Kolumne 22

7.6.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Nicht weinen!

Die Männer Brandenburgs leiden unter der Landflucht junger Frauen? Wir werden uns ihrer annehmen

In einigen Regionen Ostdeutschlands besteht laut der aktuellen Studie „Not am Mann“ inzwischen ein Männerüberschuss von 25 und mehr Prozent. Mein Freund und ich sind uns keiner Schuld bewusst, nicht wir haben all die „jungen, qualifizierten und weiblichen Personen“ Brandenburgs in den Westen getrieben, und wir zwei Hanseln treiben auch nicht die Statistik nach oben.

Der Sohn unserer Nachbarn ist jedenfalls nicht betroffen. Der junge Mann fügt sich aufgrund einer Laune der Natur perfekt in die märkische Landschaft: schlicht, aber schön. Er ist sowohl in der Ausbildung als auch in festen Händen und somit dem Schicksal entronnen, Mitglied der „neuen männlich dominierten Unterschicht ohne Arbeit, Bildung und Partnerin“ zu werden.

Bei anderen Jungmännern der Ackerbürgerstadt sieht die Zukunft schätzungsweise nicht so rosig aus. Neulich sah man eine nicht unbeträchtliche Zahl von ihnen in weißen Anzügen und schwarzen Buffalos durch die Innenstadt ziehen. Sie hatten gerade die „Jugendweihe“ hinter sich – ein ostdeutsch-atheistisches Initiationsritual – und liefen hilflos Runde um Runde durch die winzige Innenstadt. Keine Kneipen. Keine Frauen. Keine Hoffnung.

Am letzten Wochenende standen gleich zwei verzweifelte, prekäre Männer von gegenüber in unserem Flur und tapsten unsicher von einem Bein aufs andere. Sie wollten sich mal erkundigen, wie das mit unserer Holzvergaser-Heizung funktioniert und so. Worüber man sich halt so unterhält, unter Männern. Beide ohne Arbeit und mit Depressionen.

Das ist alles nicht schön, aber müssen wir uns jetzt etwa um die Jungs kümmern, weil sich die Damen alle verpisst haben oder wie? Andererseits kann man sich dem ja auch nicht verweigern, denn laut der Studie tendieren diese verwahrlosten Mannsbilder zur Bildung rechtsradikaler Kameradschaften. Das muss nun auch wieder nicht sein.

Wir werden uns ihrer wohl annehmen müssen, es nützt ja alles nichts. Es gilt zuvorderst die „wirtschaftliche und soziale Erosion“ der Betroffenen zu stoppen, denn sonst „sinkt deren Attraktivität für junge Frauen noch weiter“. In unserem Freundeskreis befinden sich unter anderem Innenarchitekten, Mode-Designer, Schauspieler, Friseure, Tänzer, Tischler, Service-Kräfte, Produzenten, Lehrer und so weiter: Wir werden ein Gay-Kompetenz-Team bilden und Workshops anbieten, das wäre doch gelacht, wenn man diese netten brandenburgischen Gewächse nicht an die Frau kriegt. Schon die Wahl der richtigen Unterwäsche kann manchmal zum entscheidenden Durchbruch verhelfen, auch Männer, die kochen und eventuell zuhören können, erfreuen sich in weiblichen Kreisen einer gewissen Beliebtheit. Das kann man alles üben, zum Beispiel im Rahmen einer Fontane-Literaturwerkstatt unter der Fragestellung „Warum stirbt Effi Briest immer noch?“ mit integriertem Kochkurs.

Was man nicht alles tut, um sich gegen Rechtsradikalismus zur Wehr zu setzen. Andererseits kann ich mir schon vorstellen, dass einige unserer Kompetenzteam-Mitstreiter versuchen werden, die individuelle Kinsey-Skala der attraktiveren Teilnehmer in ihre Richtung zu manipulieren. Macht auch nichts, die Frauen wollen ja nicht.

Kolumne 21

10.5.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Bis die Gemeindeschwester kommt

Überholen, ohne einzuholen: Das Gesundheitssystem in Brandenburg hat endlich DDR-Niveau erreicht

Am Montagmorgen um halb acht ist das Wochenende endgültig vorbei. Dann nämlich wummert in schönster Regelmäßigkeit die Schwiegermama an die Tür, um mit uns zu frühstücken und uns zu besprechen. Sie hat im Prinzip ein eigenes Kommunikationsmodell entwickelt, das ausschließlich aus einem Sender besteht. Der Sender ist sie selbst, aber man kann ihr einfach nicht böse sein, weil sie das Herz am rechten Fleck hat und immer frische Landeier mitbringt.

Mamas Montagsproblem bestand diesmal darin, dass ihr von der AOK Brandenburg ein „Kur-Plan“ verpasst werden soll und sie nun Angst hatte, von einem Kurschatten zum nächsten gejagt zu werden – ein klarer Rechercheauftrag für den Schwiegersohn. „Kur-Plan“ war auf der AOK-Brandenburg-Seite erst mal nicht zu finden – stattdessen stieß ich auf das User-Forum „Partnerschaft und Sexualität“. Mein lieber Mann, da ist aber was los: „Ich hab eine neue Frage. Ich habe ja schon erwähnt, dass ich schwul bin (bzw. bi) und Sex mit Männern/Jungs praktiziere. Jedoch kam es bisher noch nie richtig zum Analverkehr“ erklärt Patpat, der eindringliche hygienische Bedenken äußerte. Da fällt einem ja erst mal das Brötchen aus dem Gesicht, auch das AOK-Expertenteam verharrte in Sprachlosigkeit, während User Chipmuk wacker zum Klistier riet. Userin Sanchi hingegen hatte schlicht „Schmerzen beim GV“, woraufhin das Expertenteam routiniert einen Abstrich empfahl.

