, und zwar ausschließlich negativ. Lux-Leaks! Internationale Großkonzerne hinterziehen mit Hilfe Luxemburger Banken seit Jahren Steuern in Milliardenhöhe – und das in einem Land, dessen ehemaliger Premierminister EU-Kommissionspräsident ist, Jean-Claude Juncker. Dann auch noch der „Wing Wave“-Skandal von Cargolux, der Luftfrachtgesellschaft, bei dem aufgrund eines halsbrecherischen Manövers des Vorstandsvorsitzenden fast eine nagelneue Boeing zu Bruch gegangen wäre. Luxemburg, ein Schurkenstaat! Ausgerechnet.

Meine Erinnerungen an das Land sind weitaus friedlicherer Natur. Man konnte zum Beispiel in den Kinos stets Filme in Originalfassungen anschauen. Es gab eine prima Late-Eighties-Underground-Disse namens „Flying Dutchman“ nahe der Grenze. Hörte man luxemburgische Radiosender, konnte man sich prima ob der Sprach beömmeln. „Rennie ratzelet de Pansen rin“ oder so ähnlich bedeutet zum Beispiel „Rennie räumt den Magen auf“, und wenn man sich von jemandem verabschiedet, sagt man „Merci und Ädi un danke füret Gespräch“.

Ging man in der Hauptstadt, Luxemburg-Stadt, spazieren, konnte man sich mit ein bisschen Fantasie wie in Paris fühlen. Oder zumindest in Frankreich – Café au lait und Savoir vivre statt Kännchen Kaffee im Land der Reben und Rüben, in Rheinland-Pfalz nämlich. In einem unauffälligen Palästchen in der Innenstadt hauste seinerzeit der Erzherzog „Jang“, eigentlich Jean, und in den Bäckereien konnte man für wenig Geld eine Rieslingpastete kaufen. Es gab in dem kleinen Land sogar einen richtigen internationalen Flughafen und nicht nur einen für amerikanische Militärjets. Die Luxemburger, so wie ich sie in meiner Schulzeit kannte, hatten immer Geld – aber keiner schien so richtig zu wissen, woher.

Auffällig war nur, dass die Mütter meiner Freunde und Freundinnen mindestens einmal im Monat nach Luxemburg fuhren. Sie mussten „zur Bank“ und wollten Schuhe kaufen. Meine Eltern fuhren immer in die nächste Kreisstadt, wenn sie „zur Bank“ mussten, und Schuhe gab es dort auch zu kaufen.

Erst Jahre später führte der Zoll Grenzkontrollen ein – noch heute erzählen meine Eltern die Geschichte einer Dame aus gutem Hause, die, nachdem sie vom Zoll angehalten wurde, ihre Pumps wegschmiss, sich ihre Handtasche unter den Arm presste und in den angrenzenden Wald flüchtete, wo Zollbeamte sie wieder einfingen. In der Handtasche waren 20.000 Euro Schwarzgeld. Sie wollte eben „zur Bank“. Und neue Schuhe hätte sie auch gebraucht.

Aber wenn ich ehrlich bin, war ich gar nicht oft in den Filmen in Originalfassung, und Rieslingpastete will man auch nicht jeden Tag essen. Bei „Jang“ war ich nie, und die Flüge vom Luxemburger Flughafen waren unerschwinglich. Wenn ich in Luxemburg war, dann meistens, um zu tanken und Zigaretten zu kaufen. Steuern sparen. Schurke ich.

 

Kolumne 125

12.11.2014

Martin Reichert Erwachsen

Pornografisierung der Schule

FRÜHER WAR NOCH WIRKLICH ALLES IN ORDNUNG, UNTENRUM

Aus gegebenem Anlass versuche ich mich an den Themenkomplex Sexualität und Schule zu erinnern. Zeitpunkt: achtziger Jahre. Also die Zeit, in der es dann wohl noch besser an Deutschlands Schulen war. Als noch nicht überall Werbung für Homosexualität gemacht wurde. Als Schüler noch nicht „gezwungen wurden, Homosexualität gut zu finden“, wie gerade der Osnabrücker Sozialwissenschaftsprofessor Manfred Spieker beklagte. Die guten alten Achtziger. Eine Zeit, in der von einer „Pornografisierung der Schule“, wie sie der Chef des baden-württenbergischen Philologenverbandes beklagt, noch keine Rede sein konnte.

Damals war zumindest in der rheinland-pfälzischen Provinz noch wirklich alles in Ordnung, untenrum. Wenn ein Schüler fragte, was er denn da für „einen Knochen“ zwischen den Beinen hatte, sagte der Lehrer: „Das ist kein Knochen, das ist Fleisch und Blut.“ Damit war alles geklärt. So war es auch, wenn man fragte, was es mit „Damenbinden“ auf sich hat. Die Antwort: „Frauen brauchen das, wenn sie ihre Tage haben.“ Alles klar.

