Kolumne 116

11.6.2014

Martin Reichert Erwachsen

Menschen auf Wasserwegen

BEI DER HITZE WIRD DER RAUM AUF UND AN DEN GEWÄSSERN KNAPP – ABER WER HAT DEN BESTEN PLATZ?

Es gibt einen Ort in Berlin, der sensible Gemüter durchaus verstören kann. Es handelt sich um ein Café im sogenannten Bikini-Haus, einem Hochhaus am Rande des Zoologischen Gartens, von dem aus man direkt in das Affengehege blicken kann. Allerdings blicken die Affen zurück – und man weiß nicht so recht, wer gerade in der bescheuerteren Situation ist: die eingeknasteten Primaten im Käfig mit Rundumversorgung oder die frei herumlaufenden Primaten auf der Terrasse mit Konsumzwang.

Ähnlich undurchdringlich erschien mir das Verhältnis zwischen den Menschen auf und am Rande eines Brandenburger Gewässers, an dem ich mich während des Pfingstwochenendes aufhielt. Ich selbst war AM Gewässer und nicht darauf, weil ich zu Gast bei einem Freund mit Haus am See war. Manchmal, selbstverständlich, war ich auch IM Gewässer, was bei den Temperaturen recht erfrischend war. Die meisten Menschen aber schienen mir AUF dem Gewässer unterwegs zu sein. Als da wären: Selbstrudernde in Kanus, Tretbootfahrer, Kleinbootsteuernde, Jetski-Reiter, Yachtbesitzer und Mieter einer ganz besonderen Spezies von „Boot“, nämlich Hausbooten mit Außenbordmotor. Das sieht dann ungefähr so aus, als ob eine Ikea-Küche an einem vorbeituckert, wenn man auf dem Steg sitzt.

Der Steg wiederum gehört zu dem Haus, in dem ich zu Gast war. Man saß in prominenter Position, starrte auf die Menschen in ihren schwimmfähigen Untersätzen und dachte: „Ach, Mensch, ein Boot! Ein Königreich für ein Boot!“ Was für ein Spaß könnte das sein, jetzt mit einem V8-getriebenen Speedboot die Haubentaucher umzupflügen oder mit einem Kabinenkreuzer in der Mitte des Sees vor Anker zu gehen, um elektronische Musik mit starker Bassfrequenz zu hören, beides sehr gut geeignet, um Mensch und Tier AM Wasser zu stressen.

Die Menschen AUF dem Wasser starrten allerdings auch zurück. „Ein Steg, ein Königreich für einen Steg und ein Haus am See!“, meinte man sie innerlich seufzen hören. Und es war ja auch ein Riesenspaß, auf diesem Steg zu sitzen: Mal gab es Kuchen, mal gab es Abendessen. Dazwischen stets eisgekühlten Weißwein. Wenn es einem zu heiß wurde, stieg man einfach die Leiter in den See hinab, saß danach erfrischt im Liegestuhl, sich herzlich wenig einen Kopf darüber machend, dass Mensch und Tier aufgrund dieses Privatbesitzes in ihrer natürlichen Entfaltungsmöglichkeit (Brüten, quaken, nackt um Bierkästen herumlungern und dabei Wummermusik hören) eingeschränkt sind.

Zurück in Berlin, lasse ich mir die schwierige Chose noch einmal durch den Kopf gehen, während selbiger kurz vor dem Siedepunkt ist, weil er an einem Schreibtisch im nicht adäquat isolierten Dachgeschoss des taz-Gebäudes sitzt. Und in dieser Not fällt mir die Erkenntnis wie ein Schweißtropfen von der Stirn: Mensch, du hast weder Haus am See noch Boot! Geh doch einfach wie die anderen Affen auch ins Prinzenbad. Ist ein schöner Zaun drumherum – und jeder, der mal IN und AM Wasser sein will, muss fünf Euro und 50 Cent bezahlen.

Zoo ist teurer.

Kolumne 115

28.5.2014

Martin Reichert Erwachsen

Urlaub in der Zivilisation muss nicht teuer sein

ALS BERLINER SCHADET ES EINEM NICHT, MAL IN EINER ANDEREN STADT RUMZULIEGEN. DA KANN MAN WAS LERNEN, ZUM BEISPIEL ÜBER MÜLL

Lebt man in der räudigen Metropole Berlin, beteiligt man sich fast zwangsläufig an Übernutzungen. So ist das Grillen mittlerweile in vielen Parkanlagen verboten, weil es sich die Stadt schlicht nicht mehr leisten kann, den ganzen zurückgelassenen Müll zu entsorgen.

Der Verbrauch von Parkanlagen und Freiflächen pro Kopf in Berlin ist derart hoch, dass nun sogar das riesige Tempelhofer Feld nicht bebaut werden darf. Stattdessen wird es früher oder später übernutzt werden – spätestens wenn die Stadt kein Geld mehr für Wachschutz hat, wird es begraben werden unter Zigarettenkippen, Kondomen, Grillkohle und halb aufgegessenen Dönern.