Aber mit Schwiegermama kann man sich über so etwas ganz locker unterhalten, schließlich erzählt sie ja auch ganz ungenant, dass sie gerade beim „Muffenbeschauer“ (pejorativ: Urologe) war und „allet in Ordnung is“. Eine gewisse Bürgertumsferne in Kombination mit Ostsozialisation kann auch mal ganz erfrischend sein, wenn es um sexuelle Belange geht – es ist ihr nämlich auch völlig egal, ob ihr Sohn nun mit einem Mann oder einer Frau zusammen ist.

Umso dringlicher der Wunsch, ihr behilflich zu sein und eine Schneise durch den Dschungel des BRD-Gesundheitssystems zu schlagen. Der „Kur-Plan“ entpuppte sich als „Curaplan“ – ein ambitionös-verschwurbelter Marketingbegriff für ein Programm, das die AOK ihren chronisch kranken Versicherten anbietet. Der Patient soll sich mit seinem Arzt genau absprechen, dieser wiederum „organisiert den Behandlungsverlauf und vereinbart Therapieziele“ in Zusammenarbeit mit weiteren Spezialisten.

Schwiegermama verstand nur Bahnhof – und die AOK hatte da einen Riesenbahnhof veranstaltet, bei dem zumindest in unserer Ackerbürgerstadt keine Züge einfahren werden. In dem Städtchen gibt es nämlich mittlerweile nur noch eine einzige Ärztin, an deren Tür ein Schild mit der Aufschrift „Kann leider keine Patienten mehr aufnehmen“ hängt. Was bestimmt nicht daran liegt, dass sie stundenlang über Curaplänen tüftelt.

Die Dame ist schlichtweg überlastet mit den Malaisen und Wehwehchen der Einheimischen, Hausbesuche sind schon lange nicht mehr möglich, egal ob der Schwiegervater nun ein „schlimmes Bein“ hat oder nicht. Und das nächste Krankenhaus ist in der aufwendig per Bus erreichbaren Kreisstadt gelegen.

In manchen Gegenden Brandenburgs, so auch in der unsrigen, ist man medizinisch am besten beraten, wenn man sich an die Kräutermume vom Waldesrand wendet oder Maria Trebens „Apotheke Gottes“ konsultiert. Mehr so ganzheitlich eben.

Doch nun greift ja das von Greifswalder Wissenschaftlern entwickelte Gemeindeschwester-Modellprojekt „Agnes“: Speziell ausgebildete Krankenschwestern radeln durch ländliche Regionen mit geringer Ärztedichte. In der DDR war das übrigens immer schon so – und die alten Leutchen ohne Internet können ja dann auch Schwester Agnes fragen, wenn sie Schmerzen beim GV haben.

Kolumne 20

24.4.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Der Storch war da

Es ist so weit: Mein Freund und ich bekommen Nachwuchs – und leisten unseren Beitrag zur U.v.d.L.-Gebärquote

Der Bauch wölbt sich schon deutlich sichtbar, dennoch kann man sich nicht vorstellen, dass sich unter diesem kleinen Hügel gleich zwei Jungs verbergen. Eineiige Zwillinge! Schon in sechs Monaten werden sie das Licht der Mark Brandenburg erblicken. Wahnsinn.

Bei uns einziehen werden sie allerdings erst im nächsten Jahr, bis dahin muss noch viel geschraubt und gebaut werden. Keine Angst: Wir basteln nicht an einer künstlichen Gebärmutter, lediglich am Dachgeschoss unseres Hauses, das ausgebaut werden muss. Die Zwillinge befinden sich im Uterus der Nichte meines Freundes – und sie, ihr Freund und ihr fünfjähriger Sohn haben sich entschlossen, dem Prenzlauer Berg den Rücken zuzukehren und aufs Land zu ziehen. In unser Haus. Wir hingegen machen Platz und ziehen in die Ruine von nebenan. Die Welt gehört schließlich den Kindern.

Auf unsere kleine Welt bezogen, werden es derer gleich drei sein, in der Familie meines Freundes hatte man noch nie Schwierigkeiten damit, die Uschi-v.d.L.-Gebärquote zu erfüllen, auch wenn bislang noch kein einziges Akademikerkind darunter ist. Der kleine Florian ist mit seinen fünf Jahren jedenfalls ein sehr aufgewecktes Kerlchen und schon jetzt handwerklich begabt, mein Freund hatte große Schwierigkeiten, ihn davon abzuhalten, selbst (Patsche-)Hand an die diversen Baustellen zu legen. Doch seine bisher brachliegenden pädagogischen Fähigkeiten deuteten sich schon beim gestrigen Antrittsbesuch deutlich an. Wenn auch sein anonkeln weitgehend auf taube Ohren stieß.

Bei Kartoffelsuppe und Landbrot haben wir gestern schon mal protestantische Großfamilie geübt, „zwei sind geladen, fünf sind gekommen, gieß Wasser zu Suppe, heiß alle willkommen“. So ungefähr, nur ohne Beten – vorher hatte ich noch schnell die Männer Aktuellhinter dem Klavier versteckt. Im Esszimmer hatte früher die Großmutter gewohnt, genau genommen: die Urururgroßmutter des kleinen Florian, der nun, genau wie sie früher, die Suppe nicht aufessen wollte. Mit ihrem Ableben war unserem generationsübergreifenden Wohnprojekt eine Ebene abhanden gekommen, nun schließt sich die Formation eben vom unteren Ende der Generationenzwiebel. Das Leben geht weiter, auch in der kleinen, trostlosen Ackerbürgerstadt, der man vor kurzem noch die einzige Schule schließen wollte. Stattdessen werden eifrig Pläne geschmiedet. Wo kommt die Rutsche hin? In welches Zimmer kommen die Zwillinge? Werden sich die beiden Familienkatzen mit unseren verstehen?