Wenn mich nicht eine Schulfreundin unter dem Schwimmbadfön aufgeklärt hätte, wüsste ich bis heute nicht, wie das mit den Bienen und Blumen wirklich funktioniert.

Im weiteren Verlauf der Achtziger wurde es nicht besser. Obwohl aufgrund von Aids umfassende Aufklärung notgetan hätte. Es gab die obligatorische Banane im Bio-Unterricht. Aber damit hatte es sich dann auch. Von Homosexualität war nun wirklich keine Rede. Einmal erwähnte meine Englischlehrerin anlässlich einer Oscar-Wilde-Lektüre einen ehemaligen Schüler, von dem man höre, dass er eventuell homosexuell sei. Und sie könne sich wirklich nicht vorstellen, dass ausgerechnet dieser nette junge Mann „solche Neigungen“ haben könnte.

Nein, das konnte man sich nicht vorstellen. Und wenn ein hübscher junger Mann von der Autobahnbrücke gesprungen war, stand bloß wieder eine „Warum?“-Traueranzeigen in der Lokalzeitung. Ja, warum nur?

Stattdessen gab es Kussverbote auf dem Schulhof, sodass sogar die heterosexuellen Schüler gezwungen wurden, auf der Klappe zu knutschen, also in der Schultoilette.

Trotz aller fehlenden Propaganda, trotzdem mich der lange Arm der sogenannten Homosexuellen-Lobby anscheinend in der Südeifel nicht erreichen konnte, hatte ich dann viel, viel später mein Coming-out. Der Autobahnbrücke konnte ich gerade noch so entrinnen. Und auch der nächsten Rastplatztoilette, in der ich mir, unaufgeklärt, wie ich war, alles Mögliche hätte einhandeln können. Mit fünfzehn oder sechzehn.

Aus gegebenem Anlass erinnere ich mich an all diese Dinge. Weil ich die Debatte über die Bildungspläne in Deutschland einfach nur erbärmlich finde. Erbärmlich, weil hier wider besseres Wissen Kausalzusammenhänge umgedreht werden. Geht es doch offensichtlich nicht darum, Jugendliche zu Homosexuellen zu erziehen, sondern Homosexuelle in der Lebensphase zu schützen, in der sie am verletzlichsten sind. Nämlich dann, wenn sie Jugendliche sind. Muss man das wirklich erklären?

Kolumne 124

29.10.2014

Martin Reichert Erwachsen

Werdet nicht wie die Kinder

BESUCH AUS STUTTGART IM ERZIEHUNGSCAMP BERLIN-KREUZBERG

Normalerweise sind es die Kinder, die von den Erwachsenen gemaßregelt werden – aber bei meinem Neffen aus dem Schwabenland verhält es sich genau andersherum. Zu Besuch in Berlin bei seinem Onkel hat er einiges auszusetzen am neuen Standort. Mit meiner Wohnung fängt es schon an, denn die findet er irgendwie „scheiße“, während es „bei ihm“ viel besser sei. Außerdem würde hier geraucht – und das sei ja wohl deutlich zu riechen.

Beim Abendspaziergang in den nahe gelegenen Volkspark Hasenheide ist dann die Hauptstadt an sich dran: „OnkelMartin, warum wohnst du eigentlich in Berlin? Hier liegt doch überall Müll rum!“ In der Tat hatte mein Bruder die Familienkutsche ausgerechnet neben einer Art Müllinstallation geparkt – einem Stromkasten mit einem verrosteten Toaster darob, ergänzt durch gammeligen Hausrat und silberne Farbkleckse. Wie soll man das einem Kind erklären, das quasi auf dem Wertstoffhof groß geworden ist? Soll man eine Ausrede erfinden und behaupten, dass Berlin insgesamt als Wertstoffhof zu betrachten sei, weshalb es eben an jeder Ecke Wertstoff zu besichtigen gäbe? Bei ihm zu Hause sind die Mülleimer ABGESCHLOSSEN – allein schon, um die Nachbarn von ungebetenen müllpolizeilichen Untersuchungen abzuhalten.

In der Hasenheide dann auch noch überall Dealer – zum Glück weiß er gar nicht, was das ist. Die dort im Streichelzoo herumstehenden Kamele kommen erst mal ganz gut an, wenngleich sie ebenfalls als übelriechend eingestuft werden.