Hätte die Hansestadt Hamburg auch so ein Feld, könnte man dort ganz locker den Stadtteil Berlin-Kreuzberg originalgetreu rekonstruieren oder einen Containerhafen anlegen – denn der Hamburger kommt auch mit der kleinsten Parkanlage zurecht. So beobachtet in einer recht winzigen Grünanlage im Stadtteil Hamm. Nicht nur, dass dort bereits ein komplettes Zirkuszelt aufgebaut war, ein weiteres Areal war mit rot-weißen Flatterbändern abgetrennt, um dort einen ökumenischen Gottesdienst abzuhalten. Es gab eine Priesterin im schwarzen Kleidchen und einen Priester im weißen Kleidchen. Und man muss sagen: Es wurde viel gesungen.

Was nun aber weder die Hammel grillenden Damen und Herren mit oder ohne Kopftuch noch die total betrunkenen St.-Pauli-Fans störte, die sich um unser Discounterfleisch röstendes Lager gruppiert hatten. Als nun später eine karibische Großfamilie mit XXL-Grill und Soundanlage auftauchte, hätte diese Zusammensetzung wohl zu einer bürgerkriegsähnlichen Anspannung geführt, denn alle hätten sich bis zum Anschlag ausagiert. Alkoholisierte Fußballer gegen Trommelmusik und Hammel, Christen gegen Hammel und umgekehrt, alle gegen uns und der Zirkus für alle.

Hier aber, in Hamburg-Hamm, warteten die Haitianer höflich mit der Musik, bis die Christen fertig waren. Die Fußball-Hooligans fraternisierten mit der Großfamilie und uns. Und wir waren insgesamt ziemlich sprachlos ob all dieser hanseatischen Freundlichkeit – und Aufgeräumtheit.

Das eigentliche Wunder von Hamburg-Hamm: Nach Beendigung sämtlicher sozialer Aktivitäten wurde der Müll weggeräumt. Die Christen trugen ihre Sitzbänke und Monstranzen von dannen, die Alkoholiker ihre leeren Flaschen … sodass wir Berliner uns am Ende gar genötigt sahen, die Zigarettenstummel rund um unsere Decken einzusammeln und zu entsorgen.

Selbstverständlich gab es in diesem kleinen Park auch eine funktionierende öffentliche Toilette, die einem mit Rot- und Grünlicht anzeigte, ob gerade besetzt war oder nicht. Und wenn man dann abends in einem Berliner Park – sagen wir: am Weinbergspark – mal austreten muss und im Müll watet, dann kann man sich einfach nur noch darüber freuen, dass die Freifläche des Tempelhofer Feldes erhalten bleibt. Denn wo soll man als Berliner hin, wenn man ab und zu das Bedürfnis verspürt, vor sich selbst wegzulaufen?

Kolumne 114

7.5.2014

Martin Reichert Erwachsen

Allein unter Oberstudienrätinnen

WOLLTEN SIE SCHON IMMER MAL WISSEN, WAS IHRE LEHRER WIRKLICH VON IHNEN HALTEN?

Wer weiß schon ausschließlich Gutes über seine Lehrerinnen und Lehrer zu berichten? In der Regel sind es solche Leute, die bereits ein gewisses Lebensalter erreicht haben und daher mit rosa gefärbten Brillengläsern auf ihre Jugend zurückblicken. Oh Bildungsreform-Gymnasium, du Friedhof meiner Jugend! Aber auch dort wachsen ja Blumen.

Im nachhinein sympathisch erscheinen mir vor allem solche Lehrer, die ab und an den Talar ihrer pädagogischen Autorität lupften. Und sei es nur, um sich mal hemmungslos einen hinter die Binde zu kippen. So erinnere ich mich mit warmem Herzen an die bei einer abendlichen Zusammenkunft schon leicht gelallten Worte einer aparten Geschichtslehrerin: „Sie haben ja alle keine Ahnung, was Verantwortung ist – und SIE, Martin, SIE verdammtnochmaldreimalnisch.“

Nun begab es sich neulich, dass ich an einem Tisch saß mit exakt sechs angeheiterten Oberstudienrätinnen, die ihren Talar gerade an die Dienstbehörde zurückgegeben hatten, sprich: sich in den Ruhestand verabschiedet hatten. Allesamt Frauen der gehobenen Gewänder-Liga, also solche Damen, die bevorzugt wallende Leinen-Kleider tragen, verziert mit allerlei großformatigem Schmuck, der ihnen während ihrer Laufbahn als Abwehrzauber gegen bohrende, aufsässige Schülerblicke gedient hatte. „Heutzutage geht unsereins ja gerne mal im Bereich Kunst & Kultur die Kleider lüften“, gackerte die Gastgeberin – und genau dort, in Theatern und Galerien, trifft man diese Mitmenschen für gewöhnlich.