Eigentlich hatten wir uns bloß – ganz hedonistisch – über die endlich eingetroffenen, den Sommer bringenden vier (!) Schwalben gefreut. Das Storchenpaar, das auf dem Schornstein in unserer Straße nistet und mit den Schnäbeln klappert, hatten wir nicht weiter beachtet. Prompt melden sich aus Berlin kritische Stimmen: „Was wollt ihr denn mit den Heten? Dann ist ja wohl Schluss mit draußen grillen und Lärm machen, von wegen das Kind schläft und so.“

Oops. Hatten wir vielleicht die Rechnung ohne den Wirt gemacht? Liefen wir Gefahr, Stichwort heterosexuelle Zwangsmatrix, im Verlauf der Gebärfront zwischen die Linien zu geraten? Planiert von Zwillingskinderwagen, eingeebnet von bis an den Rand mit Windeln gefüllten Familienkutschen?

Bange machen gilt nicht. Wenn die Heten so unerschrocken sind, mitsamt ihrer Bagage bei uns einzuziehen, dann wären Berührungsängste unsererseits doch wohl nicht angebracht, oder? So gaben wir denn dem jungen Glück nach seinem Antrittsbesuch endgültig unseren Segen: „Ich bin tolerant gegenüber Heteros“, sagte ich ihnen zum Abschied. Mein Freund bestand lediglich darauf, dass im Haus kein Laminatboden verlegt wird. Die Schrankwände werden wir schon verkraften.

Als die Familie unter regem Winken um die nächste Straßenecke gebogen war, herrschte geradezu unheimliche – oder doch himmlische? – Ruhe. Mein Freund und ich standen Arm in Arm vor der kleinen Ruine, die bald schon unser zu Hause sein soll. Und freuten uns.

Kolumne 19

12.4.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Rosa von Praunheims Baseballkappe

In meiner Heimat ist Wein, Mann und Gesang ausdrücklich nicht vorgesehen. Wie ich Ostern trotzdem überlebte

An Ostern habe ich in diesem Jahr „Ja“ zur Regression gesagt und meine Familie besucht. Dort, wo ich herkomme, ist man jenseits des Limes. Es herrscht katholische Sinnenfreude, immer läuten irgendwo Glocken und der Rest ist: Wein, Weib und Gesang. Wein, Mann und Gesang sind ausdrücklich nicht vorgesehen. Meinen Freund habe ich also mal lieber zu Hause in Brandenburg gelassen, ist besser so, der angeheirateten Verwandtschaft wegen.

Man kann nicht immer als Gay Taliban unterwegs sein, manchmal wird der innere Rosa von Praunheim schlicht müde und sehnt sich nach Frieden und Harmonie. So war es dann auch. Vorerst schien eitel die Sonne, ich schob meinen kleinen Neffen im Kinderwagen durch die vom Eise befreite Natur. So bekam ich eine Ahnung von den Wonnen der Mehrheitsgesellschaft, von dem Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen: Die anerkennenden Blicke der Spaziergänger angesichts des stolzen „Vaters“, der seinen Wonneproppen spazieren fährt. Für eine halbe Stunde ist man ein Bestandteil der heterosexuellen Zwangsmatrix, in der sich alles um geleaste Kombis, pflegeleichte Laminat-Fußböden und Bausparverträge dreht – und der innere Udo Di Fabio tanzt Walzer mit Ursula von der Leyen.

„Na, immer noch keine Freundin?“, fragt mit lauerndem Blick die katholische Anverwandtschaft, wohl wissend, dass sie die Antwort auf die Frage nicht hören will. Die Walzerkapelle verstummt mit einem Schlag und es ertönt das große Trauerspiel in Moll. „Warum?“ stand immer in den Traueranzeigen der Heimatzeitung, wenn sich mal wieder ein junger Mann umgebracht hatte. Und ich kenne die Stelle, von der er gesprungen ist, sehr genau. Die große, nie gewagte Jugendliebe, die sich die Lampe ausgeknipst hat, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass sein Leben lebenswert sein könnte. Ob ich der Einzige bin, der die Antwort auf das „Warum?“ weiß – oder wollten die anderen keine Antworten hören? Dieses agressive Schweigen, das zu einer Grabplatte aus Stein gerinnt.

Später im Biergarten mit Freunden vertreibt der Alkohol die düsteren Gedanken. Es ist ja vorbei, und dort, wo man früher immer zusammen gesessen hatte, sitzen heute andere Abiturienten mit typischen Regionalfressen und schmieden Zukunftspläne: Raus in „die Welt“, die Sphäre jenseits der Region. Zwei Lesben und einen Schwulen meine ich in der Runde per „Gaydar“, dem inneren Erkennungssystem, ausgespäht zu haben – ob sie es besser haben? Ob sie mutiger sind und sich ihren Freunden und ihrer Familie schon jetzt anvertraut haben? In meinem Jahrgang wäre das undenkbar gewesen. Einen Klassenkameraden traf ich erst neulich zufällig in einer Berliner Homo-Bar. Ich hätte ihn damals schon erkennen können, wenn ich das nötige Selbstvertrauen gehabt hätte. Man muss eben erst lernen, mit dem „Gaydar“ umzugehen – und schon ist man nicht mehr allein.

Die Jugend von heute ist darauf nicht mehr angewiesen. Wo früher nur Dr. Sommer von Bravowar, ist heute das Internet. Mann kann sich informieren und notfalls anonym Kontakte knüpfen. Ich hingegen warte noch heute darauf, dass die „vorübergehende Phase“ vorübergeht. So lautete die Standardantwort von Dr. Sommer, wenn in Not geratene, gleichgeschlechtlich empfindende Kids geschrieben hatten.

Ich muss an meinen Freund denken, der wahrscheinlich gerade um ein heidnisches Osterfeuer in Brandenburg tanzt, Bratwurst isst und dazu Wolfgang Petri hört – Osterfeuer ohne Wolfgang Petri gibt’s nicht. Ich schicke ihm eine SMS aus der Heimat in meine neue Heimat und kündige schon mal reichhaltige Ostergeschenke an. Apfelsaft von heimischen Streuobstwiesen, von Mutter gefärbte Ostereier und selbstgemachte Marmeladen, Leberwurst vom Landfleischer. Er schreibt zurück, dass er mich vermisst. Und ich, innerlich Rosa von Praunheims Baseballkappe aufsetzend, bin verdammt froh, dass die Dr. Sommer-„Phase“ immer noch andauert. Nächstes Jahr kommt er mit, verdammt.