Später, in der Kreuzberger Oranienstraße, wird ein fliegender Händler belehrt: Sein Korb mit minderwertigen Backwaren war auf den Boden gefallen. „Das kannste jetzt nicht mehr verkaufen!“, mahnte mein Neffe, der gerade mal in die dritte Klasse geht. Doch natürlich – wo sind wir denn schließlich – sammelte der fliegende Händler seine Ware einfach vom Bürgersteig auf und füllte sie wieder in seinen Korb; nicht ohne wüst, aber unverständlich den strengen kleinen Jungen vom Stuttgarter Ordnungsamt zu beschimpfen. „Immerhin trug er dabei Handschuhe“, hub ich an, den Verkäufer zu verteidigen. Na ja.

Beim Verzehr einer Bio-Apfelsaftschorle vor einem von Schwulen und Lesben besuchten Café fand er dann allerdings seinen Meister, nämlich einen Verkäufer der Obdachlosenzeitung Motz.„Warum bist du denn ganz alleine? Hilft dir denn sonst keiner? Wo ist denn deine Familie?“, fragte er den jungen Mann. Der nun tatsächlich antwortete: „Meine Eltern? Die sind schon vor ewigen Zeiten abgehauen. Weil ich mich nicht benommen habe und nie gemacht habe, was sie sagten.“ Mein Bruder und meine Schwägerin nickten nun ausgesprochen verständnisvoll, während der Zeitungsverkäufer fortfuhr: „Wenn du nicht brav bist, dann endest du auch so wie ich. Dann stehste ganz alleine auf der Straße und musst Zeitungen verkaufen. Und musst Drogen nehmen.“

Das saß. Meinem Neffen hatte es schlicht und einfach die Sprache verschlagen. So viel schwarze Pädagogik wäre im Schwabenland nun wirklich undenkbar. So etwas gibt es nur in Berlin-Kreuzberg.

Kolumne 123

15.10.2014

Martin Reichert Erwachsen

Führerschein mit Anfang vierzig

KAUM ETWAS IST NÜCHTERNER ALS EIN GURKENSANDWICH – EGAL WIE VIEL MAN DAZU TRINKT

Waren Sie schon mal auf einer MPU-Party? Sie wissen gar nicht, was das ist? Ich wusste es auch nicht, bis ich neulich bei einem Freund in der Küche stand, um Gurkensandwiches für die zu erwartenden Gäste zu schmieren.

MPU, das steht für Medizinisch-Psychologische Untersuchung, im Volksmund auch als „Idiotentest“ bezeichnet. Menschen mit Diplom begutachten Menschen, die ihren Führerschein aufgrund von Drogen oder Alkohol oder verkehrswidrigem Verhalten verloren haben. Kommen alle drei Vergehen in einem Fall zusammen, ist es nicht leicht, den Führerschein wiederzubekommen. Es kann Jahre dauern und man muss unglaublich viel Geld an die Menschen mit den Diplomen zahlen.

Es ist eine Zwangspsychiatrisierung auf freiwilliger Basis. Man steht beruflich unter dem Zwang, seinen Führerschein zurückhaben zu müssen, und macht dann freiwillig alles mit, weil einem nichts anderes übrig bleibt.

Aber warum ausgerechnet Gurkensandwiches? Mit Anfang vierzig hatte er nun endlich seinen Führerschein zurück – und was ist nüchterner als ein Gurkensandwich? Ein Gurkensandwich würde jeden MPU-Gutachter besänftigen. Brot, Butter, Gurke.

Wenn da nur nicht all die Getränke gewesen wären, die im Folgenden bei der MPU-Party konsumiert wurden. Sekt, Weißwein, Wodka, Gin Tonic. Mitten in der Woche. Willkommen in der Suchtgemeinschaft. Nüchtern waren am Ende eben nur die Sandwiches, die ausschließlich gegessen wurden, um die Magenwände zu beruhigen.

Am nächsten Tag erinnerte ich mich dann wieder an unser Gespräch während des Sandwichschmierens. Als wir noch allein waren und nüchtern und uns gefragt hatten, wann wir uns eigentlich das letzte Mal nüchtern begegnet sind.

Wir erinnerten uns an lustige Verkehrsdelikte früherer Tage. Mit neun Leuten im Polo und als die Polizei ans Fenster klopfte, hatte er tatsächlich geantwortet: „Moment, ich telefoniere gerade.“ Oder zu dritt im Zweisitzercabrio – und er im Kofferraum. Gurkensandwiches hatte es auch früher schon mal gegeben, damals, als ich komplett pleite war und meinen Geburtstag ausfallen lassen wollte. Und er stattdessen eine Low-Budget-Feier organisiert hatte. Lange ist das schon her, viele Flaschen wurden damals geleert. Und seitdem.