Nun aber saßen wir in einem Villengarten, am helllichten Nachmittag. Alles blühte. Die Vögel sangen und die Champagnerkorken knallten. Ich am Tisch der anderen Seite – quasi im Lehrerzimmer – und Sätze hörend, die man als Schüler lieber nicht hören will. Zum Beispiel Bekenntnisse wie diese: „Ich mag Kinder nicht. Ich habe sie nie gemocht.“

Soll man das wirklich glauben? Oder sind solche Aussagen nur die Abluft von vierzig Jahren Frontalunterricht. Schlecht gelüftete oder überheizte Räume. Knirschender Kreidestaub. Rotstift-Flecken an den Fingern. Sitzt meine Deutschlehrerin gerade in ihrem Garten, Likör in sich hineinschüttend, und blickt zurück im Zorn? Denkt mit Abscheu an Horden pickliger Eleven, die es zu beschulen galt?

Es ist, als ob man während einer mehrstündigen OP plötzlich aufwachte und den Chirurgen, Anästhesisten und Krankenschwestern bei ihren Lästereien über den nackt auf dem Tisch liegenden Patienten, sich selbst, zuhören könnte.

Die Oberstudienrätinnen waren jedenfalls gut in Fahrt, und dem ein oder anderen Exschüler dürfte es an diesem Nachmittag in den Ohren geklingelt haben, „hübsch, aber leider dumm“.

Während der Heimfahrt erinnerte ich mich dann an einen Abend mit Kollegen, alles Journalisten. Nach Feierabend wurde recht zynisch das tragische Weltgeschehen durchgehechelt, entlastungshalber –, bis eine Dame vom Nebentisch erzürnt sich erhob und rief: „Sie müssen wohl allesamt sehr schlechte Menschen sein!“

Menschen, ja.

Kolumn 113

23.4.2014

Martin Reichert Erwachsen

Das innere Innsbruck

WENN DIE SEX-TOURISTEN IN BERLIN EINFALLEN, WERDEN DIE EINHEIMISCHEN ZU SEHENSWÜRDIGKEITEN

Zwei Millionen Touristen waren über Ostern zu Besuch in Berlin, davon – so zumindest mein Eindruck – die Hälfte homosexuelle Sex-Touristen. Das „Folsom“-Fetischfestival lockte in die deutsche Hauptstadt, und im Berghain findet die – womöglich – allergrößte Sex-Party der Welt statt, deren Besuch im letzten Jahr bei mir Panik verursacht hatte: Komme ich hier je wieder raus? Oder werde ich von 30.000 Halb- und Ganznackten im Drogenrausch niedergetrampelt, von einer amorphen, verschwitzten Masse, die babylonisch bassumwummert vor sich hinbrabbelt.

Als Einheimischer wird man in Berlin, der Tourismus-Metropole, schon mal von Fremdenangst übermannt. Als ob man nicht so schon genug mit den Einheimischen zu tun hätte, die Rolltreppen verstopfen und immer in dem Weg herumstehen, den man gerade einzuschlagen gedenkt. Augen zu und durch – aber wenn schon mal Sex-Touristen da sind, warum nicht das Brandenburger Tor spielen?

Dachte ich mir und ging aus. Traf auch einen äußerst angenehmen Menschen im Dunkeln, wechselte aber nur ein paar Sätze mit ihm, automatisch auf Englisch: „Thank you for these great moments“ oder so. Fragt er: „Are you from Germany?“ Sage ich: „Yes“. Sagt er: I am from Innsbruck, dann könnten wir auch Deutsch reden.“ Haben wir aber dann doch nicht, ich ging.

Einen Tag später traf ich ihn durch Zufall wieder, andernorts. Eine unwahrscheinliche Begegnung unter diesen Oster-Umständen. Sagt er: „Kennen wir uns nicht?“ Sage ich: „Bist du aus Innsbruck?“ Nun unterhielten wir uns doch. Sage ich: „Du riechst gut“, und nach einer Pause: „Und du hast auch noch was zu sagen.“ Sagt er: „Du bist doch bestimmt aus Berlin, nicht?“

Wie kommt er darauf? „Weißt du, das ist typisch für Großstädter. Diese Klassifikationen. Riecht gut. Kann sprechen. Bei uns in Innsbruck ist das anders. Das ist eine kleine Stadt, da denkt und fühlt man ganzheitlicher. Man trifft die Menschen auch in der Regel wieder, da ist der Umgang ein anderer.“

So ist es also, wenn man tatsächlich zum Brandenburger Tor geworden ist, ohne es zu merken. Petrifiziert. Aus alltäglicher Notwehr abgestumpft. Jeder bekommt in Sekundenschnelle ein Etikett aufgeklebt, damit man die Situation – etwa eingepfercht mit Fremden in einem U-Bahn-Waggon – unter Kontrolle zu haben glaubt. Riecht gut. Kann sprechen.