Kolumne 18

15.3.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Machen wir ’ne Drogenfahrt

Bedröhnt, bekifft, besoffen: die Jugend von heute in Brandenburg

Wir hatten uns ja nun schon des Öfteren gefragt, was die jungen Leute hier draußen so treiben, wenn abends die Bürgersteige hochgeklappt werden: DVD gucken? Nachtwanderungen? Schlafen? Zur „Frauentagsdisco auf dem Sackboden“ (Frauen Eintritt frei, Männer drei Euro) gehen? Dank der Brandenburger Drogenbeauftragten Ines Kluge wissen wir nun endlich Näheres: Die Brandenburger Jugend von heute stopft sich mit Amphetaminen, Ecstasy-Pillen, Alkohol und Cannabis voll und begibt sich auf rasante „Drogenfahrt“.

Könnte schon sein, man kommt sich ja mittlerweile vor wie in Bayern: So wie dort an jeder Ecke eine Mutter Gottes aufgestellt ist, wachsen an Brandenburgs Alleen die Holzkreuze aus dem Boden – wie schon Jörg Schönbohm sagt: „Wer unter Drogeneinfluss fährt, ist eine rollende Lebensgefahr im Straßenverkehr.“ Aber da nützen wohl auch die überall aufgestellten „Auto fährt gegen Baum“-Warnschilder nicht allzu viel.

Die Berliner Jugendlichen haben es da besser. Die stopfen sich mit Amphetaminen, Ecstasy, Alkohol und Cannabis-Pillen voll und fahren dann mit der BVG nach Hause. Sie bilden dann höchstens eine rollende, laut herumquiekende Lärmgefahr, die erwachsene Besoffene wie mich im gleichen Waggon beim Dösen stört.

Normalerweise ist denn auch der Bedarf an High Life & Konfetti gründlich gedeckt, wenn ich am Wochenende in Brandenburg angekrochen komme – während es für die Kids dort erst so richtig losgeht. Saturday Night Fever! Die Augenbrauen zupfen, noch mal unter das Solarium, und los geht die Drogenfahrt! Während draußen gut hörbar die tiefergelegten Jettas und Astras vorbeifahren, deren schwarzgetönte Scheiben Gefahr laufen, von den Subwoofern aus den Gummis gedrückt zu werden, sitzen wir schön im Warmen und quatschen über Gott und die Welt.

Wenn mein Freund nicht mal wieder zum Drogenbeauftragten mutiert und spontane Rauchverbote ausspricht, so wie neulich. Trotzig warf ich mich in volle Montur, schmiss die Haustür zu und setzte mich in MEIN Auto, um in Ruhe und ohne kritisches Hüsteln eine Zigarette zu rauchen. Es war kalt und einsam dort draußen, ein Vorgeschmack auf den nahenden September der Prohibition.

Vor lauter dampfendem Frust, schwelender Langeweile und Zigarettenqualm beschlugen schon die Scheiben – jetzt so eine richtig krasse Drogenfahrt, das wäre doch was! Sich von den 75 PS meines Franzmann-Boliden mal so richtig in den Sitz drücken lassen, röhrend die Alleen entlangbrettern und den Rehen zuwinken. Und dann vielleicht zum nächsten Klinikum fahren, sich durch die Babyklappe quetschen und drinnen eine Zigarette rauchen – nach dem Vorbild eines jungen Mannes aus Dortmund, der auf diese Art versuchte, seine Langeweile zu besänftigen. Allerdings: Drogen hatten wir leider gerade keine im Haus, und ich war mir auch nicht sicher, ob es in Brandenburg überhaupt Babyklappen gibt. Ist nicht so mein Thema.

Laut einer Statistik des Potsdamer Gesundheitsministeriums wird jedenfalls bundesweit unter Jugendlichen nirgends so viel gebechert wie in Brandenburg. Ich halte das ja ehrlich gesagt für Angeberei – im Naturschutzgebiet Südeifel, Wiege meiner Jugend, wurde und wird mindestens genauso viel gesoffen. Vielleicht kann man dort einfach besser Auto fahren? Oder es liegt daran, dass man in einem Mittelgebirge selten dazu kommt, auf gerader Strecke auf 160 Stundenkilometer zu beschleunigen, um dann die Kurve nicht zu kriegen?

Was nicht sein soll, muss verboten werden – in Poltikerkreisen läuft man sich diesbezüglich gerade erst warm: Jugendlichen unter 18 den Alkohol zu verbieten wird das Unfallproblem wohl nicht lösen, denn einen Autoführerschein bekommt man frühestens am 18. Geburtstag. Und nun? Alleen verbieten? Autos verbieten? Jugendliche verbieten? Das sind so Gedanken, die einem kommen, wenn man aus Verbotsgründen in die Kälte geschickt wird und nichts zu tun hat. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um unsere Brandenburger Jugend.

Kolumne 17

1.2.2007

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Mängelzwerge auf großer Fahrt

Unser Auto ist ein Edel-Stinker mit VIP-Plakette. Ohne es wären wir in der Umweltzone Brandenburg verloren

Das Auto hat jetzt eine VIP-Markierung, eine Art All-Areas-Badge: eine Plakette zur Nutzung der künftigen „Umweltzonen“ der Berliner Innenstadt – auch TÜV und ASU sind neu, weshalb einem die Horrormeldungen des Technischen Überwachungsvereins gerade runtergehen wie Öl, endlich mal auf der richtigen Seite: Jedes fünfte Auto ist mit erheblichen Mängeln unterwegs? Meines nicht.