Lustig, diese MPU-Party. Ein feiner Spaß, den Leuten mit den Diplomen und den Verboten ein Schnippchen zu schlagen, „entschuldigen Sie, ich telefoniere gerade“. Wenn da nur nicht noch diese andere Geschichte gewesen wäre, die er erzählt hatte. Bei den zahllosen MPU-Sitzungen wurde immer darüber gesprochen, dass übermäßiger Alkoholkonsum auf persönliche oder berufliche Probleme verweise. Und dass man, wenn man seinen Alkoholkonsum in den Griff bekommen will, womöglich seinen Freundeskreis verändern oder gar austauschen muss.

Darüber hatten wir uns unterhalten, als wir nüchtern Gurken hobelten. Ein Wunder, dass ich mich nach dieser Nacht überhaupt noch daran erinnern kann.

Kolumne 122

1.10.2014

Martin Reichert Erwachsen

Die Orgien der um die Vierzigjährigen

BESUCH BEIM STREET-FOOD-EVENT: KARTOFFELPUFFER MIT SEETANG, „SURF & TURF“-BURGER, WIENER-SCHNITZEL-ZITAT MIT KARTOFFELSALAT Wenn Essen der Sex des Alters ist, dann handelt es sich bei den neuerdings in deutschen Großstädten orchestrierten „Street-Food“-Events um Orgien der um die Vierzigjährigen. In Berlin trifft man sich zu solchen Gelagen auf Märkten, neu belebten Markthallen und seit einiger Zeit auch an Sonntagen in heruntergekommen Lagerhallen, die sich in unmittelbarer Nähe zu jenen Clubs befinden, die man früher selbst aufgesucht hat. Bis zum Morgengrauen. Oder sogar bis übermorgen.

Auch seinerzeit gab es Street-Food, um auf dem Nachhauseweg die Magenwände zu beruhigen. Zwei Cheeseburger mit Pommes. Fettige Döner mit Knoblauchsoße und Zwiebeln, Currywürste. Real Berlin-Street-Food eben. Das, was da ist. Und das, was man sich leisten kann.

Nach einem Döner mit Knoblauchsoße und Zwiebeln Sex zu haben, hat sich nun noch nie wirklich empfohlen. Und doch haben sich die früheren Clubgänger erstaunlich erfolgreich fortgepflanzt, wie man bei den Street-Food-Events beobachten kann. Kinder und Kinderwagen gibt es hier en masse – und „Street-Food“ bedeutet dann eben auch, dass den Kleinen überall die Brust gereicht wird. Neuester Trend: Die Säugung wird mit einem riesigem Schal abgedeckt, eine Art Burka-Pieta im öffentlichen Raum. Um andere nicht zu stören oder um die Privatsphäre des Kindes nicht zu verletzen?

Rätselhaft. So rätselhaft, wie die Veranstaltung an sich: Menschen sind hier bereit, stundenlang für zwei kleine Kartoffelpuffer mit Seetang-Topping anzustehen und dafür sechs Euro zu bezahlen. Weil es sich dabei um „Street-Food“ aus Kambodscha handelt. Menschen campieren geradezu vor einem Stand, der „Surf & Turf“-Burger für acht Euro anbietet und trinken Weißwein, der mit schlappen fünf Euro pro Glas veranschlagt wird.

Man konsumiert also überteuerte Häppchen, für die man andernorts eine komplette Mahlzeit bekäme – sehr zum Befremden meines Besuchs aus dem Balkan. Befremden? Entsetzen: Sieben Euro für ein Wiener-Schnitzel-Zitat mit Kartoffelsalat? Und selbstverständlich danach immer noch Hunger. Der Ausflug in die Street-Food-Installation endete dann bei einer weltberühmten Berliner Curry-Wurst-Schmiede, deren Erfolg darauf beruht, dass die Ware aufgrund des Dauer- und Massenbetriebs immer frisch ist. Aber nun gab es ein neues Problem mit dem Besuch: Um sich den offenbar üblichen hiesigen Gepflogenheiten anzupassen, machte der Besuch ein Event aus der Bestellung besagter Currywurst. „What kind of meat is in that sausage? Is ist ecological?; What kind of drinks do you offer?“; „Are the Fries double-fried?“.

Hätte nur noch die Frage nach einem Seetang-Topping gefehlt. Selten sah ich die Berliner Damen des legendären Imbisses ähnlich nahe einem Herzinfarkt, während die Schlange hinter uns wuchs. Wer also ein authentisches Street-Food-Gefühl zu ganz normalen Preisen haben möchte, muss nur ein entsprechendes Buhei machen und Schlangen verursachen. Das ist total sexy, und satt wird man nebenbei auch noch.

Kolumne 121

17.9.2014

Martin Reichert Erwachsen

Es lebe der Rock ’n’ Roll

IN PARIS UND BERLIN ÄHNELN SICH DIE CAFÉS UND DIE, DIE DARIN SITZEN, UM ZU ARBEITEN – UND DIE FRIEDHÖFE AUCH

Über Berlin und Paris in einer Kolumne zu sprechen ist ungefähr so, als ob man Arte einschaltet. Man macht es selten, aber wenn, dann kann man Überraschungen erleben.