Was ist eigentlich aus meinem inneren Innsbruck geworden? Ein Ort zum Beispiel, an dem man sich zuerst unterhält und dann miteinander schläft, anstatt umgekehrt? Ein Ort, an dem man sich verbindlich verabredet. Zum Spazieren im Wald. Ein Ort, wo man Kleidung trägt, wenn man ein Lokal besucht.

Ich weiß es nicht. Aber der junge Mann ist wieder in seinem Innsbruck. Er hat einen Lebensgefährten. Zusammen waren sie nach Berlin gekommen, um ein paar Tage Urlaub in Sodom und Gomorra zu machen.

Und ich? Ich lebe hier. Solange ich bei Begegnungen mit fremden Menschen in Zukunft nicht sage „Dunkle Haare“ oder „südwestdeutscher Akzent“ statt „Guten Tag“ überlebe ich das auch noch eine Weile.

Kolumn 112

9.4.2014

Martin Reichert Erwachsen

Das Phantom des Darkrooms

„MORD IM HOMOSEXUELLEN-MILIEU“, DAS HÖRT SICH NACH „TATORT“ AN ODER VORABEND-KRIMI IM ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN FERNSEHEN

Der Darkroommörder hat sich das Leben genommen. Eine Meldung, die medial relevant nur für die Abteilung „Lokales“ in Berlin ist – und für schwule Männer. Aber wer war nun dieser Darkroommörder? Sein Name war Dirk P. Im Jahr 2012 hatte er drei Männer mit sogenannten K.-o.-Tropfen getötet, einen von ihnen im Darkroom einer Berliner Schwulenbar, zwei andere, nachdem er sich mit ihnen über einen Gay-Chatroom in deren Wohnung verabredet hatte. Der 39-Jährige hatte seine Opfer ausgeraubt – er wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt.

Eine traurige, schreckliche Geschichte, von der man sich gerade als Schwuler am liebsten abwenden möchte. „Mord im Homosexuellen-Milieu“, das hört sich nach „Tatort“ an oder Vorabend-Krimi im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, gut gemeint vielleicht, aber die Zeiten sind doch eigentlich vorbei, möchte man so gerne denken – und den Rest der Gesellschaft glauben lassen: Hey, Leute, wir sind doch eigentlich wie ihr. Wir tragen auch Jeans und Wollpulli und wollen Kinder und einen Bausparvertrag.

Das stimmt sicher auch, aber doch ist da noch dieses andere Leben, die sogenannte „Szene“, die auch von schwulen Wollpulliträgern ganz unaufgeregt besucht wird, an der man teilhat in der ein oder anderen Form. Man geht mit Freunden in eine Schwulenbar, die auch über einen Darkroom verfügt. Man verabredet sich mit Wildfremden über das Netz, um Sex zu haben. Das gehört für viele Schwule schlicht zum Alltag. Ganz langweilig eigentlich, man macht sich da keinen Kopf. Spricht auch nicht groß darüber.

Und doch war das Schweigen ziemlich ohrenbetäubend, als seinerzeit der Darkroommörder in Berlin umging. K.-o.-Tropfen, Darkroom, Verbrechen – was hat das schon mit mir zu tun? Eine ganze Menge vielleicht, wenn man sich nur mal die Mühe macht, näher hinzuschauen. K.-o.-Tropfen, das ist Liquid Ecstasy, GHB, eine Droge, die in ziemlicher Selbstverständlichkeit konsumiert wird, besonders im Rahmen sexueller Kontakte. Einfach zu beschaffen, man kauft einen bestimmten Felgenreiniger über das Netz und mischt das Zeug mit Wasser. Bei Überdosierung: leider tödlich.

Gesprochen wird darüber eher nicht. So wie man ja auch im Darkroom eher nicht spricht. Wirklich erschreckend an diesem „Darkroommord“ war, dass das Opfer wohl über mehrere Stunden tot in besagtem „beruhigtem Gastraum“ gelegen hat, bevor sein Ableben entdeckt wurde. Die anderen Gäste waren wohl zu beschäftigt oder zu benebelt.

Solche Stätten können Orte der Freiheit sein, der abenteuerlichen Grenzüberschreitung. Fremde Menschen auf diese Weise kennenzulernen, das kann auch Liebe bedeuten, sei sie auch ganz still und flüchtig, da ist sie doch. Muss aber auch nicht. Dirk P. wollte laut seinem Richter seine Habgier befriedigen und „die totale Macht über andere spüren und sich daran ergötzen“.

Er lebt nicht mehr. Es bleibt nur das Schweigen und das Wegsehen und das Weitermachen. Und wenn es gut läuft mit der Eigenliebe, die Bedachtsamkeit, auf das eigene Getränk besser aufzupassen.

Kolumn 111

26.3.2014

Martin Reichert Erwachsen

Die Frau mit der Topffrisur

KEINE TRANSE, KEIN FAN. DIE ECHTE MATHIEU IST ZU BESUCH IN KLEIN PARIS

Als ich zum ersten Mal in meinem Leben Mireille Mathieu in Bukarest live gesehen habe, saß sie direkt neben mir. Aber diesen Satz müsste man wohl erklären.