Nicht mehr jedenfalls, dank des Improvisationstalents unseres polnischen Schraubers, der mich immer mit einem herzlichen „Mein Freund“ begrüßt. Ein guter, ein sehr guter Kunde eben, dessen Fahrzeug sich auf den vorderen Plätzen der Pannenstatistik tummelt, weil die Franzosen ihre zickigen Gerätschaften nach dem Motto „So gut wie nötig“ statt „So gut wie möglich“ herstellen – la „Grande Nation“ gibt sich eben nonchalant, und die Deutschen freuen sich stattdessen wie blöde, dass sie wieder die Spitzenplätze bei den „Mängelzwergen“ besetzten. Puh.

Der „Zitrööhn“, so die ostdeutsche Aussprache der schon von Honecker favorisierten Marke – als Bonzenkutsche geschmäht geschätzt –, wird allerdings in den Berliner „Umweltzonen“ eher herumstehen, denn zum Einsatz kommt er für gewöhnlich in der richtigen grünen Umwelt: auf den LPG-Plattenwegen und Alleen der Mark Brandenburg, die wiederum von den meisten Berlinern für „die Zone“ schlechthin gehalten wird. Fährt man mit den Öffentlichen in die Ackerbürgerstadt, braucht man länger als nach Hamburg – und ist dann vor Ort an die Scholle gekettet, als hätte es die Bauernbefreiung nie gegeben. Ohne Auto läuft da gar nichts.

Nur mein Freund ist immer auf der ökologisch korrekten Seite. Wenn wir mal wieder in den Baumarkt oder zum Förster müssen, um Materialien für den Ausbau seines „ökosozialen Wohnprojekts“ zu organisieren, bin ich ja der fossile Brennstoffe verheizende Täter. Er hat nicht mal eine „Fahrerlaubnis“, sondern nur das Trauma, als Jugendlicher von der Obrigkeit zu einer KFZ-Schlosser-Lehre gezwungen worden zu sein. Was bedeutet, dass er zwar die Blattfederung eines 79er Wartburgs reparieren kann, aber nicht weiß, was eine Einspritzpumpe ist. Opfer.

Wenn wir dann mit „Abba-Gold“-Soundtrack zum Baumarkt fahren, vorbei an den unzähligen Holzkreuzen jugendlicher Raser, kann er ruhigen Gewissens über den Klimawandel dozieren. Noch besser war nur unser Versuch, Öko-Ziegenkäse aus Kuhhorst (kein Witz!) zu organisieren. Ja, es sollte ein Geschenk für einen lieben Menschen sein, aber für den Erwerb dieses Stücks Nachhaltigkeit gingen mindestens fünf Liter Benzin drauf. Wir hatten uns verfahren, erst ein keineswegs ökologisch arbeitender Bauer, der einer Kuh gerade dermaßen die Hufe auskratzte, das Blut floß, schickte uns auf die richtige Spur. Einen völlig verschlammten Feldweg. Wie der Feinschmecker-Kritiker mit seinem Volvo bis zu diesem Hof gelangt ist, weiß kein Mensch. Aber wir haben es ja auch geschafft.

Der Gourmet-geadelte Biokäse war dann recht schnell eingetütet, doch nach den Strapazen wollten wir uns bei einem Kaffee erholen, den man in Kuhhorst laut Beschilderung „mit Blick auf die grünen Wiesen Brandenburgs“ genießen kann. Als mein Freund dann jedoch ansetzte, den Besitzer darauf hinzuweisen, dass es sich bei den Wiesen genau genommen um ein Rapsfeld handele, war ich kurz davor, ihn einfach in Kuhhorst auszusetzen.

Manchmal stimmen die Texte, die man so ablässt, eben mit der Wirklichkeit nicht überein. Wir brauchen das Auto beide, leisten können wir es uns nur, weil ich es geerbt habe – und eigentlich überhaupt nicht, das Geld für die Reparaturen ist geliehen. Drei-Liter-Auto? Gibt’s zwar nur noch gebraucht, aber immer noch zu teuer.

Auf die VIP-Plakette für zehn Euro hätte ich jedenfalls verzichten können, schlimmer ist jedoch, dass der TÜV auch nicht mehr ist, was er mal war. Die wichtigsten Mängel haben sie übersehen: Die „Abba“-CD bleibt bei „Voulez-Vous“ und „Super Trouper“ hängen.

Kontrollzwerge.

Kolumne 16

23.11.2006

Martin Reichert über LANDMÄNNER

Streusand im Auge

Im Fernsehen ist Brandenburg immer prima kuschelig. Aber waren Sie schon mal im Oranienburger Einkaufszentrum?

So wie es ZDF-Punks und Degeto-Frauen gibt, existiert auch ein schönes, kleines Bundesländchen namens RBB-Brandenburg. Dort scheint meistens die Sonne, und scheint sie einmal nicht, machen dies die patent-bodenständig wirkenden ModeratorInnen mit einem strahlenden, penetrant glaubwürdigen Lächeln wieder weg: nicht zu hübsch und nicht zu hässlich. Es brüten die Störche, es krähen die Kraniche – und das Volk feiert allzeit Feste mit irdenen Speisen und selbstgebrauten Alkoholika. RBB-Journalisten mit Timberland-Boots und Goretex-Jacken fahren rund um die Uhr mit ihren silberglänzenden Opel Vectras und VW-Bussen über die Alleen, um diese Bilder einzufangen.

Nur im Oranienburger Einkaufszentrum war noch nie jemand. Einem Aufenthalt in der Kreisstadt verdanke ich die erschütternde Erfahrung, die Welt für einige wenige Minuten wie Wiglaf Droste betrachten zu müssen: Überall waren hässliche Menschen, die Einkaufswagen mit hässlich ausschauenden, ungesunden Lebensmitteln vor sich her schoben. Ein Geruch von ranzigem Bratenfett lag in der Luft, feiste, schnurrbärtige Männer schoben verschmorte Würste in ihre roten Gesichter, dazu schales Regionalbier trinkend. Vereinzelte Gestalten mit Dauerwellen schreiten in den „Orion“-Sexshop, um „Glitschi“ zu kaufen, als handele es sich um Zahnpasta. Fruchtbarkeit inmitten dieser Einöde? Da soll sich mal lieber der Storch drum kümmern.