In Montmartre in einem Straßencafé zu sitzen, um einen Text zu verfassen, der tatsächlich gedruckt wird, und dabei Kette zu rauchen, ist wiederum ein Klischee. Und irgendwie peinlich. Während ich genau das tue, gucken die Leute komisch. Besonders die Touristen, die mich ganz gerührt betrachten, weil sie denken, dass ich einer der wenigen Einheimischen bin, die sich hier in diesem doch etwas sehr malerischen Viertel von Paris mit womöglich ambitioniertem Geschreibsel verdingen. Einer, der es in seiner schäbigen Dachkammer nicht mehr ausgehalten hat und nun bei einem kleinen Allongé stundenlang ; während die wenigen wirklichen Einheimischen denken, dass ich hier wie ein Depp herumsitze, der einen Kurs für „Creative Writing“ an der University of Kansas absolviert hat und mal besser aufpassen sollte, dass mir mein Mac nicht gleich unter dem Arsch weggeklaut wird. Das Café heißt auch noch LE NAZI. Nur bei näherem Hinsehen merkt man, dass es „Le Nazir“ heißt.

Aber es sollte ja auch um die Toten gehen und nicht um die Arbeit. Ich bin hier ja nur zu Besuch und im Urlaub und deshalb habe ich heute zum ersten Mal nach zwanzig Jahren Jim Morrison besucht, der nunmehr offensichtlich eingezäunt wurde. Rund um seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof Père Lachaise wurden portable Metallgitter angebracht. Womöglich, damit die umliegenden Gräber auf dem malerischen Promi-Friedhof nicht von Abertausenden von Touristen, wie ich es einer bin, zermalmt werden. In meiner Anwesenheit beerdigt wurde eine Dame mit Smokey-Eyes und Big Hair, die offensichtlich ihr Geld mit Gesang in den Sechzigern verdient hatte. Die Gäste trugen schwarze Rollkragen-Pullover & Jackett sowie Twin-Set & High Heels.

Die Gemeinsamkeit zwischen Paris und Berlin besteht nun darin, dass es auch in Berlin schöne Friedhöfe gibt, auf denen Prominente beerdigt wurden und werden. Unlängst besuchte ich den St.-Matthäus-Friedhof in Berlin-Schöneberg. Die Adresse hatte ich einem zufällig herumliegenden Reiseführer entnommen. So wie auch die Information, dass dort Rio Reiser begraben läge und es im Eingangsbereich ein hübsches kleines Café gäbe, in dem selbstgemachter Kuchen serviert würde.

Rio Reiser habe ich nicht gefunden, aber der Kuchen schmeckte gut. In meiner Anwesenheit beerdigt wurde ein Herr (oder eine Dame?), der oder die etwas mit Kreuzberg, Rock ’n’ Roll und den Achtzigern zu tun hatte. Die Gäste trugen Kutte, Tatoos und Dosen mit Jeam Beam & Coke.

Darüber hätte man auch etwas Schönes schreiben können. Und in Berlin hätte ich das auch ganz unauffällig bewerkstelligen können, indem ich in das legendäre Internetcafé „St. Oberholz“ am Rosenthaler Platz gegangen wäre. Die Frage aber, die mir viel mehr unter den Nägeln brennt, ist folgende: Warum sucht man ab einem bestimmten Alter den Rock ’n’ Roll nur noch auf Friedhöfen?

 

Kolumne 120

3.9.2014

Martin Reichert Erwachsen

Neulich in Euro-Disneyworld

BIST DU TOURIST ODER SCHON AUTOCHTHONEN-DARSTELLER? EGAL, UNTERWEGS SIND JA ALLE IRGENDWIE

Wer reist, verliert sich ein wenig; doch auch die Einheimischen wissen mitunter nicht mehr, wer sie gerade sind. Als Bewohner eines Berliner „In“-Bezirks beginnt die Verwirrung bereits, wenn man morgens das Haus verlässt, um Richtung Flughafen zu eilen: Benutzt man für den Transport seines kleinen Gepäcks einen Rollkoffer, ist man sofort feindseligen Blicken von just Zugezogenen ausgeliefert: „Aha, da ist wieder einer von diesen Heuschrecken-Touris.“ Worauf man ihnen schlecht gelaunt „Ich habe hier schon gentrifiziert, als du noch Gameboy gespielt hast“ zurufen möchte. Muss man morgens im fleckigen Bademantel zum nächsten Backshop latschen, um noch als Einheimischer respektiert zu werden? Und wo sind eigentlich die Neuköllner Backshops geblieben?