Zunächst einmal war Mireille Mathieu nichts als eine typische Kindheitserinnerung der um die 1970 herum Geborenen. Die Familie versammelt sich abends vor dem Fernseher. Mireille kommt im schwarzen Kleid und singt etwas. Manchmal alleine, manchmal mit Peter Alexander. Dann verschwand sie für einige Zeit aus meinem Leben – bis sie auf Umwegen als „Transe“ wieder auftauchte, in diversen Travestie-Shows nämlich. Man kann sie dank Frisur und Mimik mindestens so gut nachahmen wie Cher oder Milva. Die dramatischen Handbewegungen, das Lächeln mit weit aufgerissenem, rot geschminktem Mund. Irgendwann wusste ich gar nicht mehr, ob es diese Frau wirklich gibt. Als dann ein guter Freund fragte, ob ich mit nach Bukarest zu Mireille Mathieu wolle, sagte ich sofort Ja: Weder sie noch ich waren zuvor in Bukarest, und was könnte schräger sein als ein solches Zusammentreffen?

Am Abend des Konzerts schien dann die ganze Stadt aus dem Häuschen zu sein – ein riesiges Polizeiaufgebot. Die Mathieu zu Besuch in Klein Paris – so nannte man die Hauptstadt Rumäniens dereinst, die Kapitale in der Wallachei, gelegen an der Strecke Paris–Istanbul (Orient Express), gebeutelt erst von Erdbeben, später von Ceausescu. Die meisten Besucher an diesem Abend sind mindestens so alt wie die Künstlerin und haben sich in Schale geworfen. Die Karten waren unermesslich teuer – und der Saal, ein riesiger sozialistischer Tempel, bis auf den letzten Platz besetzt.

Rechts neben mir: Mireille Mathieu. Sie trägt ein rotes Kostüm, hohe Schuhe. Sie riecht nach Chanel Nr. 5, die Sassoon-Frisur sitzt. Sie hat ein Gebinde aus rosa Orchideen auf dem Schoß. Muss sie nicht auf die Bühne? Sie kann nicht, sie ist mit der Familie da, ihre Mutter trägt ein dramatisches Kopftuch, die Tochter ein Mireille-Basecap. Und ihr Mann, ein Trumm, versperrt die Sitzreihe.

Dann kommt die tatsächliche Mathieu auf die Bühne. Keine Transe, kein Fan – dem Anschein nach: echt. Im schwarzen Kleid, mit rot geschminkten Lippen. Sie singt. Lieder von Brel und von der Piaf. Sie singt ernsthaft „Akropolis Adieu“. Sie muss wohl wirklich sein.

Das Gesicht sieht aus der Nähe nicht mehr so aus wie auf den Plakaten. Die Stimme ist wiederzuerkennen, aber sie hat an einigen Stellen deutliche Probleme mit den Höhen. Alle verzeihen ihr das. Sie bekommt Blumen. Applaus. Schön, dass es sie noch gibt, die Frau mit der Topffrisur aus dem Farbfernseher.

Am Ende des Konzerts versuche ich ein Foto mit Mireille von nebenan zu bekommen, doch sie entfleucht rasch in Richtung Ausgang – das Gebinde aus Blumen hatte sie nicht überreichen können, ihr Mann saß ja im Weg.

Später, im Hotel, noch eine Zigarette am Fenster. Gegenüber spielt eine Kapelle in die warme Nacht. Und irgendwo hier im Zentrum der Stadt, ganz in der Nähe hört vielleicht gerade Mireille Mathieu zu und fragt sich: Was mache ich eigentlich hier? In Bukarest?

Kolumne 110

12.3.2014

Martin Reichert Erwachsen

Rosen gibt’s hier nicht, Schätzelein!

HOSENSTALL AUF? AUS VERSEHEN EIN T-SHIRT MIT RASSISTISCHEM SLOGAN ANGEZOGEN? ODER WARUM,VERDAMMT NOCH MAL, STARREN MICH ALLE SO AN?

Wer in einer Großstadt lebt, weiß in der Regel den Komfort von Anonymität, Ignoranz und mangelnder Sozialkontrolle zu schätzen. Umso unheimlicher ist es, wenn man plötzlich zu einem Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit wird.

Es fing mit einem harmlosen Stehrümchen an einer Bushaltestelle im West-Berliner Zentrum an – der Bus kam nicht, dafür aber unzählige junge und mittelalte Frauen, die mich im Vorbeigehen anstarrten. Nicht unfreundlich zwar, im Gegenteil, aber sie starrten. Hosenstall auf? Aus Versehen ein T-Shirt mit menschenverachtendem Slogan angezogen? Nicht stadtteilkompatible Kleidung? Keine Ahnung.