Und beim Abendessen kommt mir mein Freund dann auch noch mit folgendem Satz: „Die Tragik der Ostdeutschen besteht doch darin, dass ihre Biografien nicht anerkannt werden.“ Eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust, meinen Abend ausgerechnet mit Wolfgang Thierse zu verbringen, aber bitte: Die Ost-West-Diskussion haben wir beide schon so oft geführt. Also das ganze Programm. „Ihr“ und „wir“ und „das hat ja alles auch ganz schön viel Geld gekostet“ und „es war ja nicht alles schlecht in der DDR“. Das Gulasch lag ganz schön schwer im Magen, dementsprechend träge waren die Gedanken. Ein halbherziges Ritual.

Dabei sind wir uns eigentlich einig, da hilft auch keine zehnte Wiederauflage des Kalten Krieges: In unserem Frust. Er kann einfach nicht glauben, wie viele seiner Exmitstaatsbürger einfach so tun, als gäbe es die DDR noch. Sie spielen einfach weiter Arbeiter-und-Bauernstaat, als hätte es die Wende nie gegeben: Privat geht vor Katastrophe. Ossi-Parallelgesellschaften in Berlin-Hohenschönhausen – darum könnte sich „Spiegel-Online“ mal kümmern, anstatt sich aufgrund von Ortsunkundigkeit im Kreuzberger Wrangel-Kiez zu verlaufen.

Aber für den tristen Alltag im Osten interessiert sich eben nicht mal der RBB. Kann man auch schlecht verkaufen. Auch ich selbst stelle mitunter gewisse Ermüdungserscheinungen an mir fest. Plötzlich ist die geballte, graue Tristesse nicht mehr „exotisch“, sondern beängstigend, die eigenbrödlerisch-privatistische Mentalität nicht mehr „spannend“, sondern schlicht piefig-miefig.

Nach all den Jahren „sensibler Annäherung“, der Neugierde und Anteilnahme, dem Bemühen um Verständnis und Verstehen, meldet sich auch gelegentlich ein Gefühl von Enttäuschung. Das Gefühl, immer ein Fremder im Osten geblieben zu sein und auch bleiben zu sollen. Und irgendwie überhaupt keine Lust darauf zu haben, dass in der Stammwirtschaft die örtlichen Nazis genauso freundlich bedient werden wie alle anderen.

Aber es gibt ja noch das RBB-Brandenburg, und das ist für alle da, auch für mich. Pilze sammeln im Spätsommer, Baden im See, den Kranichen auf ihrem Weg nach Süden auf Wiedersehen sagen. Kirschen aus LPG-Beständen klauen und Schnitzel mit Spargel essen. Vielleicht sollte ich mir einfach einen RBB-Aufkleber auf mein Auto machen, silberfarben ist es ja schon. Immer dranbleiben an den schönen, bunten Geschichten aus der Mark Brandenburg.

Es ist nun einmal die Heimat meines Freundes. Und deine Liebe ist meine Liebe. Es wird schon gehen.

Kolumne 15

26.10.2006

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Wo the fuck bleibt Alice?

Ohne einen DSL-Anschluss haben die Gayromeos in Brandenburg ein Problem: Sie können nicht zueinander finden

Wir hätten sie gerne bei uns empfangen, aber Alice kann nicht kommen: Die auf sumpfigem Grund erbaute Ackerbürgerstadt ist nicht an das Breitbandnetz angeschlossen oder wie das heißt. Bedeutet: Nix DSL und WLAN – dabei dachte man immer, dass wenigstens die Infrastruktur im Osten auf dem neuesten Stand ist.

Ohne DSL allerdings ist es schwierig, im „schwulen Einwohnermeldeamt“ Gayromeo die nötige Präsenz zu zeigen – wer nicht permanent oder wenigstens dauerhaft bei diesem größten schwulen Internet-Portal Deutschlands online ist, existiert eigentlich gar nicht. Insbesondere in der flachen Provinz, in der homosexuelle Identitäten gerne auch mal autoerotisch im Badezimmer ausgelebt werden, während die Ehefrau nebenan in der Küche das Abendessen für die Familie zubereitet, bedeutet dies eine zusätzliche Erschwernis: selten online und dann auch noch ohne Gesicht. Die Profile (digitale Karteikarten) der Landbewohner sind überdurchschnittlich häufig ohne Fotos, die Jungs verschwinden einfach in der Anonymität des märkischen Sandes, von Kyritz an der Knatter betrachtet kann das nahe Berlin verdammt weit weg sein. Ohne Alice bleibt die Klemmschwester im Schrank. Unsere Meldeamt-Karteien sind nicht anonym, im Gegenteil: Im Profil meines Freundes ist sogar ein „Partnerprofil“ mit meinem Konterfei eingewoben. Manche Chat-Bekanntschaft meines Freundes hat schon angemerkt, dass man mein Grinsen auch als drohend empfinden könne – völlig zu Recht übrigens. Ansonsten sind unsere Profile harmlos, wegen uns hätte Gayromeo nicht nach Amsterdam umziehen müssen. Aufgrund der Verschärfung des Jugendschutzes in Deutschland hätte das Portal die vielfältigen „x-rated“ urologischen und proktologischen Nahaufnahmen in Zukunft nur noch nach persönlicher Inaugenscheinnahme des Users freigeben können. Da man also hierzulande die Jugend so sehr vor sich selbst schützen möchte, dass sie kaum noch zu sich finden kann, haben die Gayromeo-Betreiber ihre Server in Umzugskisten gepackt. Vom liberalen holländischen Exil aus geht es nun weiter wie gehabt, dafür können Mütter und Väter in Deutschland wieder ruhiger schlafen: In dem Gefühl, wenigstens etwas getan zu haben gegen all den Schmutz & Schund.