Nur wenig später – der Rollkoffer ist unauffällig im Bahnhofsschließfach verstaut – wandele ich mit meiner mediterran ausschauenden Begleitung über die Touristenautobahn Venedigs – prompt kommt es zu erneuten Missverständnissen, wird er doch andauernd und zielsicher von deutschen Touristen nach dem richtigen Weg gefragt. Ob es an dem gestreiften T-Shirt von American Apparel lag, das ihn, den Slowenen, quasi unbewusst zu einem Gondolieri mutieren ließ, der doch sicher auch den letzten Canale kennen musste wie seine Westentasche? Die wahren Einheimischen erkennt man allerdings eigentlich an ihrer Hassfresse und nicht an ihren T-Shirts: Wer könnte ihnen verübeln, diese im Weg stehenden, stolpernden Massen nicht mehr sehen zu wollen.

In Triest, der etwas tristen istrischen Hafenstadt, standen wir dann wieder mit sicheren Füßen auf dem Boden, denn der Tourismus macht hier gerade eine Verschnaufpause – niemand bemüht sich her, obwohl die Stadt über den womöglich schönsten Platz mit Meerblick Europas verfügt. Doch nur eine Station weiter, in der slowenischen Kapitale Ljubljana, ist die Verwirrung schon wieder komplett. Auf einem der großen Plätze der Stadt tun Slowenen so, als seien sie Römer. Sie tragen Togen und irdene Krüge umher, um zu Zwecken der Touristenbespaßung die römische Stadt Emona zu simulieren, auf deren Schutt und Asche Ljubljana einst errichtet wurde. Die Stadt insgesamt wiederum tut auf Geheiß ihres langjährigen Bürgermeisters so, als sei sie Salzburg, was die Einheimischen kaum noch aushalten können. Sie fühlen sich als Geiseln des touristischen Marketings, die in einem Schmuckkästchen gefangen gehalten werden.

Wer hier „Authentisches“ sucht, muss auf der Hut sein. So geriet der Besuch einer Cevapcinica zu einem zwar schmackhaften, aber doch seltsamen Erlebnis: Auf die freundliche Frage, warum denn die bestellte Flaschencola nicht im geöffneten Zustand gereicht werde, antwortete die Bedienung: „Dies hier soll eine bosnische Cevapcinica sein, und da man dort Flaschen geschlossen serviert, sollen wir das hier auch so machen.“

Richtig wohl in unserer Haut fühlten wir uns erst wieder, als wir nach unserer Rückkehr vom Flughafen bei McDonald’s am Berliner Hermannplatz hockten. Abendessen. Hier weiß wenigsten jeder, wer er ist.

Kolumne 119

20.8.2014

Martin Reichert Erwachsen

Wenn der Sommer geht

IM SÜDWESTEN MARKIEREN WEINFESTE DIE HAUPTBALZZEIT. EINE BEGEGNUNG MIT DER UNSCHULD FRÜHERER TAGE

Können Sie sich noch an Ihre Sandkastenliebe erinnern? Meine war eine Frau – und ich bin ihr gerade zufällig über den Weg gelaufen. Nicht ganz zufällig vielleicht, denn sie lebt noch immer in jenem Ort in Südwestdeutschland, in dem ich geboren wurde. Einmal im Jahr, wenn der Sommer geht, gibt es dort ein Weinfest, bei dem auf dem Markplatz Schweine geröstet und unzählige Fuder Wein konsumiert werden. Der Schweine wegen hat sich in den letzten Jahren Protest geregt, vonseiten der Veganer, und was den Wein angeht, ist nun die sogenannte „Flaschenmitnahme“ strengstens untersagt – was bedeutet, dass es nicht erlaubt ist, festfremde Flaschen von zu Hause im Rucksack einzuschmuggeln.

Diese Gemeinschaft stiftenden Feste aus der Nachkriegszeit gibt es ja überall in Deutschland – ob sie nun „Reiterball in Schlitz“ oder „Wäldcheskerb“ heißen –, aber dieses hier ist nun ganz besonders, weil es das größte Fest meiner Kindheit war. Bis auf den Veganerprotest ist auch alles auf beruhigende Weise beim Alten geblieben. Die Menschen, die man noch erkennt, sehen aus wie schlechter gewordene Kopien ihrer selbst – und meine Sandkastenliebe sieht nun aus wie ihre Mutter. Weil ich beide sehr gerne mag, war die Begegnung zwar zunächst verwirrend, aber auf jeden Fall von Herzlichkeit geprägt: „Was machen Sie, äh, du denn hier.“