In der U-Bahn stießen sich in letzter Zeit immer mal wieder junge Mädchen an, wenn ich ihnen gegenüber saß und wisperten, „Das isser. Das isser!“, und quietschten wie die Meerschweinchen. War ich vielleicht über Nacht zur Youtube-Celebrity geworden, weil mich irgendjemand bei einem Missgeschick im Alltag gefilmt hatte? Der Zusammenstoß mit einem Poller neulich war in seiner Dämlichkeit schon filmreif, okay.

Doch nicht nur freundliche Blicke sollten mich im Weiteren begleiten. Junge Herren bedachten mich des Öfteren mit abschätzigem, teils höhnischen Blicken – Homophobie jetzt auch wieder gesellschafsfähig im Bereich des akademisierten Mittelstandes mit Nerd-Brille? Kann doch wohl nicht wahr sein?

Die Offenbarung des Rätsels ließ auf sich warten, erfolgte aber schließlich an der Wursttheke der Karstadt-Lebensmittelabteilung. Es fing an wie gewohnt. „Guck mal“ stupste die eine Verkäuferin die andere an, „Dit isser“. Sie zurück: „Ja, jenau – dit isser doch.“ Nun traute ich mich doch, einmal nachzufragen: „Wer genau soll ich denn bitte sein, kennen wir uns? Ich kann mir diese Abteilung hier eigentlich nicht leisten und bin nicht wirklich so oft….“. Unisono kam es zurück: „Na, der Bachelor! Ditt sindse doch!“.

Ich antwortete noch schüchtern, dass ich einen Magister-Abschluss … früher, alles besser … aber es gab kein Halten mehr, auch nicht im Kundinnenbereich vor der Wursttheke. „Kiek mal, jenau die gleichen Augen – vielleicht nicht ganz so stechend, wah? Na ja, dit Licht …“. Ergänzend eine Kundin: „Den Bart trägt er ooch länger, aber sonst? Ja, dit kommt hin“.

Es stellte sich heraus, das der aktuelle Protagonist der RTL-Kuppelshow „Der Bachelor“ ebenfalls Glatzenträger ist und anscheinend eine gewisse Ähnlichkeit mit mir hat. Ein Herr, der über die letzten Wochen mit diversen Damen in Südafrika kaserniert war, um dort kameraüberwacht seine Zukünftige zu erwählen. „Kennt doch jedet Kind“, beschied man mir.

Nun ist der Spuk nun hoffentlich zu Ende, die letzte Folge wird am Mittwochabend gesendet. Den Bachelor aber kann ich nur warnen: Die meisten taz-Leser, behaupte ich jetzt mal, schauen keine Kuppel-Shows – und wenn er Pech hat, wird er mit mir verwechselt. Nicht nur, dass er dann damit klar kommen muss, als Homo geoutet zu sein, schlimmer noch: Ich habe in der letzten Kolumne Rentner-Bashing betrieben und voll auf die Mütze bekommen.

Zieh Dich warm an, Bachelor.

Kolumne 109

26.2.2014

Martin Reichert Erwachsen

Die Ballermann-Rentner

EL ARENAL IST TOT, ABER DAS HOTEL VOLL. UND WENN GLITZER-PEDRO SPIELT, DANN GEHT DIE LUZIE ERST RECHT AB. STÖSSCHEN!

Antizyklisches Reisen wird überschätzt. Zwar stimmt es natürlich, dass die touristisch stark frequentierte Balearen-Insel Mallorca im Februar nicht gerade Hauptsaison hat, doch von Dornröschenschlaf könnte nur sprechen, wer Deutschlands krakelige Kinder des Wirtschaftswunders nicht auf dem Schirm hat: die rüstigen Rentner.

Ja, im Februar blüht die Mandel auf der Insel und auch der Rosmarin. Menschen spielen zum Selbstzweck Gitarre vor malerisch gelegenen Kirchen, während in der berüchtigten Schinkenstraße von El Arenal – Ballermann! – alle Läden geschlossen haben. Keine Bratwurst beim „Wurstmeister“, kein Strammer Max bei „Elfi’s Bierschwemme“ und im MEGA-PARK wird gebaut statt gesoffen. Doch das Hotel ist voll.

Eben noch lag man windelweich im Viersternebett, doch kaum taumelt man aus der Zimmertür, bekommt man von zäh aussehenden Ü60-Landsleuten in Trekking-Kleidung ein zackiges „Guten Morgen“ an den Kopf geworfen. Entweder sie kamen gerade von einer Inselumradlung oder vom Fünfkilometerschwimmen im eiskalten Meer.

Der Frühstücksraum sieht aus wie ein Seniorenheim – auch die Kellner haben noch mit Franco im Sandkasten gespielt –, doch von Totenruhe keine Spur. Im Gegenteil wird hier reingehauen, was das Zeug hält. Spiegeleier, Rühreier, Berge von Backwaren – es ist ja alles bezahlt und man braucht ENERGIE für den Tag. Die Kegel-Clique am Nachbartisch hat sich vorsorglich gleich den ganzen Kübel mit Frühstücks-Prosecco auf den Tisch gepackt, „Stößchen!“.