Für die schwulen Landbewohner, insbesondere die jüngeren, ist das Internet hingegen kein Fundus des Grauens, sondern ein wahrer Segen: Glaubten früher die meisten Landei-Homos, dass sie die einzigen in der weiten Welt (also des Landkreises) seien, können sie sich heute ganz einfach vom Gegenteil überzeugen, und vor allem: miteinander in Kontakt kommen. Ganz egal, ob sie Informationen theoretischer oder praktischer Natur sammeln möchten. Früher wären sie auf die spärlichen Informationen von Dr. Sommer angewiesen gewesen – oder auf eine heimliche Radtour zur nächs- ten Autobahnraststätte. Finster. Sogar von jenseits der Oder melden sich junge Polen in gebrochenem Deutsch oder Englisch, die im Lande der Kaczyńskis keine Luft zum Atmen finden. Im Vergleich ist das nahe Brandenburg total Holland, digital zumindest: „Bitte einladen!“ fleht ein junger Mann aus Kostryn. Ein anderer Jungmann aus der Ostprignitz fühlt sich „noch unentschieden“ und möchte bloß chatten, ein 19-Jähriger aus der Lausitz sucht den Partner fürs Leben. Wer sagt denn auch, dass man diesen nur in der Oper kennenlernen kann?

Das Internet ermöglicht so viele Freiheiten, am Ende werden sich sowohl chinesische Parteikader als auch engagierte Jugendschützer die Zähne an seinen Möglichkeiten ausbeißen. Schlimmer als die Verbissenheit mancher Porno-Jäger ist nur noch die verklemmte Sprachlosigkeit im Umgang mit den inkriminierten Inhalten – aufklärende, offene Gespräche über das tatsächliche Verhältnis zwischen „Hengst“ und „Dreilochstute“ sind immer noch der beste Jugendschutz.

Und Alice kann uns mal gerne haben. Wir bekommen demnächst DSL über Satellit. Da spielt der kleine Umweg über die Niederlande gar keine Rolle mehr.

Kolumne 14

10.10.2006

Martin Reichert über LANDMÄNNER

Tag des offenen Denkmals

Bei uns in der Ackerbürgerstadt blühen die Landschaften derart, dass den Nazis noch Hören und Sehen vergehen wird

Die Einschläge kommen näher: Gleich um die Ecke, mitten in der Altstadt unserer kleinen brandenburgischen Ackerbürgerstadt treffen sich neuerdings Jugendliche mit verdächtigen Haarschnitten, die zum einen rülpsend-feist an Straßenlaternen urinieren und zum anderen rechtsradikalen Rock hören – unsere insgeheime, selbstberuhigende Ausrede, dass die Nazis ganz woanders hausen, vornehmlich in den ehemals industrialisierten Bereichen Brandenburgs, scheint sich so nicht mehr haltbar zu sein: Und plötzlich sind sie überall, man muss sie nur wahrnehmen wollen.

Beim Schnitzelessen in der lokalen „Speisegaststätte“, geführt von zwei reizenden Schwestern, die uns immer persönlich und herzlich begrüßen, hängt ein NPD-Funktionär in gestyltem Landarbeiter-Outfit herum und politisiert. Gegenüber unserem Haus ist ein gewichtiger Glatzkopf eingezogen, aus dessen 1.000-Watt-Autoradioboxen gerne mal Störkraft-Klassiker dröhnen. Er grüßt nie. Wir auch nicht. Stattdessen höre ich stets mit heruntergekurbelten Fenstern Scissor Sisters (wahlweise auch Abba). Eine Form subversiven Widerstands, der sich auch bei Spazierfahrten ins Umland anböte. Auch wenn in diesem Dorf die Nazi-Gaststätte „Walhalla“ längst Pleite gemacht hat, so weht in jenem doch die Deutschland-Flagge über dem Einfamilienhaus ortsbekannter Nazis – womöglich als Antwort auf die US-Beflaggung der benachbarten Country-Ranch, zu der seit neuestem ganz in Weiß gekleidete Cowboys pilgern. Und zwar auf dem Fahrrad – eine „Überfremdung“ der etwas schrägeren Art, denn „Ausländer“ gibt es ja in dieser Gegend kaum, vielleicht abgesehen von den wenigen „Fidschis“, bei denen man gerne mal billig Klamotten kaufen geht.

Beim nächsten Dorf handelt es sich um eine ehemalige Manifestation der Nazi-Siedlungsbewegung, von der zum einen die sich noch im Originalzustand befindenden, holzverkleideten Flachbauten zeugen, zum anderen die noch immer deutlich über dem Durchschnitt liegende Schäferhund-Dichte. Gleich nebenan: eine vergessene Außenstelle des Konzentrationslagers Sachsenhausen, in der Häftlinge bis zur tödlichen Erschöpfung Torf stechen mussten.

Ob die Scissor Sisters mit ihrem New Yorker Queer-Sound gegen all das ankommen? Subversiver, ja, aber auch ziemlich sprachloser Widerstand. Mein Freund will den urinierenden Gröl-Jugendlichen demnächst das LKA auf den Hals hetzen. Er ist einfach nur sauer – auch weil man in seiner Heimat weiß gekleidete Cowboys ebenso hinnimmt wie Springerstiefel tragende Neonazis. Als handele es sich um eine Art karnevaleskes Naturereignis. Was kann man dem eigentlich entgegensetzen außer Lichterketten? Weitermachen. Aushalten.