Es war Glaspfand, mit dem meine Sandkastenfreundin und ich uns damals das „Kirmesgeld“ verdient hatten. Die in der Umgebung stationierten US-Soldaten hatten den Dollar locker in der Tasche sitzen und ließen ihre Gläser stehen. So konnten wir jeden Tag Karussell fahren, bis uns schwindelig war. Alles drehte sich, immer wieder und immer höher und im Hintergrund sang Blondie „Heart of Glass“. Einmal standen meine Sandkastenfreundin, ihre Mutter und ich an der „Berg-und-Talbahn“ und beobachteten ungläubig ein junges Pärchen, das sich lange küsste. Ihre Mutter sagte nur: „Ach, ihr zwei wisst noch gar nicht, wie schön das ist.“

So viele Zungenküsse und Schlimmeres später hatte ich das alles schon fast vergessen, und auch, dass ich eine Sandkastenliebe hatte. Denn das hatte sie mir gesagt an diesem Abend, „Du, du warst meine Sandkastenliebe.“ Wenn ich richtig rechne, sind wir beide heute so alt, wie ihre Mutter damals war, als sie uns das mit dem Küssen versuchte zu erklären.

Nach einigen weiteren festeigenen Flaschen saß ich mit meinen Freunden aus Berlin, die der Schweine und des Moselweins wegen mitgekommen waren, auf einem Karussell mit lauter US-Soldaten, die, von den Narben abgesehen, wie Kinder aussahen. Und weil der Abend so schön war und alles sich so schön drehte, überredete ich meinen besten schwulen Freund, mit mir „Berg-und-Talbahn“ zu fahren. Wir waren die einzigen Gäste und alles drehte sich immer höher und immer schneller und im Hintergrund sang Lady Gaga.

Zurück in Berlin tut mir die ganze linke Seite weh von der „Berg-und-Talbahn“ und in der Hosentasche habe ich unzählige nicht eingelöste Pfandflaschenbons gefunden. Aber nach allem bin ich sicher, dass ich schon als Kind wusste, was Liebe ist.

Kolumne 118

6.8.2014

Martin Reichert Erwachsen

Wie im späten Rom

ZEHN JAHRE TRÄNEN, TECHNO, WUMM-WUMM, DROGEN, ORGIEN, STEUERUNTERLAGEN – HAPPY BIRTHDAY, BERGHAIN!

Der Berliner Club Berghain hat Geburtstag – und ist mit seinen zehn Jahren immer noch nicht alt genug, um Einlass in sich selbst zu bekommen. Aber wozu auch: Die halbe Welt steht Schlange vor der Tür, begutachtet von Türstehern, die längst einen Promi-Status haben und Bücher schreiben.

Zehn Jahre Berghain, der Blick zurück ergibt: Wenigstens dieses Schlangestehen ist mir in meinem Leben erspart geblieben – dank antizyklischer Nutzung. Denn stets wenn ich im Berghain fertig war und nach Hause wollte, fingen die anderen erst an. Mit Schlangestehen. Aufgeregt schnatternde spanische Anglistik-Studentinnen, tapfer-cool dreinschauende Bart-Boys aus Down Under und wo sie noch alle herkamen, bunter getrieben wird es wohl nur noch beim päpstlichen Weltjugendtag.

Dramen konnte man da erleben, wenn man kurz nach Mitternacht am Taxistand auf weinende junge Menschen traf, die es nicht hineingeschafft hatten, die abgewiesen wurden. Halb tränenerstickt nur noch in der Lage „Watergate, please“ zu stammeln. Auch erinnere ich den laut geschrienen Satz „I PAYED FUCKING 1.200 DOLLARS FOR THE FLIGHT AND NOW THEY DON’T LET ME IN!“. Was hat man falsch gemacht? Aura verschattet? Falsches T-Shirt? Schlimm, besonders wenn direkt daneben gerade erst die Wurstbude aufmacht, die Nacht beginnt.

Nein, ich habe es mit dem Berghain meist so gehalten wie mit dem Urlaub – erst dann fahren, wenn die Schulferien wirklich beendet sind. Der Einlass zu den schwulen Sexpartys im Lab.Oratory, erreichbar über einen Seiteneingang, ist bereits am frühen Abend, und wenn man gut organisiert ist, liegt man rechtzeitig zu den Spätnachrichten im Bett. Techno, Wummer-Wummer, Drogen, Sex, Orgie – und dann nach Hause, um noch die Steuerunterlagen zu sortieren.

Das finden Sie absurd? Keineswegs, denn die Aura von Verruchtheit, Babylon und spätem Rom ist ebenfalls von Verschattung bedroht, wenn man den Fehler begeht, einmal kurz auf die Gespräche der anderen Clubgänger zu achten, die martialische Kulisse aus Techno, nackten Leibern und Industrial-Design wegblendet. Schon fühlt man sich wie beim Betriebsausflug eines mittelständischen Unternehmens, gesprochen wird über Gehaltsabrechnungen, Urlaubspläne, Automobilerwerb und gesundheitliche Probleme des Hundes.