Macht man einen Ausflug ins bergige Hinterland, bei dem man mühsam steinerne Pfade erklimmt, sind die Rentner garantiert schon da und trinken Rosé, „Grüß Gott“.

Am späteren Nachmittag besetzten sie entweder den Hotel-Pool zwecks Leistungsschwimmen oder ziehen auf der Terrasse eine Schachtel Marlboro zum Sangria durch.

Denn gleich ist ja schon wieder Abendessen, und da muss man sich sowieso wieder zwei Flaschen Rotwein reinpfeifen, um die ganzen frisch gegrillten Fleischberge und fettigen Mayo-Salate runterzuspülen. Dazu Törtchen, Torten und Käsebatzen. Das gibt dann Kraft, und die brauchen die Rentner.

Der Abend ist ja noch nicht vorbei. Punkt 19 Uhr startet der Alleinunterhalter sein Programm, Pedro in der Glitzerweste an seiner Elektro-Orgel. Und jetzt geht die Luzie erst recht ab. Eimergroße „Carlos“-Weinbrand-Gläser werden gestemmt, voluminöse Biere und Cocktails, während grell geschminkte Großmütter eine sogenannte FLOTTE SOHLE auf das Parkett legen: Rock ’n’ Roll. Und zwar: Around the Clock.

Später dann, wenn Glitzer-Pedro längst nass geschwitzt auf der Notfallliege röchelt, zwitschern die Renter Schnäpschen und Likörchen auf den Balkonen, wozu sie Schlager singen und Slim-Line-Zigaretten rauchen, deren Kippen sie dann dreist in den Außenpool

Wenn ich noch einmal an den Ballermann reisen sollte, dann nur zur Hauptsaison. Im Urlaub will man ja in meinem Alter auch mal seine Ruhe haben.

Kolumne 108

29.1.2014

Martin Reichert Erwachsen

Albtraum: Redakteur bei RTL

ALS ERWACHSENER MUSS MAN SCHLAFEN, UM AM NÄCHSTEN TAG ZU ARBEITEN. DOCH ES GIBT SCHLAFSTÖRUNGEN UND TRÄUME MIT DIETER BOHLEN

Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens in aller Früh auf und denken, die Nachtigall trapst – und dann stellt sich heraus, dass es bloß ein Lkw ist, der rückwärts einparkt.

So ist das mit dem Erwachsensein. Desillusionierend, und außerdem ist es draußen furchtbar kalt, es schneit sogar. Eine gute Zeit eigentlich, um sich endlich einmal so zu verhalten, wie es sich für Erwachsene gehört. Man geht abends nicht aus, sondern bleibt zu Hause, widmet sich ein wenig der Medienrezeption und geht dann spätestens um Mitternacht ins Bett.

Wie sagte neulich eine Freundin, Mutter eines pubertierenden Sohnes: „Als Kind denkt man, dass man als Erwachsener tun und lassen kann, was man will. Aber man muss eben auch schlafen, damit man am nächsten Tag arbeiten kann.“

Damit fangen die Probleme an. Das Einschlafen zum Beispiel. Nicht schwer, wenn man total übermüdet aus einer Bar / aus dem Theater / von einer Veranstaltung kommt und dankbar wie ein Stein in die Kissen sinkt. Aber schwierig, wenn man putzmunter ist von der ganzen inneren Ausgeglichenheit, welche man auch als Mix aus Langeweile und Einsamkeit bezeichnen könnte, wäre man nicht: erwachsen.

Heimgesucht wird man von Träumen, die durch unruhigen Halbschlaf in das Bewusstsein dringen, leider.

So war ich neulich des Nachts zu Besuch bei Catherine Deneuve in ihrem Pariser Appartement, irgendwo in der Nähe der Avenue Foch. Madame war in einen weißen Kittel gewandet und bemalte inmitten ihres Wohnzimmers riesige Leinwände – nicht ohne dabei die kostbaren Fauteuils mit Farbe zu bekleckern. Dann kam die Problemstellung: Sie hatte Mäuse in ihrer Wohnung, und nun war es an mir, sie zu beseitigen. Will man so etwas träumen? Kammerjäger bei Catherine Deneuve?!

In der Nacht von Sonntag auf Montag wiederum hatte ich einen Albtraum. Ich war Redakteur bei RTL und musste unter Hochdruck irgendwelche Konfliktsituationen zwischen hysterischen C-Prominenten konstruieren („Dschungelcamp“) und für „DSDS“ Kandidaten finden, die sich freiwillig als totale Larrys vorführen lassen. Falls ich es nicht schaffte, würde man mir SUV und Tankkarte wegnehmen. Zumindest blinkte diese Drohung auf dem Bildschirm meines Laptops in Form einer Intranet-Mail von Dieter Bohlen.