Neulich zum Beispiel sind wir wieder einmal besichtigt worden, weil „Tag des offenen Denkmals“ war. Insgesamt drei lokal bestückte Gruppen drängten sich durch unser denkmalgeschütztes Eigenheim-Ensemble (von manchem auch als Bruchbuden-Haufen bezeichnet), es handelt sich um die ältesten Häuser der Ackerbürgerstadt. Ein Stück satter teutonischer Fachwerkidylle, bewohnt und in Stand gehalten ausgerechnet von einem Homo-Paar. Besichtigt wurde daher auch ein Stück Lifestyle, inklusive der utopischen Idee, aus dem ganzen Areal ein generationenübergreifendes Wohnprojekt zu machen. Eine Siedlungsbewegung, die in dieser Form ganz sicherlich nicht im Sinne des braunen Erfinders ist, aber wer zuletzt lacht, lacht eben am besten. Dem Großteil der Besucher hat es sehr gut bei uns gefallen: Entdecke die Möglichkeiten! Wohlwollen schlug uns entgegen, und dies nicht nur für die Auswahl der Lampen, auch die schulterklopfende Aufforderung, weiterzumachen.

Wir werden ja sehen, welche Konzepte, welcher Lebensstil, welche Ideen sich am Ende in unserer Ackerbürgerstadt durchsetzen werden. Bloß nicht Bange machen lassen. Die von uns geschaffenen Landschaften blühen jedenfalls schon jetzt ganz ordentlich. Und außerdem sehen wir einfach besser aus.

Kolumne 13

31.8.2006

MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER

Der Stadtschreiber sieht alles

Nun ist es aber vorbei mit der schönen neuen Welt: Die Kameras am Marktplatz müssen weg

Es ist ein Skandal: Wir sind monatelang gefilmt worden. Und haben es nicht mal gemerkt, sonst hätten wir wenigstens mal in die Kamera winken können. In unserer kleinen brandenburgischen Ackerbürgerstadt wurde seit Ende letzten Jahres der „historische Marktplatz“ überwacht – mit großer Selbstverständlichkeit und gleich mit drei Kameras, obwohl dort nun wirklich nichts los ist.

Vielleicht gerade deshalb hatte der Bürgermeister (SPD) Angst um seinen neu gestalteten Marktplatz, den kaum jemand betritt: „Das war sehr teuer.“ Es ist eben nicht billig, die Geschichte umzuschreiben, dort, wo bis vor kurzem noch das sowjetische Ehrenmal stand, ein unförmiger Steinklotz, dessen Errichtung am Standort des vormaligen Weltkriegsdenkmals der Legende nach mit vorgehaltener Kalaschnikow erzwungen wurde, steht nun ein neuer, dieses mal sogar wasserspeiender Klotz aus Granit. Und vor der massivem Widerstand der PDS geschuldeten Bronze-Plakette, die des verschwundenen Sowjetmahnmals mahnt, stehen stets rote Nelken. Doch auch die können über die entschiedene, wenn auch lediglich optische Bundesrepublikanisierung des Marktplatzes nicht hinwegtäuschen, es fehlt nur noch eine Wall-Toilette. Wie dem auch sei: Die Stadtverordneten hatten der Überwachung zugestimmt, bis ihnen die Brandenburger Datenschutzbeauftragte Dagmar Hartge einen Strich durch die Rechnung machte: Die Kameras müssen weg, obwohl der Bürgermeister sich keiner Schuld bewusst war: „Die Bilder werden doch lediglich 30 Tage gespeichert und dann automatisch überschrieben, ohne dass sie jemand anschaut.“ Ja, dann!

Wir haben dieses Problem neulich mal in der lokalen Start-Up-Szene angesprochen, es handelte sich unter anderem um die Betreiberin eines Tex-Mex-Restaurants – die keinen leichten Stand hat, weil sich die Bevölkerung noch nicht an das neumodische Essen gewöhnt hat – und die Inhaberin eines florierenden Nagelstudios. Sicherheitspolitische Bedenken hatte man dort eher in Bezug auf Berliner Türken, die illegal im Tiergarten grillen, auch der durch die geplanten Bombenattentate in Regionalzügen näher gerückten Terror-Bedrohung wurde keine größere Bedeutung zugemessen, schließlich liegt der Bahnhof etwas außerhalb der Stadt und man fährt sowieso Auto – die in den liebevoll „Brotbüchsen“ genannten Regionalexpressen installierten Überwachungssysteme waren bislang niemandem aufgefallen. Die Kameras am Marktplatz scheinen den Ackerbürgern irgendwie am Arsch vorbeizugehen, demnach hätte der jetzige Bürgermeister Recht: Niemand schaut sich Bänder an, auf denen nichts zu sehen ist. Die Zeit, in der man den „aufrechten Gang“ geübt hatte, ist schon lange her, stattdessen liegt man horizontal auf der Couch.

Mein Freund und ich haben beschlossen, dass es so nicht weitergehen kann. Er will nun Bürgermeister werden und ich mache ihm den Jörn. Als First Gentleman kümmere ich mich dann um die Landfrauen und halte Reden zur Eröffnung von Seidenmalerei-Ausstellungen im Rathaus, außerdem fahre ich den Dienst-Mercedes, denn der zukünftige Bürgermeister hat gar keinen Führerschein.

Der Plan geht so: Wir verkaufen die Video-Überwachungsbänder vom Marktplatz an die ARD, die sie dann nachts unter dem Titel „30 Tage in einer brandenburgischen Ackerbürgerstadt“ sendet – mit „Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands“ weiterzumachen wäre in Anbetracht der Sicherheitslage ohnehin zynisch. Mit den so erwirtschafteten vielen, vielen GEZ-Millionen sanieren wir den total verfallenen und daher auch schon lange geschlossenen Jugendklub am „historischen Markplatz“, dann kommen die Jugendlichen auch nicht mehr auf die Idee, vor lauter Langeweile Graffiti auf Betonklötze zu schmieren. Von dem übrig gebliebenen Geld stellen wir einen BAT-besoldeten Stadtschreiber ein, der den Ackerbürgern mal ein bisschen auf die Finger guckt. Statt Kameras. So richtig über den Weg traue ich denen nämlich nicht.