Man soll so etwas aber nicht machen. Die Entzauberung der Welt ist auch so schon weit genug vorangeschritten. Also dennoch, liebes Berghain: Alles Gute zum Geburtstag, denn du verzauberst die Menschen und stillst ihre Sehnsüchte nach dem Besonderen. Hinter deinen schützenden Mauern fällt es ihnen leichter, wenigstens für kurze Zeit den Augenblick als solchen zu erleben, zu vergessen, wie banal der Alltag ist mit seinen Steuerunterlagen.

Das funktioniert aber nur, wenn alle mitmachen. Und manchmal, wenn ich mich wirklich auf dich eingelassen habe, dann war es wirklich schön bei dir. Wie im späten Rom. Danke dafür. Und natürlich dafür, dass du mich nie in der Schlange hast stehen lassen.

Kolumne 117

23.7.2014

Martin Reichert Erwachsen

Safer Politics

DER EUROPÄISCHE GERICHTSHOF KRITISIERT DAS BLUTSPENDEVERBOT FÜR HOMOSEXUELLE. ABER WARUM MUSS ER DEN JOB ÜBERNEHMEN?

Als Student muss man sich was einfallen lassen, um über die Runden zu kommen. War immer schon so. Mann kann als Pinguin verkleidet Werbeprospekte für Telekommunikationsanbieter verteilen, hilflos in gastrokommerziellen Erlebnisbereichen hin und her wetzen, auf den Strich gehen. Oder Blut spenden, beziehungsweise Plasma: „In der Charité bekommst du für eine Plasma-Spende 80 Mark“, hatte seinerzeit eine Freundin geraten, die selbst gerade glücklich einen Aushilfsjob in einem altmodischen Berliner Kartoffelfachgeschäft gefunden hatte, das den schönen Namen „Kartoffel Krohn“ trug.

Plasma spenden also, warum nicht? Danach könnte man von den 80 Mark etwas Warmes essen gehen und die Reserven wieder auffüllen. Frohgemut fuhr ich zur Blutspendenstation und beantwortete brav all die Fragen auf dem Bogen, den man mir gereicht hatte – bis sie dann tatsächlich kam, die eine Frage: Sind Sie homo- oder bisexuell? Von der freundlichen Dame am Tresen erfuhr ich, dass ich, leider leider, von der Blut- und Plasmaspende generell ausgeschlossen sei. Wortlos verließ ich das Krankenhaus. Ein Schock: Sollte es also wirklich wahr sein, das man als Homosexueller diskriminiert und ausgeschlossen wird? Einer Randgruppe angehört, die man nur mit spitzen Fingern anfasst? Es war das erste Mal, das mir ganz konkret eine Tür vor der Nase zugeschlagen worden war aufgrund meiner Homosexualität.

Dieser Vorfall hatte sich Mitte der neunziger Jahre ereignet, in einer Zeit, in der Aids aufgrund neuer Behandlungsmethoden begann, seinen Schrecken zu verlieren, und in die ich mit meinem Coming-out hineingeboren worden war. „Anything goes“ war das Motto der Zeit, oder auch „Friede, Freude, Eierkuchen“. Doch an diesem Nachmittag war da plötzlich ein dunkler, drohender Schatten. Ich sah ein Bild vor meinen Augen, dass sich in mein Gedächtnis gebrannt hatte, als ich noch ein Teenager war. Rock Hudson, der auf dem Pariser Flughafen in einen Air-France-Jumbo getragen wird. Er hatte den kompletten Jet chartern müssen, weil sich alle anderen Passagiere geweigert hatten, mit einem Aids-Kranken zu reisen.

Nun also, im Jahr 2014, reagiert der Europäische Gerichtshof, erkennt den diskriminierenden Charakter einer Gesetzgebung, die einer Zeit entstammt, in der man bei „Kartoffel Krohn“ ein halbes Kilo „Bintje“ kaufen konnte und Mobiltelefone so groß waren wie ein Reisekoffer.

Diese Gesetzesregelung trug immer schon latent virtuelle Züge – ich hätte damals ja einfach „nein“ ankreuzen können und die 80 Mark nehmen. Wer hätte überprüfen wollen und können, mit wem oder mit wie vielen ich zu diesem Zeitpunkt schlief? Es hatte ja niemand „die Lampe gehalten“, wie es so schön heißt.

Verlogen ist aber eher die Politik, denn die großen Parteien werden sich hüten, dieses Thema auch nur mit spitzen Fingern anzufassen. Das Handeln überlässt man in diesen Fragen lieber den Gerichten, die eine Art Kondom-Funktion haben: Safer Politics, schützt vor kontaminiertem Volksempfinden.