Ich war nass geschwitzt.

Gestern war ich dann wirklich zermürbt von den schlaflosen Nächten. Der Fernseher blieb aus und ich ging in die Bar um die Ecke. Ein Bekannter am Tresen erzählte mir von seinem letzten Albtraum – er war Gast bei seiner eigenen Beerdigung: „Ich konnte jedes einzelne Gesicht genau erkennen. Meine Eltern, mein Bruder, ich weiß nun, was auf mich zukommt.“

Der Barkeeper ergänzte: „Statistisch gesehen ist es ja so, dass die meisten Menschen zu Hause sterben. Es ist nur nicht ganz geklärt, ob in ihrem Bett oder auf der Couch.“

Vielleicht, so dachte ich, nachdem ich mir noch ein Hefeweizen bestellt hatte, wäre es gerade eher an der Zeit für einen tierischen Winterschlaf. Erwachsen werde ich dann im Frühjahr.

 

Kolumne 107

15.1.2014

Martin Reichert Erwachsen

Kriegt den Ball nicht ins Tor

DIE WELT DES SPORTS IST EINE NIE VERSIEGENDE QUELLE DER MISSVERSTÄNDNISSE. ALS MANN FÜR DEN SPORTCRACK SCHWÄRMEN? EINE KRUDE IDEE

Zum Coming-out gab es damals keinen Blumenstrauß. Niemand gratulierte mir zu meinem „Mut“, der Bild-Zeitung war es keine Zeile wert und auch der Sprecher der seinerzeitigen Regierung Kohl hüllte sich in Schweigen – es muss wohl damit zu tun gehabt haben, dass ich nicht Fußball spielen kann.

Diese Tatsache hat mit meiner sexuellen Orientierung bei Licht betrachtet nichts zu tun. Mein pädagogisches Umfeld hatte schlicht verabsäumt, mich in Fragen des Ballsports zu instruieren. Meine Fußball-Karriere stand so insgesamt unter einem schlechten Stern: Das erste Spiel meines Lebens fand in der Turnhalle einer Grundschule statt: „So, und jetzt spielen wir eine Runde Fußball“, hatte der Lehrer in seinem viel zu engen Siebziger-Jahre-Adidas Anzug verkündet und alle Jungs hatten ein Leuchten in den Augen. Verteilten sich auf zwei Mannschaften und fingen an, dem Ball hinterherzulaufen. Der Lehrer hatte die Regeln gar nicht erst erklärt, denn alle wussten sowieso, wie es geht. Ich traute mich gar nicht erst zu fragen und landete schließlich auf der Ersatzbank, die ich bis zum Abschluss der 13. Klasse nicht mehr verließ.

Ich zog mich auf die autistische Sportart des Schwimmens zurück und wurde später – es muss eine Art Unfall gewesen sein – Schulbester im 1.000-Meter-Lauf. Woraufhin eines Abends die Sportcracks der Anstalt vor der Haustür meines Elternhauses standen, um mich zum Duell herauszufordern. Meine Mutter beschied den jungen Muskelprotzen freundlich, dass ich „in der Disco“ sei und somit unabkömmlich.

Zwischen mir und der Welt des Sports gab es also immer Missverständnisse. Für einen der Sportcracks entwickelte ich zum Beispiel eine latente Schwärmerei, die auf eine ernsthafte Ebene zu hieven ich nicht einmal im Traum gekommen wäre. Bei so jemandem, so dachte ich, bekommt man höchstens eins auf die Nase. Ein Typ, der seine Wochenenden mit Sportwettkämpfen verbrachte. Der ständig mit anderen Sportjungs abhing. Fußball spielte. Dieses ganze High-School-Ding. Nur bei so jemandem? Ich war ohnehin der festen Überzeugung, das ich der einzige Mensch in der Region war, der überhaupt auf solch krude Ideen kommt. Für einen Kerl schwärmen! Wenn, dann gab es solche Leute in Großstädten. Sie sprachen stark durch die Nase, machten affektierte Handbewegungen und waren auch ansonsten total von einem anderen Stern. Ich wandte mich von dem Sportcrack ab, obwohl er mit mir befreundet sein wollte. Ich konnte das nicht aushalten.

Jahre später traf ich ihn dann wieder. Natürlich. In einer Schwulen-Bar in Berlin-Schöneberg.

In meiner Jugend habe ich insgesamt noch viel mehr verabsäumt als gemeinschaftliches Duschen mit Fußballern. So vieles, dass ich heute, als Erwachsener, meistens nicht darüber nachdenken möchte. Ein Coming-out wie das von Thomas Hitzlsperger wäre damals noch absolut undenkbar gewesen. Aber jetzt ist es endlich so weit. Dafür, lieber Thomas Hitzlsperger, gibt es von mir vierzig weiße Lilien. Auch wenn ich immer noch nicht weiß, was „Abseits“ bedeutet.